(Gegenwind 166, Juli 2002)
Bildungswüste Grundschule nennt sich die Elterninitiative, die vor einigen Wochen in Gettorf entstand. Am 1. Juni 2002 veranstaltete sie eine landesweite Demonstration in Kiel, die sich gegen Unterrichtsausfall und Lehrermangel an Grundschulen wandte. Wir trafen uns mit zwei Initiatorinnen, Bettina Dorn und Susanne Kühn.
Bettina Dorn Susanne Kühn
Gegenwind:
Wie ist die Initiative entstanden ?
Bettina Dorn:
Nachdem der örtliche Elternbeirat jahrelang erfolglos versucht hat, die mangelhafte Unterrichtsversorgung zu verbessern, haben wir zur Unterstützung die Initiative gegründet, um gleichzeitig landesweit agieren zu können.
Gegenwind:
Wie alt sind Ihre Kinder?
Bettina Dorn:
Ich habe zwei Töchter im Alter von 8 und 10 Jahren und arbeite daher schon seit vier Jahren im Elternbeirat aktiv mit.
Susanne Kühn:
Meine Tochter ist 8 und geht in die zweite Klasse. Seit ihrer Einschulung arbeite ich ebenfalls im Elternbeirat aktiv mit.
Gegenwind:
Die Initiative entstand also aus dem Elternbeirat. Kann der Elternbeirat nicht die Arbeit machen? Warum parallel diese Initiative?
Bettina Dorn:
Die Initiative hat sich gegründet, um landesweit auf die Problematik an den Grundschulen hinzuweisen und allen engagierten Bürgern und Bürgerinnen - Eltern, Lehrern, Freunden - die Mitarbeit zu ermöglichen. Der Landeselternbeirat hat die Gründung der Initiative ausdrücklich befürwortet.
Gegenwind:
Welche Probleme haben Sie denn mit dem Unterrichtsausfall? Unter bestimmten Umständen gibt es ja auch Vertretungslehrer, die an die Schule geschickt werden...
Bettina Dorn:
Für Grundschulen gibt es solche Springer-Lehrkräfte nicht. Wenn sich daher morgens eine Lehrkraft krank meldet, hat der Schulleiter folgende Möglichkeiten: Er schickt die Kinder nach Hause, eine Kollegin kann ersatzweise die Klasse übernehmen, er teilt die Klasse auf, oder es erfolgt eine sogenannte Stillbeschäftigung. Von Seiten des Kultusministeriums wird dabei nur das Nach-Hause-Schicken der Kinder als Unterrichtsausfall gewertet. Ein Stundenersatz erfolgt nur, wenn die Lehrkraft beim ersten Arztbesuch gleich sechs Wochen krankgeschrieben wird. Der Stundenersatz gilt allerdings nur für 50 Prozent der ausgefallenen Stunden.
Gegenwind:
Was heißt das - die Klasse wird verteilt?
Susanne Kühn:
Wenn zum Beispiel in der Klasse 2a 21 SchülerInnen sitzen, werden drei Gruppen à 7 SchülerInnen gebildet. Die erste Gruppe geht dann in eine erste Klasse, die zweite in eine Parallelklasse, und die dritte Gruppe harrt in der dritten Klasse aus. Die Gruppen dürfen dort entweder Hausaufgaben machen, können versuchen, dem Unterrichtsgeschehen zu folgen oder sich einfach still zu beschäftigen - zum Beispiel durch Malen.
Gegenwind:
Was sind Ihre Forderungen?
Bettina Dorn:
Wir fordern eine dem Bundesvergleich angemessene, verbindliche Stundentafel. Wir haben eine Schulpflicht, aber wir haben auch ein Recht auf Bildung; das muss für Kinder aus Schleswig-Holstein genauso gelten wie für alle anderen. Wir fordern Vertretungsreserven, um eine nahezu hundertprozentige Unterrichtsversorgung zu gewährleisten. Kein Busunternehmen lässt seine Fahrgäste stehen, nur weil der Busfahrer erkrankt ist. Das Ministerium lässt aber unsere Kinder stehen. Wir fordern mehr Fördermaßnahmen. Die Förderung aller Kinder ist nur im Grundschulbereich und davor effektiv, verpasste Förderchancen bedeuten meistens arbeitslose Jugendliche, die den Staat jährlich immense Summen kosten. Daher sollte man gleich in die Grundlagen investieren.
