(Gegenwind 161, Februar 2002)
Globalisierung - das Wort ist in aller Munde. Wenn Preise steigen und Löhne sinken, verantwortlich ist die "Globalisierung". Wenn eine Regierung Missstände erkennt, aber nichts macht, kann sie nichts machen - wegen der "Globalisierung". Wenn wir im Fernsehen Bilder gewalttätiger Demonstrationen sehen, erklärt der Kommentator, das wären "Globalisierungsgegner". Um ein wenig mehr Licht ins Dunkel zu bringen, baten wir Jörn Hartje (Jugend-Umwelt-Projektwerkstatt Bad Oldesloe) und Karl-Martin Hentschel (Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag) zum Streitgespräch.
Gegenwind:
Was ist Globalisierung?
Jörn Hartje:
Für mich bezieht sich Globalisierung nicht nur auf die Wirtschaft, sondern es ist eine allgemeine Erscheinung. Immer mehr funktioniert auf internationaler Ebene und wird der regionalen Ebene entzogen, das gilt wirtschaftlich, politisch, aber auch gesellschaftlich. Die einzelnen Leute vor Ort haben immer weniger Entscheidungsfreiheit. Wirtschaftlich werden sie von den Weltmarktpreisen so gedrückt, dass sie ihre eigenen Produkte nicht mehr los werden. Regionale kulturelle Unterschiede können kaum noch aufrecht erhalten werden durch internationale Einflüsse, zum Beispiel auf dem Filmsektor. Politische Entscheidungen sind regional kaum noch möglich. Wenn man sich das MAI ansieht, das Multinationale Investitionsabkommen, werden damit regionale Entscheidungsmöglichkeiten praktisch aufgehoben. Besonders schlimm finde ich, dass diese Entwicklung als Naturgesetz dargestellt wird, die man hinnehmen müsste.
Karl-Martin Hentschel:
Ich glaube, dass die Globalisierung ein Prozess ist, der genauso wenig zu stoppen ist wie im letzten Jahrhundert die Entwicklung zum Kapitalismus. Die Globalisierung ist sowohl ein ökonomischer Prozess, der bedeutet, dass die Weltökonomie immer stärker miteinander verflochten ist, dass kaum noch ein Land sich abschotten kann. Es ist aber auch ein kultureller Prozess, dass die Weltkulturen sich immer stärker aufeinander beziehen. Das ist nicht nur eine Zwangsveranstaltung der USA, sondern es ist auch so, dass sich in großen Teilen der Welt gerade die Jugendlichen an Kultursymbolen der USA orientieren. Die sind zum Leitidol großer Teile der Welt geworden und haben eine große Anziehungskraft. Wenn man es historisch betrachtet: Die Metropolen haben auf die ländlichen Räume immer eine enorme Anziehungskraft gehabt, dort sind die Menschen immer hingezogen. In der Dritten Welt ist es heute so, dass die Menschen in die Städte ziehen, da wo was los ist, kann man sagen. Dieser Globalisierungsprozess führt allerdings, da stimme ich mit dir überein, zu einer Erosion der regionalen und nationalen politischen und ökonomischen Strukturen in großen Teilen der Welt. Das ist das Desaster, vor dem wir stehen. Wenn ein Land wie Deutschland kaum noch eine eigene Steuerpolitik machen kann, ohne sich in der EU abzusprechen, weil sonst die Kapitalisten ins Ausland wandern, wenn das also nicht mal für Deutschland möglich ist, dann ist es natürlich in irgend einem beliebigen afrikanischen Land erst recht nicht mehr möglich, eine nationale Wirtschaftspolitik zu machen. Das ist das Desaster, was dazu führt, dass wir in den letzten zwanzig, dreißig Jahren erleben müssen, dass der Abstand der armen Länder zu den reichen Ländern zugenommen hat und nicht weniger geworden ist. Das ist auch die große Aufgabe, vor der wir stehen, dass wir dort eine Kehrtwende brauchen.
Jörn Hartje:
Natürlich ist es klar, dass in einer Art Schneeballeffekt sich viele Jugendliche Idole in den USA suchen. Das ist aber nicht das entscheidende Problem. Man muss den Blick darauf richten, wie das eigentlich entsteht. Dafür ist nicht die Bevölkerung allgemein verantwortlich zu machen, sondern es gibt ganz bestimmte Interessen, die uns dahin führen. Das mag sich verschwörungstheoretisch anhören, ist es aber nicht, denn man kann es an vielen konkreten Dingen festmachen. Da sind die internationalen Abkommen wie die Agenda 21, MAI, das Abkommen von Kyoto. Alle sind auf die Globalisierung ausgerichtet, immer stärker von Abkommen zu Abkommen. Nach dem Abkommen von Kyoto wird international mit der Verschmutzung von Luft gehandelt, was vorher regional geregelt wurde. Man kann also jetzt weltweit sein Recht, Luft zu verschmutzen, kaufen und verkaufen. Es gibt ganz konkrete Interessen, die dahin arbeiten, und für international arbeitende Betriebe ist das auch ein Vorteil, wenn sie ihr Handeln nicht mit jeder Regierung einzeln abstimmen müssen, sondern einmal klären und dann handeln können. Das ist auch die Idee von MAI: Wenn man eine Genehmigung hat, kann man auch in anderen Ländern zu den gleichen Löhnen und den gleichen Umweltstandards produzieren, zumindest annähernd, man muss sich nicht um die regionalen Standards des betreffenden Landes kümmern.
