(Gegenwind 174, März 2003)

 

"Für ein Leben ohne diese Gewalt"

Am 5. Februar gedachten TIO, der Frauennotruf, der Alevitische Kulturverein und andere auf dem Kieler Rathausplatz der ermordeten Selda Atay, die am 23. Dezember in Kiel von ihrem Mann getötet worden war. Im Rahmen der Gedenkfeier wurde dem stellvertretenden Stadtpräsidenten ein Gedenkstein übergeben, für den der Kulturausschuss einen geeigneten Platz finden soll.

Wir dokumentieren eine der Traueransprachen und ein Interview zu dem Thema Männergewalt gegen Frauen.

Selda war 26!

Sie hatte sich nach 10 Jahren für ein Leben ohne diese Gewalt entschieden.

Er löschte dieses Leben aus.

Selda Atay wurde am 23. Dezember in Kiel Wellsee von ihrem Mann auf offener Straße mit über 20 Messerstichen brutal niedergestochen.

Am 27. Dezember wurde ihr Leichnam in ihre türkische Heimat überführt.

Keine passende Bezeichnung für diese Gewalttat, keine vernünftige Antwort auf die Frage "Warum?"

Nichts hilft uns zu verstehen!

Der Verlust hat ein großes Loch ganz tief in dir gerissen. Der Schock, die Wut, die Verzweiflung haben dich überwältigt. Es schien als könnten nie wieder unbeschwerte und fröhliche Tage kommen.

Der Schmerz, die Verzweiflung über den Verlust sind so unendlich groß, dass du vielleicht kaum weiterleben wolltest.

40 Tage danach... 40 Tage, ein Zeitraum, der Wende und Neubeginn ermöglichen sollte.

Heute, 40 Tage danach ist Selda dir vielleicht im Traum erschienen:

Du hast sie geküsst.

Vielleicht hast du mit ihr einen Karamel-Tee getrunken.

Und sie sagte zu dir: Weine nicht.

Heute 40 Tage danach, haben wir uns alle auf diesem Platz versammelt, um von dir Abschied zu nehmen Selda.

Lebe wohl, Selda.

Nelly Le Gall, TIO e.V.

Der Tod einer Frau

Die Künstlerin Maisae Alabdallah-Sörensen ist in Skilbieh, einer kleinen Stadt in Syrien geboren und hat dort einen Teil ihrer Kindheit verbracht. Mit neun Jahren zog sie mit ihren Geschwistern in die Hauptstadt Damaskus.

Maisae Alabdallah-Sörensen:

Ich war als Kind mit einer Freundin namens Aida zusammen, mit der ich tagtäglich gespielt habe. Im Alter von neun Jahren zog ich mit meinen Geschwistern nach Damaskus. Mit 14 Jahren kam ich wieder zurück in die kleine Stadt. Ich bat meine Freundin Ula, mit mir zusammen Aida zu besuchen. Ich wollte sie wiedersehen. Doch Ula sagte zu mir: "Sie ist tot."

Ich erfuhr von dem, was sich ereignet hatte. Sie hatte angeblich eine sexuelle Beziehung zu einem Mann. Ihre Mutter warnte sie, aber sie änderte nichts. Und da befahl Aidas Mutter ihrem Sohn, die eigene Schwester zu töten, um die Ehre der Familie zu retten.

Dem Mädchen wurde von der Familie aus sogar ein würdevolles Begräbnis verweigert. Im Müllwagen wurde sie zum Friedhof gefahren, und an den Haaren zum Grab geschleift. Nur der Pfarrer hielt, gegen den Willen der Familie, eine Grabrede. Sie war noch nicht einmal 14 Jahre alt geworden.

Ich führte ein Gespräch mit dem Pfarrer, der die Grabrede gehalten hatte, in der Hoffnung, dass er, als religiöse Kapazität die Einstellung der Leute ändern könne: "Im Neuen Testament steht: Wer von euch ohne jegliche Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Der Anlass war für Jesus die versuchte Steinigung einer Frau, Maria Magdalena, da sie in den Augen der Menschen eine Sünderin war. Und da die Menschen erkannten, dass niemand von ihnen ohne jeglichen Fehl war, gingen sie beschämt nach Hause. Maria Magdalena wurde von Jesus nach Hause geschickt, mit der Auflage, ihr Leben zu ändern. Wäre diese Geschichte nicht eine Möglichkeit für Sie, die Menschen hier davon abzubringen, weiterhin Mädchen und Frauen zu töten?"

