(Gegenwind 162, März 2002)

Der 8. März in der Türkei und in Deutschland

"Für mich waren Frauenrechte ein Traum"

Seit 10 Jahren lebt Sultan Fehimli mit ihrem Mann und ihren drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter, in Kiel. Sie kamen als kurdische Flüchtlinge aus der Türkei, über ihr Bleiberecht ist noch nicht entschieden. Mit Sultan sprachen wir über ihr Leben als Kurdin in der Türkei und in Deutschland und über die Bedeutung, die der Internationale Frauentag für sie hat.

Sultan Fehimli

Gegenwind:

Wie hast du als kleines Mädchen gelebt? Wie bist du zur Schule gegangen?

Sultan Fehimli:

Wir haben in einem kurdischen Dorf gelebt. Wir hatten kein Fernsehen, kein Spielzeug, wir haben nur mit Steinen und Stöcken gespielt. Meine Eltern haben mich nicht zur Schule angemeldet, im Gegenteil, sie waren dagegen. Ich habe die Kinder gesehen, die vor der Schule spielten, und bin auch dorthin gegangen. Ich habe immer rund um die Schule gespielt, weil mich das interessierte. Irgend jemand nahm mich an der Hand und brachte mich in die Schule zu einem Lehrer. Der hat mich dann eingetragen, so bin ich zur Schule gekommen. In der Türkei ist es schwierig, als Kurdin zur Schule zu gehen. Es ist viel Arbeit, die Hausaufgaben zu machen, alles auf Türkisch. Aber wenn ich meinen Eltern sagte, dass ich Hausaufgaben habe, haben sie geschimpft, ich müsste arbeiten. Ich konnte keine Hausaufgaben machen. Ich musste meinem Vater Essen aufs Feld bringen und musste auch mitarbeiten.

Gegenwind:

In welchem Alter wurdest du berufstätig?

Sultan Fehimli:

Mit sechs Jahren. Ich habe angefangen mit dem Hüten von Ziegen, habe meiner Mutter geholfen. Später wollte ich dann Hausaufgaben machen, ich mochte die Schule, aber meine Mutter hatte kein Verständnis dafür. Nach der Schule wurde ich, ohne was zu Essen zu bekommen, auf die Felder geschickt. Im Gegenteil, meine Eltern haben noch geschimpft, dass durch die Schule Arbeitszeit verloren geht. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber meine Eltern hatten überhaupt kein Verständnis dafür, dass ich zur Schule gehen wollte. Wenn ich das heute mit meiner Tochter vergleiche, die ist elf und kommt mittags aus der Schule, und ich mache mir oft Sorgen, weil ich ihr nicht bei den Hausaufgaben helfen kann. Ich kann nicht genug Deutsch, ich bitte manchmal jemanden, nochmal nachzuschauen, ob sie zurecht kommt.

Gegenwind:

Musstest du arbeiten, weil du die älteste Tochter warst? Brauchten deine Eltern deine Arbeitskraft, um die Familie zu ernähren?

Sultan Fehimli:

Ich glaube schon, dass sie auf meine Arbeitskraft angewiesen waren. Ich habe kein Geld verdient, aber ich habe Arbeiten gemacht, so dass sie in der Zeit Geld verdienen konnten.

Gegenwind:

Hatten deine Eltern Interesse daran, dass deine drei Brüder zur Schule gehen?

Sultan Fehimli:

Ja, mein Vater hat seine Jungs mehr gemocht. Für die dreien hat er sich mehr interessiert als für uns Mädchen. Wir Mädchen haben auch überhaupt kein Taschengeld bekommen, die Brüder schon.

Gegenwind:

Hast du mit deiner Schwester mal darüber gesprochen? Fühltet ihr euch ungerecht behandelt? Habt ihr euch ein anderes Leben gewünscht?