Besonders schlimm finde ich, was auch in linken Kreisen teilweise positiv gesehen wird, dass man auf eine UN-Weltregierung hinarbeitet. Man will alle Macht den UN geben, die Nationalstaaten entmachten. Ich bin kein Fan von Nationalstaaten, aber man will die Macht ja nicht an die Menschen zurückgeben, sondern noch stärker weltweit konzentrieren. Das erinnert an das Märchen, es gäbe auch "gute Führer" - ich glaube, wenn man Macht stärker konzentriert, wird sie auch missbraucht. Regional organisierte Macht kann nicht so leicht missbraucht werden.
Karl-Martin Hentschel:
Der Globalisierungsprozess hat sicherlich Akteure, zum Beispiel international operierende Unternehmen. Das Problem ist aber, dass diese Akteure zunächst nur versuchen, Geld zu verdienen, sie haben keine "bösen Absichten". Ihnen steht aber kein politischer Ordnungsrahmen entgegen, wie wir es in Deutschland oder in Europa haben. In Deutschland und Europa ist der Kapitalismus deshalb akzeptabel - weil er Wohlstand schafft -, weil wir einen politischen Rahmen haben, einen sozialen Rahmen haben, der sagt, was sind die sozialen Grenzen, wir haben einen ökologischen Rahmen, wo gesagt wird, es gibt immer schärfere Umweltbestimmungen, an die sie sich zu halten haben, und so weiter. Das alles gibt es in großen Teilen der Welt nicht. Weil es das nicht gibt, setzt sich nach dem Prinzip des freien Spiels der Kräfte in der Konkurrenz derjenige durch, der sich wie eine Sau verhält. Wer die Umwelt am meisten verdreckt und die niedrigsten Löhne zahlt, hat ökonomische Vorteile. Dagegen muss man etwas tun. Im Kern bedeutet die Globalisierung, dass es für die wirtschaftlichen Prozesse in dieser Welt kaum noch Grenzen gibt. Ich glaube nicht, dass die USA-Regierung einen solchen Prozess bewusst betreibt. Die USA-Regierung, Präsident Bush ist gewählt worden mit einem Programm, sich aus diesen internationalen Prozessen herauszuziehen. Clinton hatte ja immer noch einen visionären Anspruch, das Gute in der Welt zu verbreiten, während die Republikaner dafür stehen, nicht mehr mitzumischen und sich zurückzuziehen. Sie waren deshalb völlig überrascht vom 11. September, da mussten sie entgegen ihrer eigenen Programatik doch wieder etwas tun.
Gegenwind:
Was haltet ihr von dem angeblich Guten der Globalisierung? Es wird ja auch von der Globalisierung der Menschenrechte gesprochen, angeblich kann im Zeitalter der Globalisierung keine nationale Regierung ein Massaker anrichten, ohne dass die Nachbarn oder die NATO sich einmischt.
Jörn Hartje:
Der Vorsitzende des Industrie- und Handelstages, gleichzeitig Ehrenvorsitzender von amnesty international, hat neulich in der Zeitschrift von ai ein Interview gegeben. Er hat behauptet, dass die multinationalen Betriebe auch die Menschenrechte exportieren würden. Dadurch würden Menschenrechte in Dritte-Welt-Ländern etabliert. Das halte ich für ein Märchen, die Realität sieht anders aus. Esso in Nigeria verschmutzt die Umwelt, Gentechnik-Betriebe in Indien verschenken manipuliertes Saatgut und machen die Bauern abhängig. Durch diesen Wirtschaftsprozess werden gewachsene Strukturen, in der Dritten Welt gerade Subsistenzstrukturen zerstört, das ist das Entscheidende. Es wird eine Abhängigkeit geschaffen, die in bestimmten Bereichen vielleicht zu einer Verbesserung der Menschenrechte führt, aber auf Dauer sind die Leute abhängig. Natürlich kann man eine Taliban-Regierung nicht begrüßen, auch wenn sie teilweise unabhängig war von dem Wirtschaftssystem. Aber wie soll man das rechnen? Ist es besser, wenn die Leute sich selbst abknallen, oder soll eine internationale Ordnungsmacht die Leute abknallen? Ich finde es bedenklich, dass Kritik an der Globalisierung sehr runtergemacht wird, nach dem Motto: Wer gegen internationale Kriege ist, ist auch gegen Menschenrechte. Das sehe ich nicht so. Man muss da viel bedächtiger vorgehen.
Karl-Martin Hentschel:
Ein Ausdruck der Globalisierung ist die Tatsache, dass Menschen immer mehr übereinander wissen - international. Die Feindbilder, die früher existiert haben, werden abgebaut. Früher war der Feind schon im nächsten Dorf, dann war der Feind jenseits der Grenze, Frankreich beispielsweise. Das ist in Europa in erstaunlicher Weise massiv abgebaut worden dadurch, dass die Gesellschaft sich internationalisiert hat. Die Menschen reisen mehr, sie lernen andere Kulturen kennen, dadurch ist eine Völkerverständigung entstanden, die vorher nicht vorstellbar war. Hier in Europa haben die Völker tausend Jahre miteinander Krieg geführt, heute leben sie friedlich zusammen, ein Zustand wie in Nordirland gilt inzwischen als exotisch und kaum noch verständlich. Keiner kann sich noch vorstellen, dass ich in den fünfziger Jahren in Tirol Urlaub gemacht habe und dort noch Bomben geworfen wurden für die Unabhängigkeit von Italien. Mittlerweile sind wir alle Europa, das ist ein enormer Fortschritt. Dieser Prozess findet weltweit statt.
