(Gegenwind 381, Juni 2020)

Christiane Schneider
Christiane Schneider (Foto: Gaston Kirsche

Christiane Schneider:

„Eine Parlamentsdebatte ist keine wissenschaftliche Erörterung“

Ein Interview mit der ehemaligen Abgeordneten der Partei Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Christiane Schneider war von 2008 bis 2020 Abgeordnete und auch Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft für „Die Linke“. Politisiert in der außerparlamentarischen Bewegung ist sie seit 1967 politisch aktiv. In den 70ern im Kommunistischen Bund Westdeutschland, KBW, in den 80ern im Bund Westdeutscher Kommunisten, BWK, seit 1992 in der Partei des Demokratischen Sozialismus, PDS, bis diese 2007 in der Partei „Die Linke“ aufging. „Die Verteidigung der Grundrechte gegen staatliche Repression, Antifaschismus und die Solidarität mit Geflüchteten sind meine Schwerpunkte“, sagt sie. Im Gespräch ist ihr schnell anzumerken, dass sie lange Fachsprecherin ihrer Fraktion für Antifaschismus, Flüchtlinge, Innenpolitik und Religion war.

Gegenwind:

Wie geht es dir, mit dem Einfrieren der sozialen Kontakte?

Christiane Schneider:

Es ist schon ein tiefer Einschnitt ins Leben, wenn direkte soziale Kontakte so weitgehend unterbrochen werden. Ich versuche die fehlende Nähe, die spontanen Kommunikationen auf andere Weise auszugleichen. Ich telefoniere für meine Verhältnisse viel, habe etwa Kontakte zu älteren und alleinlebenden Verwandten neu geknüpft oder verstärkt. Ich nehme mir mehr Zeit als früher zu lesen, was andere Menschen, bekannte und unbekannte, zur Situation schreiben, lasse mich mehr anregen. Ich habe ein eigenes kleines Programm, zum Beispiel lese ich, was ich mir seit Jahren vorgenommen hatte, Tod in Hamburg, das Buch von Richard J. Evans über Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1919, lerne ein bisschen Italienisch und gehe möglichst täglich spazieren. Leider fällt die Corona-Krise mit all den Umstellungen mit meinem Übergang in Rentnerinnendasein zusammen. Diesen Übergang hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und der erzwungene Verzicht auf einen lange geplanten Urlaub in Süditalien machen es ein bisschen schwerer.

Gegenwind:

Wenn du den Urlaub nachholst, sprichst du dann besser Italienisch? Du warst schon öfter dort?

Christiane Schneider:

Ich hoffe, leider fällt es mir recht schwer, Sprachen neu zu lernen. Ich hoffe, dieser neue Anlauf wird erfolgreicher als die vorherigen. Ich verbringe seit vielen Jahren meinen Urlaub immer in Italien, vor allem im Süden.

Gegenwind:

Bist du auch deswegen so engagiert im Einsatz für Geflüchtete, die übers Mittelmeer nach Italien in der EU Schutz suchen?

Christiane Schneider:

Nein, das ist nicht der Grund, auch wenn ich die die solidarische Politik und widerständigen Positionen insbesondere einiger süditalienischer Hafenstädte wie Palermo oder Neapel sehr ermutigend finde. Mich treibt dabei vor allem an, was Hannah Arendt bezeichnet hat als das ‚Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören’. Dieses Recht jedes Menschen zu verteidigen oder besser durchsetzen zu helfen bin ich mir als Mensch selbst schuldig.

Gegenwind:

Ein beeindruckendes Zitat. Die Situation für die Geflüchteten an den EU-Außengrenzen ist gerade jetzt besonders schlimm.

Christiane Schneider:

Die Situation ist dramatisch. Die humanitäre Katastrophe hat sich seit Jahren angebahnt - jeder, der das sehen wollte, konnte es sehen -, und sie nimmt in der Corona-Krise unerträgliche Ausmaße an. Sie ist Ergebnis einer auf Abwehr gerichteten EU-Politik und einer zutiefst unsolidarischen, insbesondere auch von Deutschland zu verantwortenden Politik gegenüber den südeuropäischen Ländern wie Italien und Griechenland, wie sie in den Dublin-Verordnungen zum Ausdruck kommt. Niemand weiß, wie die Welt nach der Pandemie aussehen wird. Aber eine Fortsetzung dieser Politik würde, davon bin ich überzeugt, das Ende der EU bedeuten.

Gegenwind:

Wirst du dich jetzt nach deiner Abgeordnetenzeit weiter für Geflüchtete engagieren?