Sultan Fehimli:

Nein. Wir haben ja nichts anderes gekannt. Wir sind nicht auf die Idee gekommen, dass wir anders leben wollen. Wir dachten, das ist das Leben, und das muss auch so sein. Erst als wir groß waren, haben wir den Eltern auch Vorwürfe gemacht. Dass sie es nicht richtig gemacht haben, dass wir es anders wollten.

Gegenwind:

Wärest du lieber zu einer höheren Schule gegangen, statt auf dem Feld zu arbeiten?

Sultan Fehimli:

Ich habe oft geheult. Ich wollte so gerne weiter zur Schule gehen. Ich wollte nur zur Hauptschule, aber mein Vater hat gesagt: Nein, du musst auf dem Feld arbeiten. Mein Onkel, er hat studiert, wollte auch, dass ich zur Schule gehe. Er hat meinem Vater gesagt, dass ich intelligent bin, aber mein Vater hat Nein gesagt.

Gegenwind:

Durfte deine jüngere Schwester später mehr als du? Hast du mit deiner Kritik wenigstens für sie etwas erreicht?

Sultan Fehimli:

Doch, sie hatte mehr Chancen als ich. Für die Kleine habe ich mich stark gemacht. Die Zeiten waren dann auch anders. Die Jugendlichen haben später viel mehr mitgekriegt, es gab das Fernsehen und andere Medien. Es ist anders geworden und besser geworden.

Gegenwind:

Wenn du dich heute darum kümmerst, Leute zu finden, die deiner Tochter bei den Schularbeiten helfen können, denkst du dann auch an deine Kindheit?

Sultan Fehimli:

Natürlich ist für mich immer eine Verbindung da. Ich denke an meine Kindheit, wenn ich jetzt meine Tochter sehe. Ich war als kurdisches Mädchen in einer türkischen Schule, meine Eltern konnten überhaupt kein Türkisch, sie konnten nie verstehen, was ich in der Schule lerne. Das ist eine Wunde, die immer noch nicht verheilt ist. Wir hatten als Kurdinnen sehr große Schwierigkeiten in der türkischen Schule. Jetzt gibt es wieder ein Loch: Ich kann meinen Kindern nicht helfen, weil die deutsche Sprache für mich sehr schwer ist. Ich fühle mich manchmal wie ein Kind, wenn meine Tochter deutsche Bücher liest. Das beschäftigt mich. Ich will nicht, dass sie die Schwierigkeiten in der Schule bekommt, die ich hatte. Man kann es aber eigentlich nicht vergleichen, als Kurdin in der Türkei oder als Kurdin in Deutschland zu leben. Ich konnte mich bis zur 2. Klasse kein einziges Mal melden, weil ich überhaupt kein Türkisch konnte. Ich habe die Laute nur auswendig gelernt und ins Heft geschrieben, ohne etwas zu verstehen. Wenn ich jetzt meine Kinder sehe: Sie sind in den Kindergarten gegangen, sie können Deutsch, sie bekommen Nachhilfe-Unterricht, wenn sie es brauchen. Es ist schwierig, aber sie haben viele Möglichkeiten. Das ist ganz anders als bei Kurdinnen in der Türkei. Unsere Armut war auch groß. Ich weiß noch, dass ich als Kind mal ohne Socken zur Schule kam, weil ich keine hatte. Der Lehrer sagte auf Türkisch: "Zieh dir Socken an." Ich habe das nicht verstanden, ich kannte das türkische Wort "Socken" nicht. Zu Hause konnte ich nicht sagen, was der Lehrer von mir wollte, dort konnte ja auch niemand Türkisch.

Gegenwind:

Was bedeutete der 8. März in der Türkei für dich, als du 16, 17, 18 Jahre alt warst?

Sultan Fehimli:

Damals spielte der 8. März für mich eine große Rolle. Wir diskutierten über Politik und über Sozialismus, ich habe verstanden, dass die Frauen sich äußern dürfen, und das war das, was ich immer wollte. Ich habe verstanden, dass ich als Mensch das Recht habe, mich darzustellen, eigene Ideen vorzutragen, ich wollte erklären, das will ich und das will ich nicht. Es waren zuerst nur kleine Schritte, aber ich machte mir immer mehr Gedanken. Ich glaube, damals habe ich erst meine Augen aufgemacht.