Doch im Unterschied zu Europa, wo es eine Angleichung der Lebensstandards gibt, was ich für einen Fortschritt und ein Verdienst der EU halte, ist es weltweit so, das die armen Länder abgehängt werden. Die armen Länder werden immer ärmer im Vergleich zu den reichen. Gleichzeitig ist es so, dass in weiten Teilen der Welt Diktatoren oder Warlords ihre Privatarmeen aufstellen und ihre privaten Herrschaftsbereiche führen. Selbst ein noch so gut ausgebildeter und fortschrittlicher Präsident in Afrika, der das Beste für sein Volk will, kann dagegen überhaupt nichts mehr erreichen. Er kann keine eigenständige ökonomische Politik machen. Nur dadurch, dass er international operiert, wird er überhaupt etwas erreichen können. Dieses Beispiel macht deutlich, dass es kein Zurück gibt in der Globalisierung. Wir können nicht sagen, er soll die Grenzen wieder zumachen und sich auf sich selber beziehen. Das ist das Modell Kambodscha, das ist das Modell Taliban - alle Versuche, die Grenzen zuzumachen und eine rein nationale Ökonomie zu machen, sind erstens gescheitert und haben zweitens zu einem totalitären Regime geführt, denn die kulturellen Einflüsse z. B. der USA oder Europas, auch Literatur und Kunst, lassen sich nicht ausgrenzen außer durch Terrorregime. Der Versuch, die Globalisierung aufzuhalten, führt zu Terror und massiver Verelendung. Den Regierungen, die eine nationale Ökonomie wollen, muss geholfen werden. Wir müssen uns darüber unterhalten: Wie helfen wir ihnen?
Jörn Hartje:
Klar ist: Internationalisierung ist positiv zu sehen. Aber das muss man vom wirtschaftlichen Teil der Globalisierung abgrenzen, denn da liegt das Problem. Es ist sicherlich so, dass zu begrüßen ist, was die Leute freiwillig an Einflüssen aufnehmen und auch abgeben. Aber der andere Aspekt ist eben, dass Einrichtungen wie der Internationale Währungsfonds die Länder zu Maßnahmen zwingt, die sie eigentlich nicht wollen. Oder Produkte, die über den Weltmarkt in allen Ländern zu niedrigen Preisen angeboten werden und die regionale Wirtschaft kaputtmachen, das ist eben nicht gewollt von den betroffenen Menschen. Das wird ihnen aufgezwungen über Kreditbedingungen. Darüber wird auch allen Ländern ein kapitalistischen System vorgeschrieben, egal ob sie das selbst wollen. Ich will damit nicht sagen, dass ich zur Kleinstaaterei zurück will, nach dem Motto, wir kaufen nur bei unseren Nachbarn ein. Der Welthandel, damit meine ich aber einen fairen Welthandel, ist wichtig.
Gegenwind:
Martin, du sagtest, Länder, die wirtschaftlich autonom sein wollten, könnten das im Innern nur mit einer Diktatur durchsetzen. Andererseits ist es aber doch so, dass Länder, die sich eingliedern und den Bedingungen des IWF folgen, das häufig auch nur diktatorisch durchsetzen können. Denn die Schere zwischen arm und reich klappt immer weiter auseinander, andererseits haben die Menschen, die ärmer werden, immer mehr Informationen über den Lebensstandard der Reichen. Außerdem gibt es mehr Möglichkeiten der Mobilität, viele Menschen versuchen, vor der Armut zu fliehen. Wohin führt diese Entwicklung?
Karl-Martin Hentschel:
Ich habe lange daran geglaubt, wir haben das früher in der Linken vertreten: die Unabhängigkeit der Völker. Jedes Land, jedes Volk muss sich selbst entwickeln, seinen eigenen Weg gehen. Entwicklungsmodell nach diesem Muster gibt es ja. Das ist Japan, das ist Korea, das ist Taiwan - wo Länder sich aus dem Dritte-Welt-Status entwickelt haben, zum Industriestaat geworden sind mit relativem Wohlstand. Sie sind infolge dieser Entwicklung auch demokratisiert worden, aber primär haben sie sich zunächst abgeschottet, wie Preußen das im letzten Jahrhundert auch gegenüber England gemacht hat - hohe Schutzzölle, eine eigene industrielle Entwicklung, viel Kapital ansparen, um dann international konkurrenzfähig zu werden. Diese Modelle waren erfolgreich, ich bezweifle aber, dass es so weitergehen wird. Das ist die Erfahrung der letzten zehn Jahre, seit 1990, seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Zusammenbruch ganzer Ökonomien in Afrika. Wir haben nicht die Zeit zu warten, dass einzelne Länder sich weiterentwickeln.