Christiane Schneider:

Ich muss mich noch sortieren. Aber meinen Schwerpunkt möchte ich auf antifaschistische Arbeit legen.

Gegenwind:

Hast du dafür schon konkrete Ideen?

Christiane Schneider:

Nein, nur ansatzweise. Ich werde im Hamburger Bündnis gegen Rechts mitarbeiten, mich aber auch ausführlicher mit Entwicklungen der AfD in Hamburg und bundesweit, mit ihrem Umfeld und rechter Strategieentwicklung auseinandersetzen. Welche Projekte daraus entstehen, lasse ich noch auf mich zukommen. Gerne werde ich mich auch in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hamburg betätigen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit verschiedensten Problemen praktischer Politik musste in den letzten zwölf Jahren leider hinter der parlamentarischen Arbeit oft zurückstehen. Ich hoffe, dass es mir gelingt - ich nehme es mir jedenfalls vor -, einige Erfahrungen aus der parlamentarischen Arbeit kritisch zu verarbeiten und aufzuschreiben.

Gegenwind:

Eine Mitarbeit im Hamburger Bündnis gegen Rechts und die kritische Begleitung der AfD klingt ein bisschen wie eine außerparlamentarische Fortsetzung deiner Tätigkeit als Innenpolitikerin in der Bürgerschaft?

Christiane Schneider:

Ja, jedenfalls teilweise. Zum Beispiel bleibt es mir ein Anliegen, dass auch Hamburg endlich noch einen NSU-Untersuchungsausschuss einsetzt, wenn vielleicht auch mit erweiterter Fragestellung. Auf diesem Feld sind nach wie vor ja viele außerparlamentarischen Akteurinnen und Akteure unterwegs, die die Forderung lebendig gehalten haben.

Gegenwind:

Für den 1. Mai ist eine bundesweite Nazi-Demo in Hamburg geplant?

Christiane Schneider:

Ja. Doch hat sich bereits vor vielen Wochen ein breites Bündnis gebildet von antifaschistischen Organisationen und Stadtteilinitiativen, Gewerkschaften und linken Organisationen bis hin zur Schura, dem Rat der Islamischen Gemeinschaften, um diesen Aufmarsch zu verhindern. Eine Gegendemonstration ist angemeldet. Die Corona-Krise hat die Situation natürlich verändert. Das antifaschistische Bündnis passt seine Aktivitäten der Situation an.

Die Nazis haben statt der Demonstration inzwischen eine Versammlung mit 25 Personen im Stadtteil Harburg angemeldet. Eine Genehmigung gilt derzeit als wahrscheinlich. Die antifaschistischen Bündnisse reagieren auf die neue Situation mit der Anmeldung mehrerer Mahnwachen. Das freie Radio FSK wird in Kooperation mit dem Hamburger Bündnis gegen Rechts in einer vierstündigen Sendung aktuell berichten und Beiträge zum antifaschistischen Protest senden. Auch unter den gegenwärtig schwierigen Bedingungen wird antifaschistischer Protest am 1. Mai in Hamburg deutlich vernehmbar sein. (*)

Gegenwind:

Du hast eine anonyme Morddrohung gegen dich vermutlich aus dem Rechtsextremen Spektrum öffentlich gemacht. Wie waren die Reaktionen für dich?

Christiane Schneider:

Ich habe sehr große Solidarität erfahren und vielen Angebote zur Unterstützung bekommen, nicht nur aus meinem engeren politischen Umfeld. Das Neue an dieser Morddrohung war für mich der persönliche Bezug. Ich hatte und habe schon den Eindruck, persönlich gemeint zu sein, auch wenn ich weiß, dass andere Menschen und eine Moschee ähnliche Drohungen aus derselben Richtung erhalten haben. Leider kann man sich in den heutigen Zeiten der zunehmenden neonazistischen und rassistischen Gewalt nicht darauf verlassen, dass solche Morddrohungen großspuriges Gerede bleiben. Auch wenn ich keine Angst habe, haben mir die Solidarität und die erfahrenen Freundschaftsgesten sehr gut getan.

Gegenwind:

Die Solidarität ging auch weit über die Partei „Die Linke“ hinaus, oder?

Christiane Schneider:

Ja, sehr weit, das alles aufzuzählen würde jetzt etwas lang dauern.

Gegenwind:

Du bist ja auch über die Partei hinaus anerkannt, auch als jetzt ehemaliges Mitglied des Präsidiums der Bürgerschaft. Wie ist es im Rückblick auf die negativen Reaktionen auf deine erste Rede in der Bürgerschaft, wo du den Dalai Lama kritisiert hast und darauf eine mediale Skandalisierung erfolgte?

