(Gegenwind 171, Dezember 2002)

Polizei gegen kurdische Flüchtlingsfamilie

Angriff aufs Kirchenasyl

Seit April befindet sich eine siebenköpfige kurdische Familie in Friedrichstadt (Kreis Nordfriesland) im Kirchenasyl. Der Asylantrag war endgültig abgelehnt, allerdings waren - hauptsächlich von der Frau - die tatsächlichen Gründe der Flucht, Folter und Vergewaltigung durch die türkische Polizei, noch nicht berichtet worden. Zum ersten Mal griff in Schleswig-Holstein jetzt die Polizei gegen Flüchtlinge im Kirchenasyl ein: Die Frau wurde festgenommen, als sie am 2. November einen Fuß vor die Kirchentür setzte.

Samstag mittag griff die Polizei zu: Beamte von LKA und Kripo, die die Kirche wohl schon länger beobachtet hatten, verhafteten Frau Yardimci, als sie die Fenster des Gemeindehauses putzte und dafür einen Stuhl kurz auf den Bürgersteig setzte. Dazu kam gleich noch der sechsjährige Sohn der Familie, einer von fünf Söhnen, mit in Polizeihaft. Es kam, wie es kommen musste: Auf der Polizeiwache in Husum kollabierte die schwer traumatisierte Kurdin und musste mit dem Rettungswagen ins Kreiskrankenhaus gebracht werden, wo sie gleich auf die Intensivstation kam. Das sechsjährige Kind wurde der Kirchengemeinde zurückgegeben. Gegen Mehdiye Yardimci wurde Abschiebehaft verhängt, zwei Polizisten bewachten sie auf der Intensivstation. Inzwischen wurde sie in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt.

Flucht und Asylverfahren

Was ist damals passiert? Es ist zehn Jahre her, und Mehdiye Yardimci hat noch immer große Schwierigkeiten, davon zu erzählen. Nachts klopften die Polizisten bei ihr an die Tür, drangen dann gleich in die Wohnung ein. Sie stellte sich schützend vor die beiden kleinen Kinder, die Nachbarin kam dazu und flehte die Polizei an, die Mutter in Ruhe zu lassen. Die Polizisten suchten ihren Mann, sie verdächtigten ihn, die kurdische Befreiungsbewegung PKK zu unterstützen. Sie nahmen die Frau mit.

Was danach geschah, hat sie bis vor kurzem nicht einmal ihrem Mann, Sadik Yardimci, erzählt. Sie war damals schwanger. Sie wurde gefoltert und vergewaltigt, zwei Tage und zwei Nächte - so schlimm, dass sie ihr Kind verlor. Das geschah 1993 in Izmir, einer Stadt im Westen der Türkei.

Sie hatten als junges Paar in dem kleinen Dorf Demirli gewohnt, bis eines Tages im Jahre 1986 die Armee einrückte. Zwei Tage hatten alle Zeit, ihre Sachen zu packen und das Dorf zu verlassen, dann wurde es Haus für Haus niedergebrannt. Nie hatte es bei ihnen Kämpfe gegeben. Es handelte sich um eine "vorbeugende" Maßnahme der türkischen Armee. Ihr Dorf wurde, wie Tausende andere Dörfer in Kurdistan, zerstört, um der türkischen Luftwaffe ein freies Schussfeld zu schaffen und der PKK mögliche Versorgungsstationen zu nehmen. Die kurdische Minderheit, immerhin zwanzig Prozent der Bevölkerung der Türkei, ist leichter zu kontrollieren, wenn sie in den Slums der Städte wohnt.