Wenn wir nicht wollen, dass große Teile der Menschheit weiter verelenden, dann müssen wir für eigenständige ökonomische Entwicklungen einen Ordnungsrahmen schaffen. Wir brauchen eine internationale Innenpolitik, wir brauchen etwas in Richtung Weltregierung, wir brauchen einen internationalen sozialen Ausgleich, wir brauchen eine internationale Umweltpolitik und so weiter. Das Modell, das dafür Pate steht, ist die EU. Die EU hat nur Mitglieder aufgenommen, die demokratische Mindeststandards gewährleisten, dadurch haben sich drei Diktaturen demokratisiert, nämlich Griechenland, Spanien und Portugal, den gleichen Prozess erleben wir zur Zeit in der Türkei. Die EU hat es als einziges internationales Modell geschafft, einen sozialen Ausgleich hinzukriegen, die größten Zuwachsraten finden in den armen Ländern statt. Das ist ein Modell, das zeigt, dass es nicht sofort eine Weltregierung geben muss, sondern dass es einen Prozess geben muss, der eine Stabilität gewährleistet und den Ländern ermöglicht, sich anzuschließen und mitzumachen. Vielleicht auch ein freiwilliger Prozess. Solch ein Ordnungsrahmen bedeutet allerdings auch, das ein militärisches Schutzschild existiert, das die Ordnung gewährleistet. Kein Diktator oder Terrorist darf das nutzen können und seine eigenen Geschäfte betreiben. Was bedeutet das für die UNO? Die hat natürlich eine wichtige Aufgabe in einem solchen Prozess als Keimzelle, die UNO muss natürlich auch demokratisiert werden. Zur Zeit kann jeder Staat Mitglied in der UNO sein, ob er diktatorisch oder demokratisch ist. Das Problem ist: Wenn man Abstimmungen nach Ländergröße einführt, geht ein Viertel der Stimme an China, und China ist eine Diktatur. Deine Kritik am IWF teile ich völlig. Diese Instrumentarien sind hochproblematisch und müssen geändert werden.
Jörn Hartje:
Du spricht von der EU als Modell für einen sozialen Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern und dass das weltweit ausgedehnt werden könnte. Das ist sicher theoretisch möglich. Aber das ist ein Ausgleich zwischen Staaten, was kommt davon bei den einzelnen Menschen an? Grundsätzlich erhöht sich ja auch in der EU und sogar in Deutschland der Abstand zwischen Arm und Reich. Das heißt, es gibt zwei Entwicklungen: Die Reichen und auch der Mittelstand gleichen sich an, aber überall, und das ist eine Entwicklung parallel zur Globalisierung, führt das auch zur Verelendung der Armen. Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung von dieser Entwicklung profitiert.
Karl-Martin Hentschel:
Was sind deine Alternativen zu einem weltweiten Prozess in Richtung Weltregierung?
Jörn Hartje:
Meine Kritik daran, alles auf höchster Ebene, einer Weltregierung, zu entscheiden, ist, dass ich nicht an die Guten auf Regierungsebene glaube. Die Realität ist anders, und ich kann immer weniger Einfluss nehmen. Meine Alternative ist, den Menschen mehr Rechte zurückzugeben, dass man stärker demokratisiert, also die andere Richtung einschlägt. Dazu muss man Prozesse von unten fördern. Entwicklungshilfe kann von oben kommen oder Projekte der Bevölkerung, die von unten kommen, unterstützen. Im Umweltschutz kann man Naturschutzgebiete oder Nationalparks festlegen, man kann aber auch darauf setzen, dass die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes sich dazu entschließt, die Natur zu schützen. Das ist meine Alternative. Das ist kein Widerspruch zur Internationalisierung, internationale Kontakte und Informationsaustausch sind wichtig, aber die Entscheidungskompetenz der regionalen Bevölkerung muss dabei respektiert werden.
Und den Anspruch, dass wir wissen, was ein guter sozialer Standard ist, dass wir wissen, was demokratisch ist, was Menschenrechte sind, wir wissen, was Umweltpolitik ist, den stelle ich sehr in Frage. Sicherlich ist bei uns einiges besser als in diktatorischen Ländern. Aber es ist nicht alles gut, und wir können uns nicht hinstellen, das wird uns auch von vielen Dritte-Welt-Ländern nicht abgenommen, dass wir wissen, wie man es macht. Wir haben ja unsere Umwelt schon weitgehend zerstört. Und natürlich wäre es gut, wenn sie es nicht auch tun. Aber grundsätzlich haben sie das gleiche Recht dazu. Ich finde es gut, wenn sie es nicht auch so machen, aber die Entscheidung darf nicht aufgezwungen werden, wir müssen sie überzeugen.
Gegenwind:
Ist für den sozialen Ausgleich in der EU nicht das Auseinanderklaffen von reichen und armen Ländern eine Voraussetzung?
Karl-Martin Hentschel:
Ich glaube nicht. Wenn man die Zahlen der Weltwirtschaft betrachtet, ist das Problem, dass die armen Länder eher marginalisiert werden. Im Welthandel spielen die armen Länder eine immer geringere Rolle. Eine Rolle spielen sie nur als Lieferanten von Rohstoffen - das ist einmal Öl, wobei man da kaum von armen Ländern sprechen kann, und dann gibt es eine Reihe von kritischen Mineralien, die eine Rolle spielen. Ich glaube aber, dass die industrialisierte Welt in den nächsten hundert Jahren wegen der Knappheit der Ressourcen eine weitgehende Recycling-Wirtschaft wird. Was wir als Grüne immer gefordert haben, eine ökologische Recycling-Wirtschaft insbesondere für metallische Rohstoffe, das wird in den nächsten hundert Jahren kommen. Es ist falsch zu sagen, wenn wir die Dritte Welt nicht hätten, hätten wir keinen Wohlstand. Das stimmt teilweise, aber tendenziell stimmt es immer weniger. Die Lösung ist tatsächlich, dass wir sagen: Alle Menschen haben die gleichen Rechte, alle Menschen haben den gleichen Anspruch auf Ressourcen. Und das ist der Kyoto-Prozess. Das bedeutet, dass die Industrieländer ihren Energieverbrauch in den nächsten 50 Jahren drastisch reduzieren müssen, Deutschland muss achtzig Prozent reduzieren bis 2050, während andere Länder weniger zurück müssen, und die Länder, die noch wenig verbrauchen, haben die Möglichkeit, mehr zu verbrauchen. Das Ziel ist, dass jeder einzelne Mensch in Afrika genausoviel zählt wie jeder Mensch in Europa.