Christiane Schneider:

Damals hat mich der Shitstorm unerwartet getroffen, heute sehe ich den missglückten Start sehr gelassen. Ich habe eine eigentlich im Rückblick gar nicht so schlechte Rede an einem unpassenden Ort gehalten. Es ging mir um die Kritik der höchst problematischen und demokratiefeindlichen Verknüpfung zweier Rollen, die der Dalai Lama beansprucht, nämlich nicht nur die Rolle eines geistigen, sondern auch eines staatlichen Oberhaupts. Deshalb zog ich den Vergleich zu Khomeini, der mir die Empörung einbrachte - viele Sozialdemokraten verließen beispielsweise demonstrativ den Plenarsaal. Ich hatte unterschätzt, dass viele auf einen Skandal der gerade erst in die Bürgerschaft eingezogenen Linken nur warteten. Und ich hatte nicht bedacht, dass eine Parlamentsdebatte keine wissenschaftliche Erörterung ist. Dass es hier um anderes geht - nämlich um die Austragung harter politischer Konflikte - habe ich auf diese Weise schnell gelernt. Allerdings habe ich die ganzen zwölf Jahre viel Wert darauf gelegt, auch in den härtesten Kontroversen - und auf dem Gebiet der Innenpolitik sind die Kontroversen wirklich hart! - unsere Auffassungen und Forderungen argumentativ zu verfechten. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis die vielen heftigen und teilweise direkt bösartigen Zwischenrufe bei meinen Reden ausblieben, auch in den sehr heftigen Konflikten in der Bürgerschaft vor allem im Zusammenhang mit G20. Am Ende habe ich, bei allen politischen Differenzen, aus den Reihen der anderen demokratischen Fraktionen viel Respekt erfahren. Und ich habe auch gelernt, Argumente manch anderer Abgeordneter zu schätzen, auch wenn ich sie nicht geteilt habe: Argumente zwingen, die eigene Positionierung immer wieder neu zu überdenken.

Gegenwind:

Aber das bessere Argument zählt ja nicht immer - als wir uns mal zufällig nach dem G20-Gipfel in der U-Bahn trafen, meintest Du, die Innensenatoren der SPD - zuerst Michael Neumann, jetzt Andreas Grote - würden Dich nicht sehr schätzen?

Christiane Schneider:

Richtig, am Ende zählt nicht das bessere Argument, sondern zählen die Mehrheitsverhältnisse. Wenn es hochkommt, werden ein bis zwei oppositionelle Anträge in einer Legislaturperiode angenommen, während selbst der dünnste Antrag von Mehrheitsfraktionen verabschiedet wird. Die meisten Anträge werden nicht mal in Ausschüsse zur weiteren Beratung überwiesen. Darüber hatten sich SPD und Grüne in ihrer Oppositionszeit gerne beklagt, um, kaum an der Regierung, genau so zu verfahren. Dieser Umgang mit Opposition ist in Hamburg, wo die besondere Bedeutung von Opposition ja in der Verfassung festgeschrieben ist, besonders krass. Dass gerade die Innensenatoren unsere an Grund- und Freiheitsrechten orientierte Oppositionspolitik nicht besonders schätzen, sehe ich eher als Kompliment. Dass ihre Angriffe auf mich oft eine ausgesprochen persönliche Note hatten, spricht nicht für sie. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass gerade Sozialdemokraten als Innensenatoren einen ziemlich schlechten Stand gegenüber der Polizeiführung haben und meinen, sie könnten sich auf diese Weise als Hardliner profilieren.

Gegenwind:

Du meinst, die beiden Sozialdemokraten glaubten, sich als Innensenatoren als hart gegen Linke vorgehend bei der Polizeiführung Anerkennung verschaffen zu können?

Christiane Schneider:

Ich möchte es anders formulieren: Da sie nicht ‚Fleisch vom Fleische’ der Polizei sind, sondern Zivilisten, werden sie nicht ernst genommen. Es gäbe viele Anlässe auch für Behördenleiter, sich mit der Polizei auseinanderzusetzen, ich erinnere zum Beispiel an das große Gefahrengebiete Anfang 2014 - eine Fläche mit rund 80.000 Anwohner*innen war betroffen -, das die Polizeiführung trotz der absehbaren politischen Auswirkungen ohne Rücksprache mit der Behördenleitung und dem damaligen Polizeipräsidenten, einem Zivilisten, ausgerufen hatte. Die Polizeiführer hatten den Innensenator erst unmittelbar vor der Verkündung des Gefahrengebiets informiert. Der ließ sich während der tagelangen Auseinandersetzungen buchstäblich an der Leine führen, anstatt der Polizei die Grenzen aufzuzeigen - ein politisches Totalversagen. So gäbe es viele Beispiele.

