(Gegenwind 165, Juni 2002)

Zur Diskussion:
Die Gewalt (in) der Schule

Das 17. Opfer

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"Steini" wurde er genannt und er wollte "irgendwas mit Computern machen" - oder Politiker werden. Und als er in einem mehr halboffiziellen Verfahren von der Schule flog, flüchtete der Junge aus bürgerlichem Elternhaus in eine Lügenwelt. War die Scham für Robert Steinhäuser zu groß oder war es der Druck der Erwartungen? Er verbrachte seine Tage in einem Café, hinter dem Computer, auf dem Schießstand und mit seinem Plan, Rache zu nehmen. An denen, die ihm alle Zukunft genommen hatten.

Am 27. April setzte er seinen Racheplan in blutige Realität um. Und 16 Menschen starben. Er war der 17. - das 17. Opfer.

Opfer einer katastrophalen Bildungspolitik, wie sie auch in Schleswig-Holstein nicht anders betrieben wird. Zwar haben Gymnasiasten hier nach der 10. Klasse einen Realschulabschluss und nach der 12. sogar die halbe Fachhochschulreife, aber auch an den Schulen Schleswig-Holsteins ist die Macht der Lehrer fast grenzenlos. Denn sie sind es, die über Lebenswege (nicht selten mit perfider Lust) entscheiden.

Beispiele, die nie an die Öffentlichkeit dringen, gibt es zahlreiche: So ereigneten sich an dem Itzehoer Gymnasium Auguste-Viktoria-Schule in den vergangenen vier Jahren zahlreiche regelrechte fristlose Kündigungen, gegen die ein Arbeitnehmer vor Gericht erfolgreich geklagt hätte. Der Itzehoer Gegenwind-Redaktion sind insgesamt fünf Fälle bekannt, in denen es mehr Willkür als alles andere gewesen ist, dass Schüler die Schule vorzeitig abbrechen mussten. Alles Schüler, die aufgrund ihrer Lebenssituation nicht in das kleinbürgerliche Bild der Schule passten. Alles Schüler, die auch heute nicht den Mut aufbringen, ihre Geschichte öffentlich zu machen; darum sollen die hier geschilderten Fälle anonym bleiben.

Die Gründe für die Schulverweise sind oftmals fadenscheinig. Denn Schüler werden in Krisensituationen allein gelassen, Druck wird ausgeübt, dem nicht jeder Jugendliche standhalten kann. Wenn das Elternhaus weder Liebe noch Geduld noch ein offenes Ohr bietet, sondern vielmehr Ursache der Krise darstellt, stehen die Jugendlichen allein da. Als Verfechter der eigenen Sache nicht ernstgenommen sind sie überfordert mit Behördengängen und der Suche nach Hilfe. Die erste Adresse ist oft der Vertrauenslehrer, aber welcher Pädagoge hat denn die Zeit, sich zu kümmern? Welche Schule bietet eine schulpsychologische Betreuung an, bei der der Schüler schnell einen Termin bekommt?

Eine ehemalige Schülerin der Auguste-Viktoria-Schule berichtet: "Weil ich schon in der 10. Klasse von Zuhause ausgezogen war, stand ich ganz allein da. Weil meine Eltern mir den Unterhalt vorenthielten, hatte ich große finanzielle Sorgen, konnte die Klassenfahrt nicht bezahlen." Also suchte sie Rat bei der Klassenlehrerin, die sich nicht zuständig fühlte. Im Sekretäriat erhielt sie die Antwort, dann solle die damals 17-Jährige doch zum Sozialamt gehen. Und überhaupt: Warum sei sie denn von Zuhause ausgezogen? Und generell: Wer sich eine Ausbildung nicht leisten könne, der muss halt die Schule abbrechen und arbeiten gehen. Von BAFöG oder Unterstützung kein Wort! Von Begleitung keine Spur, anstelle von Mitgefühl Hohn und Spott!