Jörn Hartje:
Das stimmt so nicht. Natürlich ist es so: Jedes Land hat das gleiche Recht, die Umwelt zu verschmutzen, nicht jeder Mensch. Das ist ein gravierender Unterschied. Gerade in diktatorischen Systemen haben die einzelnen Menschen davon überhaupt nichts. Das wäre noch ein Vorschlag, eine Richtung, die in Ordnung wäre, wenn jeder Mensch das Recht hätte. Aber so ist es nicht. Aber selbst in Deutschland ist der Einfluss der einzelnen Menschen sehr gering, ich weiß nicht, wie ich beeinflusse, wieviel Luft ich verschmutze. Vorher war das Recht, Luft zu verschmutzen, Luft zu benutzen, Luft zu atmen frei.
Karl-Martin Hentschel:
Aber das ist doch eine alte Forderung der Umweltbewegung: Güter, die knapp sind, wie Umweltgüter, müssen auch bezahlt werden.
Jörn Hartje:
Das ist keine alte Forderung, das ist eine neue Forderung der ökokapitalistischen Umweltbewegung. Die Forderung führt dazu, dass alles vermarktet wird. CO2-Verbrauch wird vermarktet, Luftverschmutzung wird vermarktet. Die Realität zeigt, gerade im Stromhandel, beim Handel mit Ökostrom, dass es so auf Dauer keinen Ökostrom mehr geben wird, weil die Kleinbetriebe vor dem Aus stehen, von Großbetrieben mit Dumpingpreisen vom Markt gefegt werden. Die vielen kleinen Versender von ökologischen Produkten werden von den Großen aufgekauft, am Ende hat die Ökologiebewegung keinen Einfluss mehr darauf, was ökologisch ist.
Karl-Martin Hentschel:
Die Ökologie gehört nicht der Ökologiebewegung, sie gehört allen Menschen. In Schleswig-Holstein haben wir eine demokratische Regierung, diese Regierung hat es geschafft, dass 20 Prozent unseres Strom mit Windkraft erzeugt werden. Unser Ziel ist, bis 2010 fünfzig Prozent unseres Stroms mit Windkraft und Biomasse zu erzeugen. Jörn Hartje: Aber das ist nicht das Problem. Kommen wir zurück zur Globalisierung: Große Naturschutzverbände gehen inzwischen davon aus, den Naturschutz durch Tourismus zu betreiben, das führt weltweit zur massiven Entrechtung der Einheimischen, der indigenen Völker, der Menschen vor Ort. In Indien werden Menschen vertrieben, um Tiger zu schützen, weil man alles vermarkten will. Strom von Staudämmen ist ökologisch, es werden aber hunderttausende Menschen vertrieben, um den Staudamm zu bauen.
Karl-Martin Hentschel:
Man muss jedes Projekt, auch jeden Staudamm, differenziert bewerten: Ist es wirklich ökologisch, oder enteignet es Menschen und vernichtet Äcker? Aber Kern unserer Diskussion ist: Wir haben weltweite Probleme, darüber sind wir uns einig, durch die Globalisierung. Aber wie wollen wir diese Probleme lösen? Da gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Wege. Der eine Weg ist zurück, Re-Nationalisierung, Re-Regionalisierung, die Globalisierung zurückfahren. Das ist der Weg, wie er auch von rechtsradikalen Gruppen propagiert wird, wie er aber auch von Teilen der Linken gesehen wird: Man muss die Globalisierung bekämpfen. Ich glaube, die Globalisierung kann man nicht bekämpfen, weil sie ein Prozess ist, der völlig unabhängig von dem stattfindet, was wir alle wollen. Niemand kann die Globalisierung stoppen. Je mehr Mobilität es gibt, je mehr Warenaustausch, je mehr Kommunikation, je mehr Internet, je mehr Reisen, desto weniger kann man den Prozess stoppen. Die Lösung besteht nur darin, diesen Prozess zu steuern, den Tiger zu bändigen. Man muss einen politischen Ordnungsrahmen haben, man muss soziale, ökologische Standards weltweit vereinbaren. Da können durchaus kulturelle Unterschiede weiter existieren. Aber es ist richtig, weltweit diese Rahmen zu setzen. Es gibt dafür eine Reihe von Instrumentarien, diese sind zur Zeit ganz wesentlich von den Industriestaaten geprägt. Das beinhaltet auch die Gefahr des Kulturimperialismus. Es kommt darauf an, die Instrumentarien, sei es G7 oder UNO, zu demokratisieren. Alle Menschen müssen den gleichen Einfluss haben.
Jörn Hartje:
Siehst du das als realistisch an?
