(Gegenwind 122, November 1998)

Zwangsarbeiter in Lübeck

"Ich erinnere mich nur an Tränen und Trauer"

"Wer erinnert sich nicht... Als unliebsame Gäste zeigten sich Tausende von Ausländern, die die Fürsorge der Militärregierung ausnutzten. Wohnungen und das gesamte Mobiliar mussten herausgegeben werden. Die Fußböden als Feuerholz verbrannt, Schränke als Kaninchenställe benutzt, Frauen und Mädchen Freiwild, fast kein Tag ohne Mord und Kapitalverbrechen."

So erinnerte sich Lübecks ehemaliger Bürgermeister Otto Passarge zehn Jahre nach Kriegsende in einer Jubiläumsbroschüre des Senats.

Auch weiten Teilen der Lübecker Bevölkerung ist auf die Frage nach den Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges lediglich die unruhige Zeit unmittelbar nach Kriegsende in Erinnerung. Keiner fragte sich, wie diese "unliebsamen Gäste" denn überhaupt nach Lübeck gekommen waren. Die Legenden von plündernden und mordenden "Polenbanden" leben bis heute weiter.

Wie andernorts auch hat die Nachkriegsgesellschaft in Lübeck bis heute größte Probleme, mit ihrer Vergangenheit im "Dritten Reich" umzugehen. Zu schmerzlich sind die Erinnerungen an eigenes Leid, zu schamvoll das Gefühl des Unrechts, das den europäischen Nachbarn angetan wurde.

Aus fast allen von den Deutschen besetzten Ländern Europas wurden während des letzten Krieges Millionen von Menschen zum "Arbeitseinsatz" nach Deutschland verschleppt. Gewaltsam wurden Frauen, Männer und Kinder aufgegriffen, in Güterwaggons verfrachtet und zum "Arbeitseinsatz" in ihre Bestimmungsorte transportiert. Deutsche Soldaten ließen sich dabei zu Werkzeugen eines gewaltigen Verbrechens machen. Die grauen Uniformen sind vielen Opfern dieses Verbrechens unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Ihr Auftauchen bedeutete für sie den Verlust ihrer Jugend und ein Joch fürs Leben. "Ich erinnere mich nur an Tränen und Trauer...", dieser Satz, der uns von zahlreichen Opfern zugetragen wurde, könnte sicher auch von Deutschen so ausgesprochen werden, sofern sie sich erinnerten. Doch die meisten Deutschen wehren sich - selbst nach 50 Jahren Abstand zu den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland - noch immer, sich dessen zu erinnern.

Mit nüchternem Kalkül planten die verantwortlichen Beamten in den zuständigen Ämtern und Ministerien des Deutschen Reiches schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges den massenhaften Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie. Zunächst wurden hauptsächlich Kriegsgefangene aus den Polen- und Frankreichfeldzügen dazu rekrutiert. Mit den steigenden Einberufungen deutscher Arbeitskräfte zur Wehrmacht wurden jedoch in gleichem Maße Millionen von Zivilpersonen aus den besetzten Ländern ausgehoben und zum Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich deportiert. Während des Kriegs gab es nicht einen Ort in Deutschland, in dem keine Zwangsarbeiter/innen eingesetzt waren. Der "Ausländereinsatz" in der deutschen Rüstungsindustrie ist die Seite des Krieges, die jedermann direkt vor der eigenen Haustür wahrnehmen musste.

Auch nach Lübeck kamen in diesen Jahren Zehntausende verschleppter Menschen aus dem benachbarten Ausland. Es handelte sich im allgemeinen um Jungen und Mädchen zwischen 16 und 20 Jahren, die unter härtesten Lebens- und Arbeitsbedingungen in Lübecker Betrieben Waffen produzieren mussten.

Erst seit etwa Mitte der achtziger Jahre ist das Schicksal der zur Arbeit ins Deutsche Reich verschleppten Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeiter Thema einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Die meisten - vor allem die jüngeren - Menschen wissen allerdings bis heute wenig oder nichts darüber.

Auch in Lübeck rührten in dieser Zeit einige kritische Leute an diesem Tabuthema, hinterfragten die Rolle Lübecker Unternehmen während des Zweiten Weltkrieges; doch es verging mehr als ein Jahrzehnt, bevor Bewegung in die Sache geriet.

In der Nachfolge einer längeren Diskussion um einen Lübecker Industriellen fasste im September 1994 die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck auf Antrag der SPD den Beschluss, die Geschichte der während des Zweiten Weltkrieges nach Lübeck verschleppten ZwangsarbeiterInnen untersuchen zu lassen und damit das Schicksal dieser Gruppe von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft für Lübeck der Vergessenheit zu entreißen. Mit der Durchführung wurde die Geschichtswerkstatt Herrenwyk beauftragt. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war eine Ausstellung, die vom 4. Mai 1997 bis zum 1. Februar 1998 mit großem Erfolg in der Geschichtswerkstatt Herrenwyk gezeigt wurde. Zur Eröffnung wurden auch ehemalige Zwangsarbeiter/innen aus der Ukraine und Polen eingeladen. Stellvertretend für alle Opfer trug sich Elena Mogilnaja aus Belaja Cerkow bei einer Audienz im Rathaus ins Goldene Buch der Stadt ein.