Aber immerhin hat der gegenwärtige Innensenator nach jahrelangen Auseinandersetzungen in der Stadtgesellschaft und nach wiederholten Anträgen von uns, von der FDP und in ihrer Oppositionszeit auch von den Grünen nach G20 die gesetzliche Verankerung der individuellen Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen in der Polizei durchgesetzt.

Gegenwind:

Bei der Verteidigung der Bürger*innenrechte gegen die Polizeistrategie des Kontrollierens und Strafens anlässlich des G20-Gipfels und in dem Sonderausschuss danach warst du sehr engagiert. Hat sich der Einsatz gelohnt?

Christiane Schneider:

Für uns, die Bürgerschaftsabgeordneten der LINKEN, war es selbstverständlich, dass wir während der gesamten G20-Protestwoche als parlamentarische Beobachter vor Ort waren. Wir konnten verschiedentlich deeskalieren, wir haben vieles gesehen und haben darüber berichtet. Nach dem Gipfel haben der Senat und alle anderen Fraktionen in der Bürgerschaft sowie weitgehend die lokalen Medien - Ausnahmen waren vor allem die taz Nord und teilweise der NDR - eine absolut einseitige ‚Erzählung’ über den Protest von vielen zehntausend Menschen verbreitet. Ich erinnere an Olaf Scholz ‚Polizeigewalt hat es nicht gegeben.’ Die Erzählung der an den Protesten Beteiligten, der von unverhältnismäßiger Polizeigewalt Betroffenen und der Menschen in den von dem gewaltigen Polizeiaufgebot am meisten betroffenen Vierteln in der Innenstadt und in Altona fand wenig öffentliches Gehör. Ich denke, unsere Arbeit im Sonderausschuss und die zahlreichen Anfragen, die wir gestellt haben, haben dazu beigetragen, der offiziellen Erzählung etwas entgegenzusetzen, Darstellungen der Polizei zumindest teilweise zu widerlegen und einige Unwahrheiten aufzudecken. Die Arbeit war anstrengend, aber sie hat sich gelohnt.

Gegenwind:

Für Deinen kontinuierlichen Einsatz für Bürger*innenrechte hast Du bei einem Heimspiel des FC St. Pauli in der Fankurve eine außergewöhnliche Anerkennung bekommen: Eine Danksagung auf einem 50 Meter langen Transparent. Warst Du davon überrascht?

Christiane Schneider:

Absolut. Ich war gar nicht im Stadion, habe noch während des Spiels ein Bild geschickt bekommen. Ich habe mich wirklich riesig gefreut.

Gegenwind:

Es war eine von vielen Anerkennungen. Andreas Blechschmidt vom besetzten autonomen Zentrum Rote Flora beispielsweise hat sehr anerkennend über Dich als Abgeordnete gesprochen - obwohl Autonome nicht für Interesse am parlamentarischen Engagement bekannt sind.

Christiane Schneider:

Stimmt. Obwohl wir in manchen Dingen nicht einer Meinung sind und obwohl wir auf unterschiedlichen Feldern agieren, schätzen wir uns gegenseitig.

Gegenwind:

Die Partei „Die Linke“ hat durch Deine Tätigkeit als Abgeordnete in einigen Milieus mehr positive Beachtung erfahren, die eher staatskritisch sind: Neben Fußballfans eben auch Autonome. Dass ist doch keine Selbstverständlichkeit?

Christiane Schneider:

Das hängt natürlich auch mit den Anliegen zusammen, die mir politisch wichtig sind und die ich auch in meiner Abgeordnetentätigkeit verfolgt habe: der Verteidigung und Stärkung von Grund- und Menschenrechten. Das nehmen vor allem Menschen und ‚Szenen’ wahr, die von Angriffen auf ihre Rechte betroffen sind, etwa Fußballfans, die oft zuallererst Einschränkungen ihrer Rechte erfahren, die später auf andere Gruppen ausgeweitet werden. Oder eben Autonome. Ich will nicht bestreiten, dass es immer wieder auch gewalttätige Konflikte zwischen Polizei und Autonomen gibt. Aber gerade in den ersten Tagen der G20-Protestwoche konnten wir erleben, dass die Polizei, lange bevor der erste Stein geworfen wurde, das Feindbild ‚Linksautonom’ in der Öffentlichkeit verankert hatte. Nicht nur, um jeden linken Protest zu delegitimieren, sondern auch um ihre eigenen, teilweise geplanten unverhältnismäßigen Maßnahmen wie die gewaltsame Auflösung der Welcome-to-Hell-Demonstration zu legitimieren. Das haben wir kritisiert, und das ist wohl auch ein Grund dafür, dass unsere Arbeit trotz bekannter politischer Differenzen geachtet wird.

