(Gegenwind 163, April 2002)
Sorgsam rekonstruiert die Archivarin im Berliner Bundesarchiv ihre Fundstücke: alte, großteils beschädigte Akten des nationalsozialistischen Gesundheitswesens. Vorsichtig wird Unlesbares wieder lesbar gemacht: Namen, Daten, Befunde. Bruchstücke werden aneinander gefügt.
Diese Arbeit der Rekonstruktion ist der rote Faden in Antje Huberts und Olga Schells Dokumentation ad acta. Die Filmemacherinnen gehen aber einen anderen Weg der Rekonstruktion, sie lassen Menschen ausführlich zu Wort kommen, deren "Fälle" längst zu den Akten - ad acta - gelegt worden sind, Menschen, die auf unterschiedliche Weise vom NS-Gesundheitssystem erfasst, verletzt, verfolgt worden sind. Denn die so genannte "Gesundheits"-Politik der Nazis war ein Teil der Vernichtungs- und Verfolgungsmaschinerie des Systems, in ihr Visier gerieten "Erbkranke", "Schwachsinnige", das "minderwertige Leben". Zehntausende wurden ermordet, zehntausende zwangsweise sterilisiert. Dies war das Handwerk von Ärzten in "Heilanstalten".
Ein Mann, dessen Mutter 1941 von den "Euthanasie"-Ärzten getötet worden ist, erzählt deren Geschichte und zugleich seine persönliche Geschichte der mühsamen Aufarbeitung dieses Verbrechens. Einen ganzen Kellerraum voll von Unterlagen, Akten, Beweisstücken hat er angesammelt. Zwei Prozesse gegen beteiligte Ärzte hat er verfolgt.
Eine Frau war als Mädchen wegen "Schwachsinnigkeit" in die "Heilanstalt" eingeliefert worden, acht Jahre alt war sie, als sie knapp vor der Gaskammer doch noch wieder umkehren durfte, wie durch ein Wunder wurde ihr Leben gerettet. In mühsamer Eigenarbeit produziert sie dann, Jahrzehnte später, ein Buch mit ihrer Geschichte. Vergeblich versucht sie, an ihre Krankenakten von damals heranzukommen und die diskriminierenden "Diagnosen" der Nazi-Ärzte aus der "Heilanstalt" in Brandenburg korrigieren zu lassen. Doch der Arm der Behörden, erst derjenigen in der DDR, dann derjenigen im wiedervereinigten Deutschland, ist länger.
Eine Frau, die zur Nazi-Zeit wegen "Schizophrenie" eingeliefert und dann zwangssterilisiert wurde, erzählt von der tiefgreifenden Bedeutung, den dieser Eingriff für ihr Leben gehabt hat. Sie hat ihre ganz eigenen Schlüsse daraus gezogen und engagiert sich jetzt für eine andere Psychiatrie, für einen anderen Umgang mit psychischer Krankheit. Sie referiert zum Beispiel auf "Psychoseseminaren", in denen unter Psychosen Leidende, Angehörige und Ärzte ein freies Forum des Austausches finden.
Die Menschen diesseits der Akten versuchen, teilweise nach jahrzehntelangem Schweigen, zu ihrer eigenen Geschichte zu finden. Doch damit bleiben sie weitgehend allein. Ein kleiner Verband der "Euthanasie"-Geschädigten kämpft um Rehabilitation und Entschädigung der Betroffenen, doch die Zugeständnisse, die er der Politik abtrotzt, sind minimal. Dass den Opfern der nationalsozialistischen "Gesundheits"-Politik, den zwangsweise sterilisierten Männern und Frauen, den Eingesperrten und Gefolterten, den Angehörigen der Ermordeten eine Entschädigung für die Verbrechen zusteht, sollte selbstverständlich sein. Doch der Rechtsstaat BRD hat sich dagegen immer mit Händen und Füßen gewehrt. Zum Beispiel mit höchstrichterlichen Urteilen, die die Zwangssterilisierungen nach dem "Gesetz über die Verhütung erbkranken Nachwuchses" von 1934 als rechtsstaatlich in Ordnung absegneten. Zum Beispiel mit Almosenzahlungen an die Betroffenen, vor deren Erhalt jedoch hohe bürokratische Hürden aufgebaut wurden.
Irgendwann wird der letzte "Fall" sich erledigt haben, wird die oder der letzte, die/der noch persönlich von der Verfolgung durch die NS-Mediziner betroffen gewesen ist, verstorben sein. Dann kann die Bundesrepublik Deutschland für sich reklamieren, die nationalsozialistische Verfolgung erfolgreich auf ihre Weise verlängert zu haben. Die Archivarin im Bundesarchiv freilich wird noch lange damit beschäftigt sein, die Schriftstücke über die Opfer eines deutschen "Gesundheits"-Wahns zu rekonstruieren.
Henning Hofmann
ad acta. Buch/Regie: Antje Hubert/Olga Schell. Beta SP/Video. 85 Min., BRD 2002.