(Gegenwind 169, Oktober 2002)
Am 24. August fand die (vorläufig) letzte öffentliche Aktion der Wagengemeinschaft Gerania am Timmerberg (Kiel) statt. Etwa 50 FreundInnen nahmen an dem symbolischen Trauerumzug teil, der kurz nach 11 Uhr von der Nikolaikirche aus durch die Holstenstraße zum Rathausplatz zog. Blasinstrumente, Trommel und Gesang begleiteten den Zug, bei dem eine sargförmige Gelatinemasse mitgetragen wurde. Vor dem Rathaus wurde die letzte Rede gehalten, der Gelatinesarg zu seiner letzten Ruhestätte auf den Rathaustreppen gebettet und Kränze abgelegt. Mit einem vorgetragenen Gesangsstück wurde die Aktion festlich beendet.
wir sind heute hier zu einem traurigen und beschämenden Anlass zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von der Wagengemeinschaft Gerania am Timmerberg. Als direkt Betroffene, als Menschen, die am Timmerberg im Bauwagen lebten, verlieren wir unseren langjährigen Wohn- und Lebensraum. Der Abschied fällt schwer und macht neben der Trauer auch wütend.
Um das ganze selber besser greifen zu können, wollen wir einen kleinen Rückblick auf die Geschichte des Wagenplatzes werfen:
Seit beinahe zwei Jahrzehnten wohnen am Timmerberg Menschen selbstgewählt in Zirkus- und Bauwagen, mit guter Anbindung an die Nachbarschaft. Wohnten anfangs wenige Menschen auf der Wiese, die der Stadt Kiel gehört, wuchs die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner von Bauwagen stetig an. In diesem Zuge entfaltete sich ihre Gemeinschaft mit verschiedenen Berührungs- und Reibungspunkten der dort Lebenden. Die Wagengemeinschaft Gerania begann zu blühen.
Von 1997 bis Ende 2001 bestand ein Nutzungsvertrag zwischen der Stadt Kiel und der Wagengemeinschaft Gerania. Dabei flossen über 20.000 Euro in die Stadtkasse, für die Nutzung der Wiese, die wegen früherer Schlackeablagerungen im Untergrund kontaminiert ist. Nachdem der aktuelle Bebauungsplan vorsieht, auf der langjährig genutzten Fläche einen Sportplatz zu bauen, wollte die Wagengemeinschaft Gerania dem geplanten Sportplatz nicht im Wege stehen und begab sich in Verhandlungen mit Vertreterinnen und Vertretern der Stadt Kiel um ein brauchbares Alternativgrundstück. Ein Teilstück des zum Jahreswechsel freigewordenen, ehemals von der KIBA genutzten Grundstück am Timmerberg bot sich geradezu ideal für die Wagengemeinschaft an.
Die Vertragsverhandlungen gestalteten sich jedoch weit nerviger, zäher und letztlich zermürbender als von der Wagengemeinschaft Gerania erwartet: Kein Angebot von seitens der Wagenbewohnerinnen und -bewohnern war der Stadtverwaltung gut genug: Noch immer liegt der Stadt Kiel ein Konzept vor, erstellt von den Vereinen EygenArt, NaturErleben und der Wagengemeinschaft Gerania. Darin wird für das ehemalige KIBA-Gelände eine Nutzung vorgeschlagen, die über eine reine Wohnnutzung hinausgeht, nämlich einen Naturerlebnisraum vorsieht. Obwohl dies die Stadt keinen Cent kosten würde und für den Stadtteil ein Gewinn wäre, kam seitens der Stadtverwaltung nur eine kategorische Ablehnung.
Aus diesen Erfahrungen heraus sah sich die Wagengemeinschaft gezwungen, selber zu handeln: Im März diesen Jahres bezog sie ein Teilstück des ehemaligen KIBA-Geländes. Nach einer anstrengenden Phase des Umzugs, dem Neuanlegen von Wegen und Schuppen und der Gestaltung des Grundstücks wurde es Mai und alles hätte gut sein können. Wäre es nicht einigen Vertreterinnen und Vertretern der Stadtverwaltung eine Herzensangelegenheit gewesen, die Leute von der Wagengemeinschaft wegen der Besetzung des nun genutzten Grundstücks mit einer gerichtlichen Räumungsklage zu konfrontieren. Wie zu erwarten war, entschied das Gericht zugunsten der Stadt Kiel und so lief gestern die Räumungsfrist ab.
Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, um sich und die Bau- und Zirkuswagen vor Schäden zu bewahren, tragen wir heute die Wagengemeinschaft Gerania zu Grabe. Die Wagengemeinschaft Gerania wird das von ihr zuletzt bewohnte Gelände verlassen und so der Verwilderung freigeben.
Dies ist die traurige Geschichte des Wagenplatzes Gerania am Timmerberg, Beschämend für die Stadt Kiel ist, wie sie mit einem Teil ihrer Bürgerinnen und Bürgern umgeht, denn der Tod der Wagengemeinschaft ergibt nur aus der Sicht der Verwaltung einen Sinn, ansonsten ist er ganz und gar unnötig.
Dies ist es auch, was wütend macht: Eine engstirnige, starre, phantasielose und bornierte, aber dafür umso zähere und sture Haltung von Vertreterinnen und Vertretern der Stadtverwaltung sind verantwortlich für das Ende der Wagengemeinschaft Gerania am Timmerberg.
Mit der unnötigen und fahrlässigen Zerstörung der Wagengemeinschaft Gerania geht jedoch mehr verloren, als der Wohnraum von uns Wagenbewohnerinnen und -bewohnern. Es verschwindet ein Stück städtische Vielfalt, Toleranz und Akzeptanz. Unsere Wohnform ermöglicht Kontakt mit Natur und bietet Raum für Kultur. Als die Wagengemeinschaft Gerania in Ruhe Leben konnte, gehörten Feste mit der Nachbarschaft und öffentliche Open-Air-Kinoabende zu ihrem Jahresprogramm. Die Wagengemeinschaft Gerania steht symbolisch für Wohnkultur, die zerstört wird, mit ihrem verschwinden wird die Stadtteilkultur ein Stück ärmer und mit ihr verschwindet ein Stück Toleranz für selbstgewähltes und gestaltetes Wohnumfeld.
Wir wissen aber auch, die Wagengemeinschaft Gerania am Timmerberg ist kein Einzelfall. Hier in dieser Stadt und diesem Land gibt es noch andere, deren Vorstellung von Wohnen und Leben jenseits des kapitalistischen Konsens von der Verwertbarkeit und Vermarktbarkeit des Wohnens liegen und denen deshalb der Raum ständig streitig gemacht und beschnitten wird.
Liebe Trauergemeinde, Angehörige, Freundinnen und Freunde, wir freuen uns über unser zahlreiches Erscheinen. Das gibt uns den Mut, auch in dieser schweren Stunde am Handeln zu bleiben. Wir wissen, wir kommen wieder. Auch wenn wir jetzt erst mal vom Timmerberg verschwinden, ist unsere Idee noch lange nicht verschwunden. Wir werden uns den Platz nehmen, der uns gehört! Wir sind ein Teil der Welt, auch uns gehört die Welt!
Weiterhin werden wir streiten für das Grundrecht des Wohnens, jenseits der Logik des Marktes und des Kapitals. Wir stehen für das Recht des Lebens im Grünen auch ohne dicke Brieftasche.
Weiterhin setzen wir uns ein für eine freie und selbstbestimmte Wahl der Wohnart und des Wohnorts. Wir wehren uns gegen die Kriminalisierung und Ausgrenzung von Leuten, die die Gestaltung ihres Lebensumfeldes selbstständig in die Hand nehmen.
Weiterhin kämpfen wir gegen eine Kriminalisierung des Lebens in Bau- und Zirkuswagen. Durch diese Wohnform wird niemandem etwas weggenommen. Die Wagengemeinschaft Gerania war und ist an gemeinsam getragenen Lösungen interessiert - wir haben es satt, uns immer wieder neu gegen unsere Illegalisierung zu wehren. Teile der Stadtverwaltung tragen durch ihre restriktive Handlungen gegenüber der Wagengemeinschaft Gerania Verantwortung für die jetzige Situation. Eine Räumung nutzt niemanden, Wagenplätze sind nicht wegzukriegen. Wir sind da - auch nach der Räumung. Wir lassen uns nicht verbiegen und unseren Raum nicht nehmen.
Bevor wir aber zurückkommen, lasst uns noch mal innehalten und in Ruhe die Wagengemeinschaft verabschieden. Als Symbol für das Dahinscheiden dar Wagengemeinschaft Gerania wollen wir das Grab und Kränze ablegen.
(eingesandt von Friedemann Geiger)
(Zur Bauwagen-Siedlung in Kiel: Kann denn Wohnen Sünde sein? - Gegenwind 108, S. 20. Gegenwind 108 hier bestellen!