Gegenwind:

Wie war denn die Atmosphäre, wenn ihr euch am 8. März getroffen habt?

Sultan Fehimli:

Für mich waren Frauenrechte ein Traum. Denn es war ja ein ganz anderes Klima gesellschaftlich. Wir haben uns gegenseitig erzählt. Ich habe erzählt, dass ich Brüder habe und selbst zu Hause nur gearbeitet habe. Draußen und drinnen, nur geschuftet, während die Jungs zur Schule gegangen sind. Wir haben diese Beispiele erzählt und dadurch unsere Augen geöffnet. Wir hatten plötzlich viele Fragen im Kopf. Wir haben angefangen zu lesen. Wir haben uns organisiert, wir haben uns dafür interessiert, was überhaupt Frauenrechte sind. Ich werde nie vergessen, dass einmal eine Frau am 8. März eine Rede gehalten hat. Sie hat gesagt, wenn Mann und Frau in der Ehe zusammen leben und ein Kind haben, und die Frau wäscht Wäsche, dann soll der Mann auf das Kind aufpassen. Das Kind gehört nicht nur der Frau, es gehört auch dem Mann, das sind die Eltern, und es muss ganz anders laufen. Für mich war das ein großer Traum, Mann und Frau gleichberechtigt. Gleichberechtigt zu Hause, gleichberechtigt draußen, gleichberechtigt beim Reden, auch in der Erziehung. Aber wir mussten vorsichtig sein, es war ja verboten.

Gegenwind:

Welches Risiko bist du eingegangen?

Sultan Fehimli:

class="text"Das Risiko war völlig klar, schließlich bin ich eine Frau. Das Risiko ist Haft, Folter und Vergewaltigung. Man weiß es, ohne dass man es sich vorher wirklich vorstellen kann. Beim Treffen 1982, ich war gerade 17, hatte die Polizei durch Verrat von unserem Treffen erfahren und überfiel uns, bevor wir noch angefangen haben. Wir wurden alle zusammengeschlagen, vielen wurden Arme und Beine gebrochen, viele wurden verletzt, viele mitgenommen.

Gegenwind:

Hat sich in eurer Familie später etwas geändert?

Sultan Fehimli:

In der Familie hat sich gar nichts verändert, meine Eltern haben sich nicht geändert. Sie haben immer gesagt, wir sollen nicht mitmachen, brav sein, uns nicht organisieren, und nicht engagieren. Das Leben ist so, und es wird so weitergehen. Besonders sollten wir nichts gegen die Regierung machen, gerade als Kurden. Sie haben immer gesagt, die Töchter sind unser Stolz, sie sollen nicht rausgehen, um mit anderen zu reden oder zu lachen. Die Jungs durften immer alles machen, was sie wollten.

Gegenwind:

Machst du bei deinen Kindern einen Unterschied, wie die Jungs und die Mädchen erzogen werden?

Sultan Fehimli:

Nein, ich mache keinen Unterschied. Ich glaube, das habe ich erreicht, sie sind gleichberechtigt. Ich mit meinem Mann, und wir verteilen die Arbeit im Haushalt gleichmäßig. Ich habe natürlich den großen Wunsch, dass meine Kinder zur Schule gehen, aber ich mache keinen Unterschied, ob sie Jungen oder Mädchen sind.

Gegenwind:

Spricht du mit deiner Tochter schon darüber, welche Rechte Frauen haben, was sie sich gefallen lassen muss und was nicht?

Sultan Fehimli:

Sie ist ja erst elf Jahre alt, so konkret habe ich mit ihr noch nicht darüber gesprochen. Aber sie bekommt natürlich mit, wie das bei uns läuft. Aber den beiden größeren Söhnen erzähle ich schon davon.

Gegenwind:

Kannst du dir vorstellen, mit deinen Kindern in der Türkei zu leben?