Da sagte der Pfarrer ehrlich, und dafür respektiere ich ihn, obwohl er mich sehr enttäuscht hat: "Der Mensch ist egoistisch, Männer noch viel mehr als Frauen. Und ich bin ein Mann. Die Menschen respektieren mich. Wenn ich versuchen würde, sie von dieser Sitte abzubringen, würden sie mich verachten und ausstoßen. Es würde mir auch nicht mehr gelingen, mich in andere Konflikte einzumischen und so zu helfen. Ich kann nichts tun."

Fünf weitere Mädchen wurden getötet, weil sie einen nichtchristlichen Mann geheiratet hatten. Auch dies war ein Angriff auf die Ehre der Familie der Frau und musste mit ihrem Tod gesühnt werden.

Es gab allerdings auch einen Fall, wo ein christlicher Mann eine Muslimin heiratete. Dieser Mann wurde von seiner Familie gefeiert, so wie es sich für einen frischverheirateten Mann gehört.

(Syrien ist reich an Religionen, die alle friedlich koexistieren. Durch Gesetzgebung ist es den Muslimen nicht erlaubt, zu konvertieren. Wenn also ein Christ in eine Muslimin heiraten möchte, muss er zum islamischen Glauben übertreten. Nur so kann die Ehe rechtsgültig abgeschlossen werden. Wenn allerdings eine christliche Frau einen Moslem heiratet, ist es ihr freigestellt, zu konvertieren, oder ihren ursprünglichen Glauben beizubehalten.)

Als ich letztes Jahr in Syrien war, habe ich festgestellt, dass sich auch die Haltung in meiner Stadt erheblich liberalisiert hat. Die Mädchen und Frauen werden nicht mehr getötet. Man will zwar mit ihnen nichts zu tun haben, sie werden von der Gemeinschaft ausgeschlossen, aber sie dürfen weiterleben.

Ich habe auch im Fernsehen die Nachricht gehört, dass in Syrien der Präsident, Baschar Assad, das Kultusministerium, die Frauen-Union und die Universitäten dazu aufgefordert hat, in Zusammenarbeit ein Konzept zu entwickeln, um den Frauen in der syrischen Gesellschaft einen gleichberechtigteren Platz zu ermöglichen.

Meinen Sie also, dass sich die Einstellung des arabischen Mannes ändern muss?

Maisae Alabdallah-Sörensen:

Ich will niemals behaupten, dass der arabische Mann allein die Schuld an diesen Morden trägt. Er wird von Kindheit an dazu erzogen, ein liebevoller, verantwortungsbewusster Vater, Ehemann, Bruder und Cousin zu werden, der die Ehre der Familie, getragen durch seine weiblichen Angehörigen, zu wahren hat. Diese Verantwortung richtig zu übernehmen ist immer eine Frage der familieneigenen und gesellschaftlichen Interpretation. Es ist einfach zu viel verlangt für einen Einzelnen.

In einem Fall, der mir bekannt ist, hat sich ein Mann selbst das Leben genommen, weil er es nicht vor sich selbst verantworten konnte, seine Schwester zu töten, so wie es von ihm gefordert wurde.

Tatsache ist leider auch, dass Frauen ihren Beitrag zu diesen Tragödien leisten. Sie sind es letztendlich, die ihre Kinder erziehen, und aus ihnen solche Menschen machen.

Oft genug sind sie sogar die Hetzerinnen, die darauf bestehen, dass ihre sogenannte Ehre durch einen Sühnemord am eigenen Kind wiederhergestellt wird.

Glauben Sie, dass dies ein typisch syrisches Problem ist?

Maisae Alabdallah-Sörensen:

Vergessen wir nicht, dass Selda, die hier in Kiel ermordete Frau, türkischer Nationalität war. Morde an Frauen passieren weltweit. Nur die Motive sind in jedem Land anders. Da kommen dann eben auch noch Besitz und Eifersucht zur Geltung.

Tatsache ist, dass immer Frauen die Leidtragenden sind.

Es ist wichtig, dass sich die Einstellung der Frauen ändert. In Deutschland, zum Beispiel, hat es die Frauenrechtsbewegung geschafft, dieses Treiben einigermaßen zu unterbinden. Es wurden Frauenhäuser eingerichtet, in denen drangsalierte Frauen Zuflucht finden und ihr Leben neu gestalten können.

Wir müssen lernen, dass wir genauso viel wert sind wie Männer. Wir müssen lernen, für unsere Rechte einzutreten. Nur dann werden Frauen ihre Kinder auch als Menschen erziehen können. Dann erst wird dieses unsinnige Morden aufhören.

Interview: Karin Spindler

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