Bei einer äußerst schwierigen Quellenlage war es eine mühselige Arbeit, aus den wenigen Akten und Randnotizen ein anschauliches Bild von den Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen herauszuarbeiten. In den Archiven der Verwaltung und der verantwortlichen Betriebe sind kaum Akten darüber überliefert. Die Suche nach Zeitzeugen in der Stadt gestaltete sich nicht sonderlich ertragreich. Zunächst machte es große Mühe, die örtliche Presse dazu zu gewinnen, das Anliegen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Auf zahlreiche Aufrufe in der Zeitung gab es nur wenig Resonanz. Und die Hälfte der Anrufer bemerkte, wir sollten und lieber über wichtigere Dinge Gedanken machen, z.B. das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen und Vertriebenen aufarbeiten. Eine Handvoll Lübecker immerhin trugen uns ihre Beobachtungen aus dieser Zeit vor.

Für die meisten Lübecker war die Anwesenheit Tausender fremder Menschen aus halb Europa allerdings wohl nur eine kurze Episode, eine Randerscheinung der schrecklichen Kriegsjahre. In der Endphase des Krieges verstärkten die Nöte und Probleme des eigenen Daseins die ohnehin existierende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Ausländer/innen und dem rassistischen Alltag. Im Rückblick gehörten die Zwangsarbeiter/innen zum privaten Alltag des Krieges. Einer Erscheinung, der man damals wie heute keine allzu große Beachtung zu schenken vermag.

Die bedeutendste Quelle für unsere Recherchen wurden so die Lebensberichte von mehreren hundert ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, vor allem aus Osteuropa, die wir über eine groß angelegte Fragebogenaktion erreichten. Sie schilderten uns ihre beklemmenden Erlebnisse und trugen so ein wenig Licht in dieses dunkle Kapitel unserer Stadtgeschichte, von der wir ohne diese nur sehr wenig hätten nachzeichnen können: Es ist schon beängstigend, wie ohne Erinnerung ganze Zeitumstände aus dem Bewusstsein verschwinden können.

Die Ausstellung war sicherlich eine interessante Anregung, sich mit der Stadtgeschichte unter neuen Aspekten zu beschäftigen; sie hat vor allem viele Besucher wachgerüttelt, ihre Stadt einmal mit anderen Augen zu betrachten. Die Resonanz auf die Ausstellung und ein Begleitprogramm mit Führungen zu Stätten der Zwangsarbeit war durchaus beachtlich. Zur Eröffnung kamen mehr als 200 Besucher, in ihrem Verlauf annähernd 2500. Darunter waren 39 Gruppen und Schulklassen mit 704 Teilnehmern/innen. Gerade die Schüler/innen, die sich mit dem Thema grundsätzlich schon im Unterricht befasst hatten, wunderten sich über den Umfang und das Ausmaß von Zwangsarbeit und die teilweise menschenverachtenden Lebens- und Arbeitsbedingungen: "Das waren ja Zustände wie im KZ." Das gilt in noch stärkerem Maße für ältere Besucher, die selbst Zeitzeugen/innen hätten sein können. Sehr viele waren erschüttert, weil sie das Schicksal der sogenannten "Fremdarbeiter" ganz anders oder gar nicht wahrgenommen hatten. Viele Besucher bezeugten mit ihren Beiträgen im Besucherbuch, dass die Darstellung dieses Kapitels der Stadtgeschichte und des Schicksals der vielen Opfer allen Menschen der Stadt nähergebracht werden müsste. Auch in Anbetracht der aktuellen rechtsradikalen Strömungen bedarf es dieser Kenntnis.

Die Ergebnisse dieser Forschung mündet zunächst in einer stadtteilintegrierten Gedenkstätte in Herrenwyk, einem ehemaligen Industriestandort, an dem viele hundert Zwangsarbeiter eingesetzt waren. Bei der Stadt überlegt man ferner über die Aufstellung von Gedenktafeln und der Konzeptionierung neuer Stadtrundgänge auch zu dieser Zeit. Möglicherweise lässt sich eine Unterrichtseinheit für die Schulen erstellen. Es gibt viele Möglichkeiten, in diesem Steinbruch weiter zu arbeiten. Die Erforschung wird weitergehen. Rund zwei Dutzend Forscher sind in Schleswig-Holstein mit dem Thema beschäftigt und stehen auch im Austausch miteinander. In Lübeck wollen wir demnächst beispielsweise eine vorhandene Ausländerkartei statistisch auswerten und die weiteren Erkenntnisse auch publizieren. Vielleicht kommt diese Geschichte durch den Druck der momentanen öffentlichen Diskussion um eine Entschädigung eine neue Dynamik. Vielleicht wird es zu einer Kontaktaufnahme mit weiteren ehemaligen Zwangsarbeitern kommen. Auf alle Fälle darf dieses Kapitel der Stadtgeschichte nicht wieder zwischen den vielen Seiten einer allgemeinen Stadtgeschichte verschwinden. Doch dazu bedarf es des Engagements und des wachen Bewusstseins. Die neueste Ausstellung im Burgkloster über das Schicksal der "Exodus-Juden", die eine Schülergruppe der Geschwister-Prenski-Schule erarbeitete, zeigt, dass es Initiativen vor Ort gibt und die Anerkennung und Beachtung dieser Arbeit zeigt, dass sich diese Engagement auch lohnt.

Christian Rathmer



Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).

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