(Gegenwind 173, Februar 2003)
Da kennen sich ein Programmierer, eine Informatikerin, ein Arbeiter, zwei Hauptschülerinnen, zwei Grundschullehrerinnen, zwei Hausfrauen und eine Frührentnerin. Die Rentnerin lehrt sie seit einiger Zeit ehrenamtlich Deutsch, denn sie kommen aus dem Iran, dem Irak, Syrien, Kamerun und Frankreich. Bis auf die Rentnerin leben sie gleich vielen anderen in ihrem Stadtteil als Geduldete, mit Aufenthaltsbefugnis oder als ausländische Ehefrau, alle sind ohne Arbeit.
Sie hören von LOS, "Lokales Kapital für soziale Zwecke", einer europäische Initiative in Zusammenarbeit mit bundesdeutschen Ländern und Kommunen. Geld kommt aus dem Topf des Europäischen Sozialfonds. Den Antrag, dass Ausländer ein Buch über ihre Herkunftsländer schreiben wollen, stellt der Ausländerbeirat. Und - er wird bewilligt.
Der Anfang ist zeitraubend und zäh. Wie viele Ausländer leben hier? Woher kommen sie? Wie leben sie? Welche Geschichten können sie erzählen?
Statistiken unterliegen dem Datenschutz. Nur soviel erfahren sie: In dieser Stadt leben Menschen aus 94 Ländern. - Einer kennt einen anderen. Das Vorhaben spricht sich herum. Materialien werden gekauft. Da sitzen die Iraner neben den Irakern, die Russen neben den Tschetschenen, die Armenier neben den Aserbaidschanern, die Kurden neben den Türken, die Serben, Kroaten, Bosnier und Kosovaren in friedlicher Eintracht, wie es allen Völkern eigen ist. Sprachgruppen werden eingeteilt, Wörterbücher ausgeteilt, das Projekt erläutert. Die Russin kann ein bisschen Deutsch, sie erzählt es auf Russisch, die Armenierin kann auch Türkisch, das wiederum verstehen eine Kurdin und eine Albanerin. Sie erzählen es weiter in Arabisch und Serbokroatisch. Wer noch nicht verstanden hat, kann sich mit Englisch oder Französisch weiter helfen. So verstehen es auch die aus Persien, dem Kongo oder Kamerun. Sie lernen sich kennen. Manche leben seit einigen Jahren in einem Haus und wissen jetzt, wie die andere heißt. Seither treffen sie sich, sind Freunde geworden. Sie sind Flüchtlinge, die Deutsch lernen wollen. Sie haben kein Geld für die Kurse der Volkshochschule. Etwa zwei Drittel von ihnen nehmen die Materialien und kommen nicht wieder. Das ist bitter, denn das bewilligte Geld ist knapp.
Ein Raum kann im Bürgerhaus, ein Computerkabinett in der AWO-Verwaltungsstelle als deren Eigenleistung kostenlos genutzt werden. Der Programmierer und die Informatikerin beginnen die mühsame Arbeit des Sammelns von Daten über 94 Länder, geben gleichzeitig in einem Kurs ihr Wissen an andere weiter.
Die Rentnerin kennt sie jetzt, ihre Lernbesessenheit, ihr mangelndes Selbstvertrauen, ihre Hilfsbereitschaft und Solidarität. Sie erkämpfen sich gemeinsam alle Tücken und Schönheiten der deutschen Sprache, die sie anders als im Sozialamt und in der Ausländerbehörde erfahren.
Wie befreiend das Lachen, als die Französin verzweifelt feststellt: "Der Akkusativ ist mein Feind!" Die Artikel und Präpositionen bringen sie manchmal zur Weißglut, die Zeitformen pauken sie bis zur Perfektion. Da ist es schon Erholung, den Zauberlehrling zu spielen, ergreifend, wie sie erleben, dass der deutsche Dichter Heine in seinem Gedicht Nachtgedanken ihre eigenen Sehnsüchte nach der Heimat und der Mutter beschreibt.
Aber das alles reicht nicht. Es muss die eigene Geschichte zu Papier, wenigstens von den Verbliebenen. Viele sind begeistert, aber nicht bereit, zu schreiben, auch wenn sie ihren Namen nicht geben müssen. Für die Rentnerin ist die Erkenntnis bedrückend: Nicht nur die Flüchtlinge, auch der Restaurantbesitzer, die Dönerverkäuferin, der Ingenieur, der Koch und viele teilweise seit Jahrzehnten hier lebende Ausländer haben Angst vor der deutschen Öffentlichkeit.
Das Buch wird nach zehn Monaten trotzdem fertig. Von jedem der 94 Länder, zugeordnet dem jeweiligen Kontinent, sind mindestens zwei Seiten mit Daten, Fakten, Lebensverhältnissen, wesentlicher Produktion, Kultur, Natur, Bildung und vielen farbigen Bildern gestaltet. Es umfasst schließlich 240 Seiten. Sie widmen es den aus ihrer Stadt seit 1996 deportierten Menschen sowie der seit Februar 2001 im Kirchenasyl befindlichen kurdischen Familie.
Das bewilligte Geld reicht für 208 Arbeitsstunden. Weitere 972 Stunden sind nötig, um das Manuskript fertig zu stellen. Der Druck ist nicht vorgesehen, eine Weiterführung des Projektes nicht möglich. Die ganze Arbeit ein Akt der Selbstbefriedigung?
Der Arbeiter ist inzwischen mit seiner Familie fortgezogen, weil die Stadt ihm keine Lebensmöglichkeit bietet. Der Programmierer arbeitet trotz schwerer Erkrankung weiter, lebt nur noch in Angst vor der Abschiebung. Eines Tages ist er fort. Er fehlt noch heute. Die Rentnerin druckt auf ihrem kleinen Drucker sieben Exemplare, lässt sie auf eigene Kosten binden. Sie sehen gut aus. Die daran gearbeitet haben, sind stolz auf ihr eigenes Exemplar. Welch schönes Material wäre das für die Schulen und Bibliotheken dieser Stadt!
Ein Mensch mit Einfluss treibt auf unerfindlichen Wegen 1600 Euro auf. Damit können 20 weitere Bücher gedruckt werden. Sie sollen öffentlich vor Weihnachten 2002 präsentiert und feierlich an die Schulen und Institutionen überreicht werden. Das Bürgerhaus ist überfüllt, weil auch die anderen Integrationsprojekte, die Nähgruppe, Sport-, Tanz- und Mädchengruppen, die Internationale Leseecke, ein Jugendmagazin, sich vorstellen. Wie viel Ehrenamt, Engagement, Talent und Selbstbewusstsein - Menschen dieses Stadtteils.
Kein Lehrer ist gekommen. Die wenigen verteilten Bücher werden in einem Schrank verstauben. Das war's.
Sie aber haben inzwischen drei Deutschkurse, eine Kinderbetreuung, einen halben Schrank, einen Kassettenrecorder, eine Tafel und Kreide. Eine gute Seele hat ihnen DDR-Grammatiken und Lehrbücher geschenkt. Sie schreiben Tests, Diktate und Aufsätze, machen lustige Fehler, wissen, dass sie Menschen sind, die lernen können, etwas wert sind. Sie haben sich Zeugnisse gebastelt und gehen nun ins vierte ungewisse Jahr.
Sonja Ryll
(Diese Geschichte spielt in Emden. Sie könnte überall spielen. Kontakt mit der Autorin über die Redaktion.)