Karl-Martin Hentschel:
Ich sehe das als den einzigen Weg, der möglich ist. Wenn du einen sozialen Ausgleich machen willst, musst du sagen: Wer soll ihn machen? Wenn du sagst, man soll die Grenzen zumachen, musst du sagen: Wer soll sie zumachen? ATTAC fordert, die Tobin-Steuer einzuführen. Wer treibt diese Steuer ein? Das kann nur eine internationale Organisation sein, die von allen Völkern legitimiert ist. Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen. Das Problem ist nicht die Globalisierung, das Problem ist, dass sich durch die Globalisierung in großen Teilen der Welt Wirtschaftsprozesse nur noch nach dem Motto ablaufen: Wer ist der Stärkere, wer ist der Schwächere. Es existieren keine Autoritäten mehr, die dem kapitalistischen Verwertungsprozess Schranken setzen. Wir müssen diese Autoritäten herstellen.
Jörn Hartje:
Zum Teil unterstellst du mir Forderungen, die ich so nicht aufgestellt habe. Kurz zu den Rechten, die gegen Globalisierung sind: Die sind zwar auch gegen den Prozess, aber sie haben ganz andere Forderungen und Ziele. Die Rechten wollen Nationalstaaten mit Führern, Frauen hinter den Herd, und so weiter. Linke wollen Emanzipation, wollen weg von den Nationalstaaten. Sie wollen, das Grenzen weniger wichtig werden. Was dem zuwider läuft, sind internationale Rahmen, die die Freiheit der Einzelnen einschränken. Es kann nicht darum gehen, einen "Tiger zu bändigen". Denn man kann die Globalisierung nicht isoliert sehen, man muss sich kritisch mit dem Thema Neoliberalismus und Kapitalismus auseinandersetzen. Und was ATTAC fordert mit der Tobin-Steuer, das ist nicht meine Forderung, liegt voll im System des Kapitalismus und würde die Gewinnmaximierung eher stützen. Tobin ist kein Sozialist, sondern ein Kapitalist und fordert diese Steuer, um den Kapitalismus zu fördern. Tobin sagte neulich in einer Veröffentlichung, dass er die Argumente von ATTAC gegen die Globalisierung für totalen Schwachsinn hält und dass das mit seiner Forderung nach der Tobin-Steuer nichts zu tun hat.
Karl-Martin Hentschel:
Was aber nicht dagegen spricht, dass man das aufgreift und fordert.
Jörn Hartje:
Nein, ich sehe aber ein anderes Problem. Ich sehe nicht, dass eine Besteuerung der Gewinne aus Aktien und so weiter den Kern des Problems trifft. Es hilft auch nichts, Offshore-Zentren zu schließen, was ja die zweite Hauptforderung von ATTAC ist. Das sind Forderung, die das Problem höchstens marginal verändern können. Erstaunlich ist, dass ATTAC so große Mobilisierungserfolge hat, und das muss alle Linke aufhorchen lassen. Aber ATTAC führt zu einer starken Entpolitisierung der Globalisierungsgegner, es gibt keine kritische Haltung mehr gegenüber Neoliberalismus und Kapitalismus, sondern es gibt nur noch wenige Forderungen, die voll im System liegen. Es gibt nicht nur keine grundsätzliche Kritik mehr, die wird sogar ausgeschlossen. Verschiedene Organisationen wurden bei ATTAC ausgeschlossen, ATTAC hat - auch mit den Vorwurf der Gewaltanwendung - die Anti-Globalisierungs-Bewegung gespalten. Ich bin kein Freund von gewalttätigem Widerstand, aber man muss immer sehen, von wem die Gewalt ausgeht. In Göteborg oder Genua ging die Gewalt schwerpunktmäßig von den Sicherheitskräften aus. ATTAC ist eine neue Form von NGO, völlig undemokratisch, ohne gewählte Führung, die aber alles entscheidet, die Ortsgruppen können dann mitmachen. Organisationen der Globalisierungskritik, die von unten gewachsen sind, sind größtenteils nicht bei ATTAC dabei.
Karl-Martin Hentschel:
Ich kenne die inneren Strukturen von ATTAC nicht. Ich stelle aber fest, dass diese Organisation in der Debatte eine entscheidende Rolle spielt. Das liegt daran, dass die Tobin-Steuer einen zentralen Punkt trifft, nämlich die freie Beweglichkeit von Kapital. Mit der freien Beweglichkeit von Kapital werden weltweit alle Schranken eingerissen. Für Geldströme gibt es keine Grenzen mehr. Die durch Spekulation erzeugten Währungsschwankungen sind so groß, dass ganze nationale Wirtschaften zusammenbrechen. Anschließend hungern Millionen von Menschen. Deshalb ist es ein zentraler Punkt, die Finanzströme zu steuern. Natürlich ist die Kontrolle der Finanzströme nur ein Problem. Die Kontrolle der Rohstoffströme, die Kontrolle der Agrarpreise sind natürlich genauso entscheidend. Und natürlich die politischen Kontrolle von Waffen und vom Militär. Die Tobin-Steuer ist nur ein Punkt, allerdings von wichtiger Bedeutung. Zum Widerstand: Jede Veränderung in der Welt braucht politische Bewegung. Ich habe mein Leben lang an politischen Bewegungen teilgenommen. Politische Bewegungen von der Basis haben in allen Ländern der Welt eine enorme Bedeutung. Aber das Ziel von politischen Bewegungen ist immer, politisch etwas zu verändern. Also Einfluss auf diejenigen zu nehmen die regieren. Auf das Umsetzen lege ich einen entscheidenden Wert.
