(Gegenwind 122, November 1998)

Interview mit Karl Otto Meyer:

"Es ging nicht um Pflicht und all diese schönen Worte..."

Karl Otto Meyer ist bekannt geworden als langjähriger Abgeordneter des SSW im schleswig-holsteinischen Landtag. Geboren 1928, wurde er 1944 zum Kriegsdienst zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Anfang 1945 desertierte er und ging zum dänischen Widerstand. 1952 sprach er sich gegen die Remilitarisierung Deutschlands aus. Er wollte nicht dem Staat, sondern dem Prinzip von Demokratie und Gerechtigkeit Loyalität schwören - und bekam erst nach zweijährigem Berufsverbot als Lehrer vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg Recht.

Gegenwind:

Wann wurdest du eingezogen?

Karl Otto Meyer:

Das war im November 1944, zunächst zum Reichsarbeitsdienst im Wehrmachtseinsatz. Hitler machte das ja, um die Leute früher einziehen zu können. Da kriegten wir die Grundausbildung als Panzergrenadier. Wir kamen nach Polen.

Gegenwind:

Wie weit war das damals von der Front entfernt?

Karl Otto Meyer:

Ach, die war noch östlich von Warschau. Ich glaube, am 15. Januar bin ich desertiert, und am 16. Januar ist Warschau dann gefallen - nicht, weil ich desertiert bin, natürlich.

Gegenwind:

Das war also eine Ausbildungseinheit. Und wie sollte es danach an die Front gehen?

Karl Otto Meyer:

Wir kriegten Fronturlaub, wurden wieder nach Hause geschickt, und zu Hause bekamen wir dann den neuen Befehl. Mein Gestellungsbefehl lautete Iserlohn an der Westfront. Und da bin ich dann abgehauen.

Gegenwind:

Wie weit war es denn den Eingezogenen bekannt, welche Art Krieg im Osten geführt wurde?

Karl Otto Meyer:

Ich kann von drei Situationen erzählen, die wir alle gesehen haben. Erste Situation: Wir marschieren in Polen durch ein Dorf, ein polnischer Arbeiter zieht nicht die Mütze ab vor einem Offizier, wird geschlagen vom Offizier. Zweite Situation: Ein Pole fährt mit dem Fahrrad vorbei, zieht nicht die Mütze ab, wird vom Fahrrad gezogen und geschlagen. Dritte Situation: Ein Pferdegespann mit einem Bauern und seiner Frau fährt vorbei, er zieht nicht die Mütze ab, ihm wird die Peitsche weggenommen und er wird geschlagen. Alle haben das gesehen, über all das wurde natürlich gesprochen. Ich war der einzige aus der dänischen Minderheit in der Kompanie, und es überraschte mich, dass auch die Deutschen sehr empört waren über diese Sachen. Und es wurde auch sonst darüber gesprochen. Viele hatten ältere Brüder, die einige Jahre schon Soldat gewesen waren und die berichtet hatten, was draußen passierte. Alle wussten, was passierte, wenn ein Land besetzt war. Ich war ja vorher in Dänemark in die Schule gegangen, seit August 1944 ins Gymnasium in Sonderburg. Am 19. September erlebte ich den Fliegeralarm in Sonderburg, 12 Uhr mittags. Alle Polizisten sollten bei Fliegeralarm auf der Station sein, und dann kamen deutsche Soldaten und haben alle Polizisten verhaftet - und ab ins KZ. Das habe ich ja selbst miterlebt, diese Sauerei, als die ganze dänische Polizei durch falschen Luftalarm verhaftet wurde. Nicht alle, einige kamen noch weg, aber sechzig Prozent kamen ins KZ. Es wussten also viele, dass dieser Krieg ein Unrechtskrieg war, ein Angriffskrieg, ein Verbrechen.

Gegenwind:

Waren auch die Unterschiede bewusst, zum Beispiel zwischen der Besetzung Dänemarks und der Besetzung der Ukraine?

Karl Otto Meyer:

Für mich ja. Was ich in Polen gesehen hatte, wie Menschen geschlagen wurden, das geschah ja in Polen und nicht in Dänemark. Ich war zwar in Kopenhagen gewesen und kannte einen Arzt, der nie zu Hause geschlafen hat - denn wenn ein Sabotageakt stattfand, dann wurden zur Vergeltung zivile Dänen erschossen, und in Odense hatten sie vier Ärzte auf einmal erschossen. Das hatte ich erlebt, aber ich wusste trotzdem, dass der Unterschied zwischen dem besetzten Dänemark und der Ukraine oder Polen enorm groß war. Hitler wollte ja Ruhe haben in seiner Speisekammer, die Speisekammer war Dänemark.