Sultan Fehimli:

Mit meiner Erziehung können die Kinder, glaube ich, nicht in der Türkei leben. Die hätten große Schwierigkeiten. Sie haben hier Rechte und Freiheiten, sie sind hier großgeworden, sie haben sich daran gewöhnt. Ich kann es mir nicht vorstellen, sie hätten dort große Schwierigkeiten. Wir haben ja gelernt, dass Mädchen nichts zu sagen haben, und Papa und Mama haben immer Recht. Bei meinen Kindern ist das ganz anders. Die können sich verteidigen, die können laut werden, die können eine eigene Meinung haben.

Gegenwind:

Wie hast du den 8. März hier in Deutschland erlebt?

Sultan Fehimli:

Hier habe ich auch den 8. März gefeiert, hier ist es auch nicht verboten. Aber deshalb geht man hier ganz anders damit um. Man geht dorthin, feiert, es gibt Musik, man lacht und redet. Und hinterher geht man nach Hause, und man weiß, man muss nicht aufpassen, man wird nicht verhaftet. In der Türkei ist das anders. Es ist schwierig gewesen, es war ein Aufstand, es lief versteckt ab. Du gehst dahin, trotz Verbot, denn es geht um deine Freiheit. Es ist lebendiger gewesen als hier. Die Genossinnen in der Türkei, die sich mit dem 8. März beschäftigt haben, waren ganz anders drauf als hier. Es gab eine viel größere Vertrautheit miteinander, hier weiß man über die anderen Frauen nicht, wer was macht.

Gegenwind:

Du hast vorhin von dem Treffen am 8. März erzählt, als du gerade 17 warst. Kannst du dir vorstellen, wenn deine Tochter 17 ist und hier in Sicherheit lebt, dass sie sich vielleicht gar nicht für Politik interessiert, sondern vielleicht für Kleidung und Make-up? Du hast ihr ja viele Probleme aus dem Weg geräumt, sie musste wenig kämpfen.

Sultan Fehimli:

Natürlich will ich nicht, dass meine Tochter bourgeois wird und sich nur für ihren Lippenstift interessiert. Ich habe ihr auch nicht alles aus dem Weg geräumt. Sie wird sicher nicht wie ich, ich habe ganz andere Erlebnisse gehabt. Ich wünsche mir, dass sie ihren Weg geht. Und ich erkläre ihr auch jetzt viel. Wenn ich zu einer Demo gehe, zu einer Veranstaltung, nehme ich sie oft mit. Sie kriegt viel mit. Wenn es eine antifaschistische Demonstration gibt, gehen alle meine Kinder mit.

Gegenwind:

Kann sich deine Tochter wirklich vorstellen, wie du als Zehn- oder Elfjährige gelebt hast, oder sind das nur Erzählungen aus einem fremden Land?

Sultan Fehimli:

Ich habe meiner Tochter erzählt, dass ich als Elfjährige nicht nur in der Schule war, sondern den ganzen Haushalt mit vier kleineren Geschwistern machen musste. Und dann musste ich noch auf den Baumwollfeldern arbeiten. Und meine Tochter sagt, das ist ihr egal, das warst du, und ich bin hier. Wir haben hier in Kiel keine Baumwollfelder. Die Kinder haben tausend andere Wünsche. Einer will einen Hund haben, der andere eine Katze, sie will Ohrringe. Davon haben wir früher nicht mal geträumt. Wir haben auch als Kinder Wünsche gehabt, aber heute sprechen die Kinder nur über Markenklamotten, alles muss teuer sein.

Gegenwind:

Was wünscht du dir für den 8. März?

Sultan Fehimli:

Ich wünsche, dass es für alle Frauen weiter voran geht, dass allen die Augen geöffnet werden wie mir.

Interview: Ayse Fehimli und Reinhard Pohl
(das Interview wurde auf Kurdisch geführt)

Meldungen und Terminhinweise zum Internationalen Frauentag 2002 im Gegenwind 162.



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