Eine andere Schülerin litt unter Essstörungen. Weil das Umziehen im Sportunterricht die Schülerin psychisch stark belastete, schrieb ihr Arzt ein Attest für den Sportunterricht. Das Lehrerkollegium berief eine Konferenz ein, auf der die Schülerin sich den Fragen der Lehrer stellen musste. Ein Sportlehrer fragte gar, wie sich denn das Sexleben des Mädchens gestalte, wenn sie sich nicht ausziehen würde. Gehört das an eine Schule? Ist das angewandte Pädagogik?

Ebenfalls an dieser Schule ereignete sich in diesem Jahr folgender Fall: Ein über Jahre hinweg als Problemschülerin bekanntes Mädchen wurde zwei Wochen vor dem schriftlichen Abitur der Schule verwiesen. Sie wurde nicht zum Abitur zugelassen, weil sie aus unerklärlichen Gründen trotz durchschnittlicher Noten mehr Fehlkurse als erlaubt bekommen hatte. Warum? Das konnten sich sogar die Jahrgangskollegen nicht erklären. Abgeschrieben sei sie gewesen, so eine Mitschülerin. "Das ist hier so Sitte", heißt es.

Für Außenstehende schwer nachvollziehbar, haben sich an vielen solcher städtischer Gymnasien Strukturen gebildet, die mit Willkür große Ähnlichkeit haben. Auch das Gutenbergymnasium in Erfurt war ein solches städtisches Gymnasium, in der Kaiserzeit erbaut, mit Tradition und dem Spruch "Lerne fürs Leben". Und die große Debatte um Verbote für Gewaltspiele und einer Verschärfung des Waffengesetzes übertönt (gewollt?) die mutigen Fragen nach den anderen auslösenden Faktoren für das Massaker von Erfurt. Wie kam es dazu, dass Robert Steinhäuser sich genötigt fühlte, Atteste zu fälschen? Wurde ihm die Urkundenfälschung je rechtlich nachgewiesen? Wer entschied über den Schulverweis und warum wurden die Eltern nie in den Vorgang miteinbezogen? So wurde der Schulverweis Roberts Physiklehrer Pockel nur lapidar mitgeteilt, berichtet der Spiegel.

Sicher, nicht die größte Ungerechtigkeit rechtfertigt einen Massenmord. Nichts kann Grund für Mord sein, aber wir müssen die Seele des Täters verstehen. Wir müssen die Verletzungen verstehen, die ein derartiges Schulsystem an labilen jungen Menschen hinterlässt. Gerade junge Menschen, und erst recht wenn ihre Lebensumstände schwierig sind und keine Familie für sie da ist, brauchen einen Schutzraum, den nur die Schule bieten kann. Wir brauchen Pädagogen, nicht Absolutisten, die über ganze Lebensläufe entscheiden. Wir brauchen Krisenmanager, nicht skrupellose Entscheider. Wir brauchen Lehrer, die wenigstens Begleiter sind, wenn nicht sogar menschliches Vorbild.

Wir brauchen auch eine Diskussion um Waffengesetz und Videospiel, aber besonders die Frage nach all denen, die nicht Amok laufen, stattdessen Depressionen, Versagensängste und Perpektivlosigkeit ins Leben mitnehmen nach einem Schulverweis. Es sind jedes Jahr tausende junge Menschen. Zählen die etwa nichts?

Die Auguste-Viktoria-Schule hatte im vergangenen Jahr übrigens ein Projekt gestartet: Es nannte sich anonymes, vertrauliches Sorgentelefon. Es wurde nicht ein Anruf registriert. Vielleicht, weil die Schüler Angst davor hatten, ihre Probleme würden an die Ohren der Lehrer dringen? Das Projekt wurde eingestellt. Nun ruft die Schule zum Tag der Zivilcourage auf. Nicht sehr viel glaubwürdiger.

Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) fordert derweil ein "lernfreundlicheres Klima" an den Schulen und eine umfassende Bildungsreform für alle Bundesländer. Ein Anfang? Vielleicht. Eine bessere Welt? Sicher nicht. Mehr Chancen? Hoffentlich!

Tina Groll

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