(Gegenwind 167, August 2002)
Um ein weitgehend unbekanntes Kapitel der Nachkriegszeit in Deutschland geht es in dem Buch von Jim Tobias und Peter Zinke. Juden in Deutschland sind im Bewusstsein der meisten Menschen Opfer, Opfer eines beispiellosen Massenmordes an Millionen von Menschen. Inzwischen gibt es aber eine langsam größer werdende Zahl an Büchern, die dieses Bild ergänzt und relativiert. Genauso wie es jüdischen Widerstand, jüdische Partisanengruppen gab, so gab es auch vielfache Bemühungen nach der Kapitulation Deutschlands, der Täter habhaft zu werden und sie zu bestr afen. Der Prozess gegen Eichmann Anfang der sechziger Jahre in Israel ist ein Beispiel, das Dokumentationszentrum in Wien ein anderes.
Aber direkt nach dem Krieg gab es unter dem Namen Nakam eine Organisation, die sich aus überlebenden Juden zumeist aus Polen zusammensetze, die sich der direkten Rache verschrieben hatte. Die Geschichte dieser Gruppe, von denen noch Mitglieder in Israel leben, zeichnet dieses Buch nach.
Die Gruppe Nakam bildete sich 1944 im gerade von der Roten Armee befreiten polnischen Lublin. Hier sammelten sich Überlebende des Holocaust, hier wurde unter den Führungspersönlichkeiten über zwei Optionen diskutiert: Die Führung der Zionisten wollte möglichst viele Juden dazu bewegen, nach Palästina auszuwandern. Hier gab es schwere Auseinandersetzungen mit der britischen Kolonialverwaltung, die einerseits die Einwanderung von Juden seit Jahren streng quotierte, um die einheimische palästinensische Bevölkerung nicht zu verärgern, andererseits war es inzwischen gelungen, die bewaffneten "Jüdischen Brigaden" als Bestandteil der britischen Armee mit einer Stationierung in Italien zu bilden. Andere Überlebende wollten bleiben und jetzt gegen die Deutschen kämpfen - und sich rächen. Diese Strömung formierte sich unter der Führung von Abbe Kovner zur Gruppe Nakam. Mitglieder wurden auch in Bukarest geworben, wo sich Juden aus ganz Europa sammelten, um auf die Gelegenheit zur Ausreise nach Palästina zu warten. Dadurch geriet Nakam in eine Art Konkurrenzkamp zur Jüdischen Brigade und anderen jüdischen Organisationen, die für die jüdische Besiedlung Palästinas warben.
"Sechs Millionen für sechs Millionen" wurde die Parole für Nakam. Es wurden kleine Kommandos gebildet, die illegal ins inzwischen von den Alliierten besetzte Deutschland gingen. Der jüdischen Brigade wurde das verwehrt - einerseits, weil die Briten gerade Racheakte befürchteten und zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich auch Gedankenspiele existierten, bei einer herausziehenden Auseinandersetzung mit der Sowjetunion mit noch nicht demobilisierten Teilen der deutschen Wehrmacht zusammenzuarbeiten. Andererseits war das Verhältnis der britischen Armee zu ihren jüdischen Verbündeten nicht das beste, wusste man doch einerseits von der Unterstützung der illegalen Einwanderung nach Palästina, andererseits häuften sich jüdische Terroranschläge gegen Einrichtung der britischen Kolonialverwaltung.
Nakam plante zunächst, möglichst viele Deutsche durch die Vergiftung von Trinkwasser zu töten. In Palästina wurde das Vorhaben von Chaim Weizmann, einem der Architekten des Staates Israel, durch die Vermittlung einer Giftlieferung an Nakam unterstützt, von Ben Gurion allerdings kritisiert. Ben Gurion hatte im Herbst 1945 eine Rundreise durch Deutschland unternommen und wusste, dass in fast allen Städten auch aus Konzentrationslagern befreite Juden lebten, die ebenso wie Besatzungssoldaten ebenfalls Opfer vergifteten Trinkwassers werden würden. Die Aktion wurde schließlich, vermutlich von der Organisation Hagana (aus der später die israelische Armee entstand), an die Briten verraten, die den Gifttransport in Frankreich stoppten und Kovner verhafteten, er sass dann eine längere Gefängnisstrafe in Ägypten ab. Dennoch gab es gelungene Racheakte, so vergifteten Nakam-Aktivisten eine größere Brot-Lieferung, die an ein Gefangenenlager mit SS-Angehörigen in Nürnberg ging. Allerdings war die Giftmenge zu gering, um Menschen zu töten, aber Hunderte von SS-Angehörigen kamen ins Krankenhaus. Außerdem wurden mit Hilfe der in Norditalien stationierten jüdischen Brigade Dutzende von untergetauchten Nazis, zum Teil über Österreich und den Vatikan-Staat unterwegs ins südamerikanische Exil, aufgespürt und umgebracht. Die genaue Zahl steht nicht fest, die wird wohl auch niemand mehr herausfinden können.
Interessant übrigens das Verhalten der deutschen Justiz: Teile der Recherche wurden vor Fertigstellung des Buches von den Autoren in Zeitungsartikeln oder Interviews veröffentlicht: 1995 in konkret, 1996 in Spiegel-TV, später in den Nürnberger Nachrichten und der Süddeutschen Zeitung. Und die bayerische Justiz, die sich bei der Verfolgung von Nazis in den 50 Jahren nach dem Krieg nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, leitete gegen alle jetzt bekannt gewordenen Nakam-Mitglieder sofort Verfahren wegen Mordes bzw. versuchten Mordes ein. Erst am 8. Mai 2000 wurde das Verfahren gegen Nakam-Mitglieder in Nürnberg nach internationalen Protesten wieder eingestellt, wegen Verjährung. Es handelte sich dabei um eine politische Entscheidung, da nach deutschem Recht (versuchter) Mord nicht verjährt.
Ein wichtiges Buch über ein unbekanntes Kapitel deutscher Geschichte, das den LeserInnen aber auch viel abverlangt in Hinblick auf ein unbekanntes Kapitel israelischer Geschichte, wurden die Aktionen der Nakam doch auch zerrieben zwischen verschiedenen Strömungen des Zionismus, von denen einige mit den Alliierten zusammenarbeiteten, andere Terroranschläge gegen die Briten durchführten, wieder andere die illegale jüdische Einwanderung organisierten und den Strom von überlebenden Juden in die USA bekämpften.
Reinhard Pohl
Jim G. Tobias / Peter Zinke: NAKAM. Jüdische Rache an NS-Tätern. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000, 173