Jörn Hartje:
Aber dieser Ordnungsrahmen für die Wirtschaft, wie du ihn in Deutschland siehst und für die Welt wünscht, ist ja auch nicht so, wie du ihn darstellst. Er wird ja immer weiter aufgeweicht. Da gibt es ja auch eine linke Bewegung, die die Deregulierung stoppen will. Ich will keine Regulierung, aber diese Deregulierung führt dazu, dass alle erreichten Standards runtergefahren werden. Auch international werden ja nicht mehr Standards eingeführt, sondern es wird auch dereguliert.
Karl-Martin Hentschel:
Da hast du völlig recht. Ich glaube auch, der Deregularismus hat seine Spitze überschritten. Guck doch in die USA: Die haben durchgesetzt, dass die Schweizer Banken, in der Welt Nummer eins beim Bankgeheimnis, über jeden US-Bürger Daten für die US-Steuer liefern, damit die Leute sich nicht vor der Steuer drücken können. In Deutschland wird es noch toleriert, dass die Menschen sich vor der Steuer drücken. Die deutschen Banken liefern den deutschen Behörden keine Kontroll-Mitteilungen, an die US-Behörden liefern sie diese Mitteilungen. Das ist absurd, deshalb haben wir als erstes deutsches Parlament hier in Schleswig-Holstein vor einem Monat die Aufhebung des Bankgeheimnisses gefordert. Der Neoliberalismus ist nicht der Weg, mit dem man die Welt ordnen kann.
Jörn Hartje:
Um noch mal auf den Widerstand zu sprechen zu kommen: Veränderung braucht Widerstand, sonst verändert sich nichts. Gerade der Globalisierungswiderstand war aber anfangs stark kapitalismus-kritisch, sehr stark basisorientiert, ohne zentrale Strukturen. Dieser Widerstand, der zuletzt in Genua sichtbar wurde, ging von den Zapatistas in Mexico aus, die die Global Action Groups und die Global Action Days initiiert haben. Da ist es fatal, wenn eine Organisation wie ATTAC eine Spaltung betreibt. Das ist das Problem der deutschen Linken: Wir schaffen es nicht, gegen die Globalisierung auch kapitalismuskritisch vorzugehen. Das einzige, was im Moment übrig geblieben ist, ist ATTAC.
Karl-Martin Hentschel:
Wir brauchen eine weltweite politische Ordnung, eine ökonomische Ordnung, eine Finanzordnung, eine Umweltordnung. Um dahin zu kommen, muss ich internationale Organisationen stärken, aber ich brauche auch eine weltweite Bewegung. Das Abkommen von Kyoto ist Ergebnis einer weltweiten Umweltbewegung über 30 Jahre. Wir brauchen noch mehr solche Prozesse, Stichwort UNESCO, Welthungerhilfe oder die Bewegung gegen Landminen. Das sind Bewegungen, aber nicht nur Basisbewegungen. Ich nenne beispielsweise Greenpeace, die sehr hierarchisch organisiert sind, das ist auch notwendig. Bestimmte Aktionen kann man nur in solchen Organisationen vorbereiten, aber du brauchst auch Basisorganisationen wie BUND oder NABU. Ziel bleibt es aber in jedem Fall, auf die politischen Ebenen, auf die Regierungen Einfluss zu nehmen. Der Weg ist, von Vereinbarung zu Vereinbarung einen Ordnungsrahmen herzustellen, der Frieden schafft und Gerechtigkeit. Das Beispiel Europa zeigt, das muss ein freiwilliger und friedlicher Prozess sein.
Jörn Hartje:
Der Prozess ist friedlich und freiwillig von den Regierenden, aber nicht unbedingt von der Bevölkerung. Die hat wenig Einflussmöglichkeiten. Ein besonders krasses Beispiel ist der Afghanistan-Krieg: Die Bevölkerung hat keinen Einfluss, nicht einmal die Parteien haben Einfluss darauf. Ich glaube nicht an das Positive in diesem Ordnungsrahmen, bisher haben alle diese Ordnungsrahmen zu einer stärkeren Globalisierung und einem stärkeren Neoliberalismus geführt. Das Kyoto-Abkommen, die Agenda 21 führen am Ende dazu, das bisherige System zu stützen. Der Kapitalismus merkt auch, er kann nicht alles machen, sonst wird er irgendwann kollabieren, weil es zuviel Widerstand gibt. Deshalb werden Menschenrechte und Umweltstandards mit eingebaut.
Karl-Martin Hentschel:
Aber es kann doch nicht deine Idealvorstellung sein, dass der Kapitalismus kollabiert. Wir hängen doch von Gas, Wasser, Strom ab, und ohne das würden wir in die Steinzeit zurück gehen, wie das in Afghanistan passiert ist.
Jörn Hartje:
Nein, das stimmt so nicht. Selbst im Kapitalismus gibt es Bereiche, die nicht-kapitalistisch ablaufen. Beispiel Linux. Das ist absolut anarchistisch organisiert, hat nicht mit Kapitalismus zu tun, ist ohne Verwertung, international, globalisiert, es funktioniert. Man kann also nicht sagen, dass es jenseits von Kapitalismus nichts gäbe. Es gibt auch einen Wissenschaftsbetrieb, der nichts mit Kapitalismus zu tun hat. Das ist der Fehler, dass es nicht erlaubt ist, Kritik an Kapitalismus, Kritik an Globalisierung, Kritik an Neoliberalismus zu üben.
Karl-Martin Hentschel:
Doch, aber mit welchem Ziel?