Auch das Ehepaar Yardimci floh in die nächste Stadt, nach Viransehir in der Provinz Urfa. Doch auch dort fanden sie keine Ruhe, Festnahmen an Straßensperren und Hausdurchsuchungen waren die Regel. Der Mann, wie alle ehemaligen Dorfbewohner verdächtigt, die PKK zu unterstützen, ging alleine in die Westtürkei, nach Izmir, wo entfernte Verwandte wohnten. Sie blieb mit ihrem Baby erst mal zurück, kam dann 1992 nach, wo das zweite Kind zur Welt kam. Doch ihr Mann wurde auch in Izmir mehrfach festgenommen, nach seinen Kontakten gefragt - und immer wieder mit Stromstößen gefoltert, verprügelt, mit dem Tode bedroht.

1994 hielten sie es nicht mehr aus. In Izmir hatten sie als Kurden keine Chance, Arbeit zu erhalten. Außerdem gehören sie der Religionsgemeinschaft der Yeziden an, einer alten persischen Religion, die Behörden nennen sie "Teufelsanbeter". So entschlossen sie sich zur Flucht ins Ausland. Ihre Familie kratzte alles Geld zusammen, um dem jungen Ehepaar mit inzwischen drei Kindern das Leben zu retten. Fünf Flüge, dazu falsche Papiere, ohne die sie die Türkei nicht verlassen konnten, kosteten mehr als 10.000 Dollar. 1994 kamen sie in Hannover an, stellten einen Asylantrag.

Jetzt wurde ihnen das deutsche Asylrecht zum Verhängnis. Beide erzählten nicht, konnten nicht erzählen, was die Polizei mit ihnen gemacht hatte. Beide verließen sich darauf, dass den deutschen Behörden bekannt ist, wie die türkische Polizei mit kurdischen Gefangenen umgeht. Sie wussten, dass Deutschland ein enger Verbündeter der Türkei ist.

Mehdiye weiß jetzt, dass es ein Fehler war, nichts von der Vergewaltigung und der Folter zu erzählen. "Aber wie sollte ich das? Wenn die Behörden eine Dolmetscherin gehabt hätten, wer weiß, vielleicht hätte ich Vertrauen gehabt. Aber der Mann hinter dem Schreibtisch, der Dolmetscher neben mir, wie sollte ich da erzählen, was ich nicht mal meinem eigenen Mann erzählt habe?"

Seit 1994 lebten sie in Niedersachsen, erst in Hannover, dann in Nienburg. Inzwischen haben sie fünf Kinder, alles Söhne. Jetzt war das Asylverfahren endgültig zu Ende, sie waren abgelehnt. Die Ausländerbehörde drohte ihnen, entsprechend den Gesetzen, die Abschiebung an. Die Abschiebung in die Türkei, zurück zur türkischen Polizei, zur türkischen Armee.

So flohen sie, zwei Erwachsene und fünf Kinder, jetzt erneut. Sie flohen nach Schleswig-Holstein, nach Friedrichstadt, wo Mehdiyes Eltern wohnen. Die Eltern kamen schon 1989 nach Deutschland, stellten einen Asylantrag und erzählten, wie die Familie verfolgt wurde. Ihr Asylantrag wurde anerkannt. Seitdem leben sie hier an der Nordseeküste. Sieben Jahre hatten sie ihre Tochter und deren Familie nicht gesehen, erst einige Monate nach der Ankunft der jungen Familie in Hannover hatten sie sich wiedergefunden. Und jetzt, in ihrer Panik vor der drohenden Abschiebung, kam die Tochter zu den Eltern.

Die Eltern wandten sich im April 2002 an die Evangelische Kirche. Und diese handelte: Pastor Michael Jordan nahm Kontakt mit der Flüchtlingspastorin der Landeskirche, Fanny Dethloff, und Bischof Hans-Christian Knuth auf. Es wurde ein neuer Antrag gestellt, in dem Mehdiye Yardimci endlich erzählte, was ihr passiert war. Damit soll zumindest erreicht werden, dass die Abschiebedrohung gegen die Familie zurückgezogen wird. Doch der Antrag wurde abgelehnt - jetzt, so viele Jahre nach der Flucht, will das Bundesamt der Familie nicht glauben. Gegen diese Entscheidung klagen sie jetzt und werden dabei von der Kirchengemeinde und einem Anwalt unterstützt.