Gegenwind:
Bei verbindlicher Stundentafel braucht Schleswig-Holstein mehr Lehrer. Haben Sie ausgerechnet, wie viele?
Susanne Kühn:
Nein, natürlich nicht, da dieses die Aufgabe des Bildungsministeriums ist. Wir zeigen die Missstände auf, und das Ministerium sollte eigentlich reagieren und nicht ignorieren.
Gegenwind:
Es gibt die Initiative jetzt zwei Monate. Wie sahen Ihre Aktivitäten aus?
Susanne Kühn:
Wir haben mit einer Unterschriftenaktion für unsere Forderungen zunächst nur in unserem Ort begonnen. Danach haben wir immense positive Reaktionen aus dem ganzen Land erfahren, so dass wir eine Homepage erstellten, um eine Vernetzung zu beginnen. Parallel dazu haben wir Info-Abende und Info-Stände gestaltet. Wir haben die Schulelternbeiräte aller 582 Grundschulen in Schleswig-Holstein auf eigene Kosten angeschrieben, über unsere Initiative informiert und zur Demonstration eingeladen. Angeschrieben haben wir ebenfalls die bildungspolitischen Sprecher aller Fraktionen sowie Frau Erdsiek-Rave persönlich. An einem Gespräch im Landeshaus nahmen wir teil. Unsere e-mail-Aktion läuft gut an: Eltern melden jede nicht erteilte Unterrichtsstunde direkt an das Vorzimmer der Ministerin. Wir lassen uns auf Veranstaltungen sehen.
Gegenwind:
Und die Reaktionen aus der Politik?
Bettina Dorn:
Der SSW hat uns direkt und zeitnah geantwortet und uns mitgeteilt, dass er aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen könne. Bei unserem Gespräch im Landeshaus teilte uns der bildungspolitische Sprecher der SPD mit, dass er ebenfalls aus terminlichen Gründen verhindert sei. Bündnis 90/Die Grünen wollten versuchen, einen Redner für die Kundgebung zu finden, dieses wurde aus terminlichen Gründen zwei Tage vorher abgesagt. Der bildungspolitische Sprecher der FDP hatte uns zwei Tage vorher eine Zusage gemailt, war dann allerdings nicht anwesend. Frau Erdsiek-Rave teilte uns in einem persönlichen Schreiben mit, dass nicht wir, sondern die Landeselternbeiräte, mit denen sie im ständigen Kontakt stehe, ihre Ansprechpartner seien. Frau Franzen, die Vorsitzende des Landeselternbeirates der Grund-, Haupt- und Sonderschulen sagte dazu in ihrer Rede, dass der letzte Kontakt im Januar 2001 stattfand und nur "nach eindringlichem Drängen und nach monatelangem Warten" zustande kam. Im Zusammenhang mit Ihrer Frage weisen wir darauf hin, dass wir parteipolitisch unabhängig sind und uns vor keinen politischen Karren spannen lassen.
Gegenwind:
Wie soll es jetzt weitergehen ?
Susanne Kühn:
Wir lassen gerade juristisch prüfen, wie wir ein erfolgreiches Volksbegehren starten können.
Bettina Dorn:
Wir planen für den Herbst eine zweite Demonstration, an der sich alle beteiligen werden, die mit der derzeitigen Bildungspolitik unzufrieden sind.
Interview: Reinhard Pohl
Ungewöhnlich genug: Da demonstrierten, aufgerufen von der Landesschülervertretung der Gymnasien und Realschulen, etwa 300 Menschen gegen die Politik des Bildungsministeriums - und wurden prompt in einer Presseerklärung des Ministeriums dafür gelobt: "Wir begrüßen, dass Bildung wieder ein zentrales Thema in unserer Gesellschaft ist und dass Schülerinnen und Schüler sich für ihre Schulen engagieren."
Die Schülerinnen und Schüler sahen das anders: "PISA, PISA" lautete ein Sprechchor. Damit meinten sie, wie auf einem Transparent vorne am Zug erläutert: "Problem ist Stunden-Ausfall". Bei der Abschluss-Kundgebung wurden die einzelnen Forderung vorgelesen und begründet, die großen Blätter anschließend an zwei VertreterInnen des Ministeriums überreicht. Alle Parteien des Landtages sowie Vertreter des Philologenverbandes und der GEW nahmen abends an einer Podiumsdiskussion zur Bildungssituation in Schleswig-Holstein teil.
Reinhard Pohl