Jörn Hartje:
Sicherlich ist es unrealistisch, heute oder morgen Kapitalismus und Neoliberalismus abzuschaffen. Aber Ansätze gibt es zur Demokratisierung. Es gibt die Demokratiekampagne in Schleswig-Holstein. Es gibt bundesweit die Forderung nach Volksentscheiden. Es gibt viele regionale Initiativen, die auch dazu führen, dass viel eigenes Engagement der Bevölkerung freigesetzt wird. Das hat nichts mit Kapitalismus zu tun, aber es führt nicht in die Steinzeit. Aber den meisten Leuten fehlt eine Perspektive außerhalb des Kapitalismus, weil sie im Kapitalismus aufgewachsen sind.
Karl-Martin Hentschel:
Das stimmt so nicht. 50 Prozent unseres Bruttosozialproduktes werden über den Staat umverteilt. Wir leben genau in der Mitte zwischen reinem Kapitalismus und Sozialismus. Wir leben in einer Gesellschaft, wo Geld nicht alles bestimmt.
Jörn Hartje:
Aber immer mehr.
Karl-Martin Hentschel:
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine falsche Richtung abrutschen. Aber wir haben Sektoren in der Kultur, in der Politik, die ein Eigenleben führen. Wir haben einen Sozialstaat, der auch Menschen, die nichts tun, gewährleistet, dass sie weder hungern noch frieren müssen.
Jörn Hartje:
Aber die Erfahrung zeigt, dass das nicht haltbar ist. Für alle Staaten, nimm Deutschland oder Schweden, gibt es einen Punkt, wo die Entwicklung umkippt und dann in eine Richtung geht, die man Neoliberalismus nennt.
Karl-Martin Hentschel:
Das stimmt nicht. Schweden hat gemerkt, wenn man 100 Prozent Arbeitslosengeld oder Krankengeld bezahlt, kommt man zu einem Punkt, wo die Leute keine Lust mehr haben zu arbeiten. Da muss man ein bisschen nachsteuern. Schweden hat nachgesteuert, aber hat immer noch einen wesentlich ausgebauteren Sozialstaat als wir.
Jörn Hartje:
Aber die Entwicklung ist doch, dass alle Initiativen von Bürgern immer stärker an den Kapitalismus herangeführt werden. Was früher Schüler-AGs waren, sind heute Schüler-Firmen. Es wird alles verwertet.
Karl-Martin Hentschel:
Die Kritik erinnert mich an die Kritik an der Anti-Atom-Bewegung Mitte der siebziger Jahre, als es hieß, die ist nicht politisch. Die Linke hatte nicht begriffen, dass eine neue Art von sozialer Bewegung entstand. Vielleicht ist dein Problem mit ATTAC ähnlich, vielleicht begreifen wir alle zusammen nicht den Charakter der neuen sozialen Bewegung, die gerade entsteht. Ich glaube, es entsteht eine neue internationale Bewegung, die mindestens die Qualität von 1968 hat und ihren Höhepunkt erst in zehn Jahren haben wird. Sie wird die Frage der Einen Welt zu ihrem Thema machen.
Jörn Hartje:
Du vermischt da zwei Sachen. Es ist ja nicht so, dass die Bewegung unpolitisch war, sondern es ist gezielte Strategie von ATTAC mit Unterstützung von Medien wie der taz die Bewegung "von oben" zu entpolitisieren. Die Basisgruppen sind ja häufig noch etwas kapitalismuskritischer, sie haben aber nichts zu melden. In Deutschland und Frankreich verhindert eben ATTAC als Organisation eine Bewegung von unten, die es ja in Ansätzen gab. In anderen Ländern sieht das ganz anders aus. In Indien zum Beispiel gibt es Peoples Global Action (PGA), die Millionen Menschen auf die Beine bringen.
Karl-Martin Hentschel:
Ich vermische gar nichts, mir ist die aktuelle Organisationsform egal. Es geht um eine Bewegung, die in verschiedenen Teilen der Welt entsteht. Allen geht es um eine Steuerung, ich habe gesagt, den Tiger zu reiten. Diese Bewegung bildet sich weltweit, wir hatten im April 2001 die Weltkonferenz der grünen Parteien mit 80 Parteien, auch da ist genau diese Debatte geführt worden. Das ist hier hierarchisch organisiert, woanders basisdemokratisch, aber die Bewegung hat ein Ziel. Und das heißt, die Globalisierung positiv zu gestalten. In diesem Prozess befinden wir uns, und wir wissen nicht, wie er laufen wird.
Jörn Hartje:
Aber es gibt Gruppen, die den Globalisierungsprozess gestalten wollen im System, und andere, die etwas ändern wollen am System. Auch da gibt es viele Unterschiede, aber eben einen entscheidenden Unterschied. Und den muss man benennen, man kann nicht alles gleich machen.
Karl-Martin Hentschel:
Ich glaube, das ist kein Gegensatz. Es gibt immer eine Arbeitsteilung. Es gibt die einen, die machen Basisgruppen, andere gründen politische Parteien. Andere nutzen ihren Einfluss in Regierungen und setzen Machtinstrumente ein. Du kannst auf allen Ebenen an gleichen Zielen arbeiten. Die Frage ist: an welchem Ziel arbeite ich, wie formuliere ich das. Die spannenden Diskussionen gehen nicht um die Organisationsform, sondern um die politischen Ziele, und zwar nicht die Fernziele, sondern die Nahziele.
Gegenwind:
Vielen Dank.
Das Streitgespräch moderierte Reinhard Pohl.