Reaktionen

Die Verhaftung von Mutter und Kind haben in Friedrichstadt und ganz Nordfriesland für Empörung gesorgt. Die Landesregierung hatte häufig betont, sie würde mit traumatisierten Flüchtlingen sensibel umgehen, und dieses Vorgehen entsprach keineswegs solchen Absichtsbekundungen. Andererseits handelte die Polizei rechtmäßig: Das Asylverfahren ist zu Ende, die Ausreise angeordnet, die Abschiebung angedroht - und zuständig ist die niedersächsische Ausländerbehörde in Nienburg, die die Fahndung bei der Polizei in Auftrag gegeben hatte.

Von der Schule des zwölfjährigen Sohnes Engin aus wurde eine Demonstration mit hundert TeilnehmerInnen organisiert: "Alle Kinder brauchen eine Mutter!"
"Kirchenasyl" ist keine rechtlich abgesicherte Institution, sondern der freiwillige Verzicht des Staates auf gewaltsames Vorgehen gegen Flüchtlinge, die in der Kirche Schutz gesucht haben. Diese Zurückhaltung wird eben nicht mehr unbedingt dann geübt, wenn die Personen auf dem Bürgersteig vor dem Gemeindehaus stehen und dort die Kirchenfenster putzen.

Doch auch wenn das Vorgehen der Polizei rechtmäßig war - bei vielen Mitgliedern der Kirchengemeinde und im Freundeskreis der Familie stieß es auf helle Empörung. Rechtmäßig oder nicht, das Vorgehen der Polizei war weder menschlich vertretbar noch verhältnismäßig. Und auch wenn die niedersächsische Ausländerbehörde federführend tätig war, richtete sich der Zorn doch gegen die eingesetzte Polizei aus Kiel und Husum.

Das führte wiederum beim Landrat von Nordfriesland und dem Innenminister in Kiel zu schwerer Verstimmung. Beschwerte sich der eine, er wäre von der Kirche nicht rechtzeitig informiert worden, wollte der andere Beschimpfungen der Polizisten nicht hinnehmen. Beide hatten - aus ihrer Sicht - Recht. Der Landrat Olaf Bastian beließ es aber nicht bei der Beschwerde, sondern ergriff umgehend die Initiative und lud alle Beteiligten, also Kirche, UnterstützerInnen der Familie, Polizei und Ausländerbehörde, zu einem "Runden Tisch" ein. Dort wurde am 5. November vereinbart, dass Mehdiye Yardimci fachärztlich untersucht wird, um durch Gutachten feststellen zu lassen, ob eine "Posttraumatische Belastungsstörung" als Folge von Verfolgung, Folter und Vergewaltigung vorliegt. Denn genau das hatte das Bundesamt bei Ablehnung des erneuten Asylantrages bezweifelt.

Aussichten

Während dieses Heft gedruckt wird, befinden sich der Vater mit fünf Kindern nach wie vor in der Kirche, die Mutter im Krankenhaus. Der Haftbefehl besteht fort, das Gutachten ist in Arbeit. Keiner von der Beteiligten wagt eine Prognose, wie der nächste Schritt der Ausländerbehörde Nienburg aussehen wird. Denn in Niedersachsen schieben Ausländerbehörden auch schon mal den einen Ehepartner alleine ab, während es in Schleswig-Holstein Praxis ist, Ehe und Familie auch dadurch zu respektieren, dass sie zusammen bleiben dürfen.

Die Landesregierung scheint sich ein wenig stärker als bisher an der Trennung zu orientieren, die das neue Zuwanderungsgesetz des Bundes vorgibt: Die Linie gegenüber abgelehnten Flüchtlingen, die ausreisen sollen oder abgeschoben werden, wird härter, auch bei Kirchenasyl, während Einwanderer, die sich rechtmäßig und erwünscht hier aufhalten, durch das neue Integrationskonzept mehr Unterstützung als bisher erhalten.

Reinhard Pohl

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