(Gegenwind 122, November 1998)
Das ist eine Erfahrung, über die Max Frisch in seinen Tagebüchern nachdenkt. "Geschichte" hat dabei einen umfassenden, existentiellen Sinn: Mit der "Geschichte" gibt der Mensch seiner Existenz eine Deutung, einen Sinn, ein Woher und Wohin. Mit ihrer Geschichte ordnet sich jede Person in den Zeitlauf ein, beheimatet sich in der Gesellschaft, bezieht Selbstverständnis, Berechtigung, Rechtfertigung. Wird diese "Geschichte" genommen, so bricht das alles auseinander. Der betroffene Mensch hat das Gefühl, dass ihm existentiell der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Er wird sich also vehement dagegen wehren, und zwar nicht auf der Ebene der Logik, sondern der Emotion; diese verwendet den Verstand lediglich für ihr Bedürfnis als Werkzeug.
Wie das Individuum so haben auch Gruppen oder Völker oder Staaten ihre "Geschichten", aus denen sie ihr Selbstverständnis gewinnen, die Rechtfertigung ihres Handelns usw. (Sagen, Mythen, Ideologien...) Auch hier bedeutet es eine tiefe Verunsicherung und Erschütterung, wenn diese "Geschichte" infrage gestellt wird.
Bei der gruppendynamischen Arbeit mit Jugendlichen habe ich die Erfahrung gemacht: Jungen im Alter von 13 oder 14 Jahren aus schwer gestörten Familien, selbst Heimkinder, die alles an Gewalt, Alkoholexzess u.a. in der Familie erlebt haben, bestehen am stärksten darauf, dass ihre Familie toll sei und sie in der Familie das beste Verhältnis zueinander hätten. Sie brauchen diese "Geschichte", um innerlich überleben und vor sich selbst und den anderen bestehen zu können. Würde jemand ihnen brutal die Augen öffnen und ihnen deutlich machen, wie es in Wirklichkeit steht, sie brächen zusammen, weil sie "ihrer Geschichte" beraubt würden und in einer ohnehin schwachen inneren Position jetzt gar keinen Halt mehr hätten. Jeder und jede braucht seine/ihre Geschichte, individuell und kollektiv.
Aber: es gibt Geschichten, die gefährlich sind. Sie liefern die Rechtfertigung oder den Freispruch für Verbrechen und Unmenschlichkeiten der brutalsten Art. Für die Serben z.B. ist es der Mythos der "Schlacht auf dem Amselfeld" (1389); das Amselfeld liegt im Kosovo; dort ist serbisches Blut für die Freiheit geflossen; das muss serbisch bleiben. So nährt sich serbischer Nationalstolz und formuliert daraus seine Ansprüche und Ziele - und mag es Tausende auf grausame Weise das Leben kosten.
Alle Geschichten sind gefährlich, die es erlauben oder verlangen, dass Opfer gebracht werden müssen - was in der Regel heißt, dass man andere zu Opfern macht. Meister im "Geschichten"-Erfinden war der Nationalsozialismus. Dolchstoßlegende, das Judentum als Weltgefahr, "Volk ohne Raum", das Kaiserreich des Mittelalters als Idealbild, die Überlegenheit der "arischen Rasse", das "Herrenmenschtum", die Idee des "tausendjährigen Reiches" usw. Was sich aus Religion, Geschichte, Esoterik, Ideologie verwenden ließ, wurde ausgeschlachtet, und es wurde ein ideologisches Geschichten-Sammelsurium geschaffen, das es rechtfertigte, vorhandene Aggressionen, Rachegefühle, Machtgelüste und Sadismen ungestraft, ohne schlechtes Gewissen und sogar noch mit Belobigung auszuagieren.
Dass Ereignisse der Gegenwart in diese Richtung dargestellt werden sollten, dafür ließ Goebbels 15.000 Berichterstatter arbeiten, die er als "neue Waffengattung" bezeichnete, mit dem Ziel, "Geschichte zu formen".
Was die Ereignisse der Vergangenheit betrifft, so ist die Rolle der deutschen Geschichtsforschung und -schreibung an den Universitäten in diesem Jahr zum ersten Mal Thema einer kritischen Tagung gewesen - mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende! Typisch, wie hier mit leidenschaftlicher Emotion von Historikern oder ihren Schülern gegen die Tatsache gekämpft wurde, dass eine große Zahl Historiker bereit willig dieVergangenheit so dargestellt hatte, dass sie den Nationalsozialisten ins Konzept passte. Natürlich wollten die Historiker "saubere", objektive Wissenschaftler gewesen sein - wer möchte diesen Ruf bzw. diese "Geschichte" verlieren...? Aber die Tatsachen sprechen gegen sie.
So steht es auch mit der "sauberen Wehrmacht". Sie ist die erfolgreichste Legende der Nachkriegszeit. Menschlich gesehen, ist es verständlich. 5 Jahre, 10 ,Jahre, manchmal 15 beste Lebensjahre haben Soldaten durch den Krieg verloren, dazu Angehörige, Eigentum, Heimat, Gesundheit. Sie sind davongekommen - und nun sollen sie auch noch Verbrecher sein? Wer kann sich eine solche "Geschichte", ein solches Selbstverständnis verschreiben lassen, wer hält das aus? Diese Legende ist der lebensnotwendige Strohhalm des seelischen und moralischen Überlebens.
Aber es ist eine Legende. Es ist eine "Geschichte", die den Tatsachen nicht standhält. Auch wer als Soldat individuell "sauber" geblieben ist und moralische Tugenden bewiesen hat, kommt nicht an der Einsicht vorbei: Ich habe - mit aller Tapferkeit - einem von vorne bis hinten verbrecherischen Unternehmen gedient. Der verbrecherische, unmenschliche Hintergrund zeigt sich in den Hilfskonstruktionen der Mythen und Ideologien, und er offenbart sich in den Tatsachen, die die Ausstellung dokumentiert.
Am 19. Juli 1941 steht in Polen ein Erschießungskommando bereit. Mit dazu abkommandiert ist der Soldat Josef Schulz. Er sieht, dass Unschuldige erschossen werden. Er stellt sich zu den Unschuldigen. Er wird mit erschossen. Solche Soldaten hat es auch gegeben. Sie sind am ehesten "Helden", obwohl sie sich selbst kaum so gefühlt haben.
Menschen ertragen es schwer, dass ihre "Geschichten", von denen sie sich leiten lassen, infrage gestellt werden von Personen wie eben diesem couragierten Soldaten ,Josef Schulz. Mit Josef Schulz werden ja die Fragen an das eigene Gewissen und das eigene Tun erschossen. Ebenso möchten wohl viele leidenschaftliche Kritiker der Dokumentation die Fragen an das eigene Gewissen totschlagen, um sich ihre "Geschichte" und Selbstrechtfertigung zu erhalten. Aber Tatsachen lassen sich nicht erschießen, und das Gewissen und die Fragen auch nicht.
Karsten Sohrt
Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).