Gegenwind:

Wie ging es praktisch vor sich mit dem Desertieren?

Karl Otto Meyer:

Ich habe mir das schon in Sonderburg, bevor ich eingezogen war, immer überlegt. Es gab da einige Lehrer, die hatten schon gesagt: Karl Otto, wenn du weg willst, sag bescheid, wir sorgen dafür, dass du nach Schweden kommst oder in den Untergrund. Die anderen Lehrer sagten, das darfst du nicht, wenn du das tust, dann werden deine Eltern bestraft oder der dänische Schulverein, denn die hatten mich empfohlen, dass ich eine Ausreiseerlaubnis kriegte und in Dänemark zur Schule konnte. Ich musste schwer mit mir ringen, bis ich zur Erkenntnis kam, dass es zu gefährlich wäre für die Minderheit und für meine Eltern. Aber als ich dann alles in Polen sah, die drei Beispiele, da musste ich erkennen, dass ich jetzt mitverantwortlich war, obwohl ich nicht beteiligt war. Aber ich stand dabei, in einer deutschen Uniform und mit einer Waffe und habe nichts getan. Ich hätte mich ja mindestens neben den Geschlagenen stellen müssen, aber was hätte das geholfen? Er wäre trotzdem geschlagen worden, und ich wäre hops gegangen. Aber für mich war klar, wenn du zurück bist in Flensburg, dann nutzt du die Chance und die Kontakte, um über die Grenze zu kommen. Als der Gestellungsbefehl kam, sagte ich meinen Kontaktleuten, ich bin bereit abzuhauen. Meine Schwester war damals eingezogen zur Rüstungsindustrie in Hamburg, ich sollte mich am nächsten Morgen um 10 Uhr in der Kaserne in Flensburg einfinden. Abends sagte ich zu meinen Vater, der stand draußen und schaufelte Schnee, das war am 14. oder 15. Januar, ich gehe jetzt und komme, wenn ich zurückkomme, erst, wenn der Krieg vorbei ist. Er wusste bescheid. Es gab dann zwei Lehrer, die mir geholfen haben, über die Grenze zu gehen. In Dänemark traf ich einen dänischen Offizier und kriegte meine neuen Papiere. Zuerst hieß ich Knud Magnussen, damit die Initialen auf der Wäsche und so noch stimmten, später hieß ich Magnus Knudsen, also umgekehrt, und als ich meine Identität wieder wechseln musste, hieß ich Knud Hansen.

Gegenwind:

Was hast du im Widerstand gemacht?

Karl Otto Meyer:

Da passierte ja nichts, keine Anschläge oder sowas. Ich habe Kurierdienste geleistet, Waffen verteilt an andere Gruppen oder Waffen versteckt. Aber ich habe keine Anschläge gemacht. Nicht, dass ich dazu nicht bereit war, ich hätte das auch gerne eingeräumt. Deutsche Politiker haben mich auch gefragt, du hast doch nicht etwa auf deutsche Soldaten geschossen. Ich sage, dass ich auf keinen Menschen schießen will, ob er Deutscher, Franzose oder Pole ist. Aber wenn ich schießen würde, dann würde ich schießen für die Demokratie und nicht für die Diktatur.

Gegenwind:

Die Diskussion über Deserteure dauert ja bis heute an. Ich denke an die Diskussion über ein Denkmal für Deserteure, oder auch die Äußerung von Ingo Stawitz von der faschistischen DLVH im Landtag über "alliierten Terror".

Karl Otto Meyer:

Ich habe mich als Chefredakteur von Flensborg Avis und als Politiker dafür eingesetzt, dass wir einen Gedenkstein für verurteilte Deserteure errichten sollten. Das ist zuletzt im April in der Stadtvertretung von Flensburg abgelehnt worden. Ich habe auch im Landtag gesagt, es ist eine Schande, dass verurteilte Deserteure noch immer als Kriminelle geführt werden. Die sind ja erst jetzt im Juli 1998 rehabilitiert worden. Das ist wirklich eine Schande für Deutschland! Die Deserteure mögen ja ganz verschiedene Motive gehabt haben. Aber die meisten desertierten ja, weil sie nicht länger Hitler dienen konnten. Und das muss man absolut positiv beurteilen. Damit sage ich nichts Negatives geegenüber den Soldaten, die ihren Wehrdienst geleistet haben. Die meinten ja, sie tun ihre Pflicht - ich glaube, die meisten haben gewusst, dass das nicht Pflicht war. Aber jeder muss wissen: Die Wehrmacht war mit verantwortlich für das, was passierte. Der einzelne Soldat nicht, aber die Wehrmacht als Wehrmacht. Die Wehrmacht hat ganz genau gewusst, dass der Krieg, den man begann, ein Angriffskrieg war und ein Verbrechen. Man wusste, dass es nicht darum ging, die Heimat zu verteidigen, sondern darum, zu erobern und zu unterdrücken. Wenn man das erkennt, hat man nicht gesagt, dass die 18 Millionen Soldaten Verbrecher waren. Aber jeder ist mitverantwortlich, und aus diesem Grunde lehne ich ja auch die unbedingte Loyalität ab. Das habe ich 1952 auch öffentlich gesagt, da bekam ich zwei Jahre Berufsverbot als Lehrer, aber das waren meine Erfahrungen als Sechzehnjähriger: Ich bin mitverantwortlich für das Verbrechen, und deshalb muss ich desertieren. Und zu Stawitz im Landtag habe ich ja gesagt: Komm du morgen mit deiner Armbinde, für die du jetzt sprichst, dann komm ich morgen mit meiner Armbinde, mit der Armbinde des dänischen Widerstands. Die hängt hier in der Stube. Diese Herausforderung hat er nicht angenommen.