Gegenwind:

Wegen Deiner Kritik an gewalttätigen Aktionen von Linken sehen einige Autonome und Antiimperialist*innen Dich als ‚auf der anderen Seite stehend’ an, von Seiten der CDU und der SPD ist Dir öfters eine Verharmlosung linker Gewalt vorgeworfen worden. Trifft dich dieser Vorwurf?

Christiane Schneider:

Nein. Ich habe mir sehr gut überlegen müssen in diesen zwölf Jahren, wie ich mich positioniere, um mich in schwierigen Konflikten halten zu können. Das kann ich nur, wenn ich authentisch bin, meine Meinung sage. Meine Meinung habe ich in Bürgerschaftsreden öfter in dem Satz zusammengefasst, dass ich für Gewaltfreiheit auf der einen Seite bin und für Rechtsstaatlichkeit auf der anderen Seite. Da die Polizei Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols ist, ist sie unter allen Umständen gefordert, rechtsstaatlich zu handeln. Unverhältnismäßige Polizeigewalt zu kritisieren und rechtsstaatliches Handeln einzufordern, bringt die Law-and-Order Fraktion in CDU und SPD schnell in Rage. Ihre Einwände bewegen sich meist auf dem Niveau: Da die Polizei die Polizei ist, handelt sie nicht rechtswidrig.

Gegenwind:

Du hast Dich selbst mal als libertäre Sozialistin bezeichnet. Was meinst du damit?

Christiane Schneider:

Das würde ich heute nicht mehr so sagen. Was ich damit aber zum Ausdruck bringen wollte und was ich nach wie vor vertrete, ist, dass die Grund- und Freiheitsrechte von fundamentaler Bedeutung sind und dem Staat und seinen Befugnissen Grenzen setzen. Das haben die kommunistischen und sozialistischen Bewegungen in der Vergangenheit nicht so gesehen und anders gehandhabt. Daraus habe ich, die ich aus dem KBW komme, einer westdeutschen K-Gruppe, wie viele andere Konsequenzen gezogen.

Gesellschaftlichen Fortschritt kann es ohne Fortschritt der Emanzipation der Individuen nicht geben. Auch deshalb habe ich übrigens vor zwölf Jahren, als ich zum ersten Mal für die Bürgerschaft kandidierte, als meinen Schwerpunkt Grund- und Menschenrechte genannt und mich um die Ressorts Innen- und Justizpolitik beworben.

Gegenwind:

Ein weiter Weg von der Vorstellung einer Avantgardepartei hin zu einem Sozialismus, der die individuellen Freiheitsrechte voraussetzt. Bezeichnest Du Dich weiterhin als Sozialistin?

Christiane Schneider:

Doch, selbstverständlich, ich kämpfe dafür, um mit Marx zu sprechen, ... alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Geändert haben sich meine Auffassungen darüber, wie dieser Kampf zu führen ist, wie der Prozess der Emanzipation vorankommen kann.

Gegenwind:

Im Dialog und im Wettstreit der Argumente bei Anerkennung der positiven Bedeutung der Pluralität von Gesellschaft?

Christiane Schneider:

Ja.

Gegenwind:

Zum Schluss: Kauft jetzt jemand für Dich ein?

Christiane Schneider:

Nein. Ich kaufe selbst ein und gehe auch jeden Tag spazieren. Aber viele Menschen haben angeboten, mich, wenn es nötig wird, zu unterstützen. Für diese Solidarität bin ich dankbar.

Gegenwind:

Vielen Dank für das Interview und alles Gute!

Die Fragen stellte Gaston Kirsche.

Anmerkung:
(*) Das Verbot der Nazidemonstration am 1. Mai in Hamburg-Harburg wurde letztendlich gerichtlich bestätigt. Die antifaschistischen Mahnwachen und Stadtteilspaziergänge fanden trotzdem statt, unter Wahrung der Corona-Abstandsregelungen. Die Polizei griff nicht ein. Mehr Infos auf der Website des Hamburger Bündnis gegen Rechts.

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