Gegenwind:

Warum fällt es zum Beispiel dieser Stadtvertretung so schwer, Deserteure anzuerkennen? Wozu wird diese Unterscheidung gebraucht zwischen einer SS, die Verbrechen begangen hat, und einer Wehrmacht, die sauber geblieben sei?

Karl Otto Meyer:

Ich glaube, dass man Angst davor hat, dass alle, die gedient haben, die 18 Millionen, oder deren Angehörige, dass die dann das Gefühl kriegen, wir haben Unrecht getan. Das andere ist die Angst der Militärs, das hat man mir auch 1952 in der Urteilsbegründung in Schleswig gesagt, als ich meinen ersten Prozess verloren habe, den ich erst in Lüneburg gewann: Es geht nicht an, dass der einzelne Mensch entscheiden kann,was Freiheit und Recht ist. Meine Behauptung war ja, du kannst nicht loyal sein gegenüber einem Staat; du kannst nur loyal sein gegenüber Freiheit und Recht. Für mich steht Gewissensfreiheit höher als Gesetze oder Loyalität. Das wurde ja auch in der Minderheit sehr verschieden gesehen. Hier hieß es immer, wir sollten als Minderheit besonders loyale Staatsbürger sein. Man vergaß immer die Konfliktsituation für die einzelnen Menschen, wenn sie eingezogen werden und dann dort stehen.

Bei den meisten waren die Gründe aber viel einfacher. Mein Bruder ist fünf Jahre älter als ich, Jahrgang '23. Als er 1944 zu Hause war, auf Urlaub, sagte ich: Henry, ich habe eine Adresse in Dänemark, da werden sie dir helfen. Willst du über die Grenze? Da sagte er zu mir: Wie groß sind meine Chancen zu überleben? Ich konnte das nicht sagen, ich hatte nur diese Adresse damals. Er sagte, die Chance ist mir zu klein. Ich habe zweieinhalb Jahre in der Scheiße gelegen, ich will jetzt überleben, das kann nicht mehr lange dauern. Er ist dann gefallen, am 22. Dezember 1944.

Aber er sprach nicht von Pflicht, von Loyalität, von der Heimat, all diese schönen Worte. Er sprach nur vom Überleben. Meine Chance war einfach viel größer. Ich hatte dann Leute, die mir über die Grenze halfen, ich hatte einen Offizier des dänischen Widerstands, der Papiere hatte. Den meisten ging es nur ums Überleben. Das war ja das Problem, dass man weitermachte, um zu überleben, und dadurch musste man das Unrecht mitmachen und stand gegen Freiheit und Recht. Ich habe einmal mit meiner Mutter darüber gesprochen, dass ich weg wollte. Da sagte meine Mutter zu mir, du musst deine Pflicht tun. Ich sagte, Mutter, komm mir doch nicht mit so einem Blödsinn. Wie kommst du auf Pflicht, du hast doch selbst die Nazis rausgeschmissen, als sie in unser Haus kamen und sagten, wir sollten die Hitler-Fahne raushängen. Da sagte meine Mutter, ja, du hast recht. Aber wenn du flüchtest, dann weiß ich nicht, wo du bist. Wenn du eingezogen bist, weiß ich, wo du bist, und kann in Gedanken bei dir sein. Aber wenn du flüchtest, weiß ich nicht, wo du bist, ich weiß nicht, ob du im Gefängnis sitzt, ich weiß nicht, ob du schon getötet worden bist. So denkt eine Mutter, da geht es auch nicht um Pflicht oder all diese feinen Begriffe wie Vaterlandsliebe.

Das Interview führte Reinhard Pohl.



Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).

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