(Gegenwind 373, Oktober 2019)

Buchtitel: Schnitt in die Seele
Terre des Femmes (Hg.): Schnitt in die Seele. Weibliche Genitalverstümmelung - eine fundamentale Menschenrechtsverletzung. Mabuse-Verlag, Frankfurt 2015, 337 Seiten, 39,95 Euro

Weibliche Beschneidung:

Grundlagenwerk

Die weibliche Genitalbeschneidung ist vielen in groben Umrissen bekannt, allerdings wissen nur wenige Einzelheiten, und es sind auch viele Vorurteile in Umlauf. International wird sie „Weibliche Genitalverstümmelung“ genannt, abgekürzt FGM. Allerdings zeigt sich immer wieder, dass im Kontakt mit Betroffenen der Begriff „Verstümmelung“ zu einer Abwehr führt, die oftmals weitere Gespräche erschwert oder unmöglich macht, deswegen wird der - eigentlich verharmlosende - Begriff „Beschneidung“ verwendet. Man darf das allerdings nie mit der „männlichen Beschneidung“ durcheinander werfen, die auch diskutiert wird, aber doch ein relativ kleiner Eingriff ist.

Die „weibliche Beschneidung“ ist eine mehr als 5.000 Jahre alte Tradition bei vielen Völkern, die meisten leben in Afrika und auf der arabischen Halbinsel (Jemen und Oman). Es gibt sie aber auch in Kurdistan (vor allem Irak) und auch in Fernost. Dort, vor allem in Indonesien, scheint sie aber nicht so alt zu sein, sondern tatsächlich erst mit der Verbreitung des Islam bekannt geworden zu sein. Obwohl vielen unklar ist, scheint die weibliche Beschneidung in Indonesien stärker als Teil des Islam begriffen zu werden, während sie in Westafrika wie in Ostafrika auch in christlich geprägten Völkern und Staaten verbreitet ist.

Beschnitten wird die Klitoris und die Schamlippen, und zwar in unterschiedlichem Ausmaß. Als „Typ I“ bezeichnet die WHO die Entfernung der Klitoris oder der Klitorisvorhaut. Als „Typ II“ wird bezeichnet, wenn neben der Klitoris auch die Schamlippen entfernt werden. „Typ III“ bezeichnet die Entfernung der Klitoris mit anschließendem Vernähen der Wundränder („Infibulation“), so dass nur eine winzige Öffnung für den Urin und später die Blutungen während der Periode bleibt. Sind die Verletzungen so nicht klassifizierbar, nennt die WHO das „Typ IV“.

Dabei werden diese Beschneidungen meistens privat durchgeführt, bei bekannten „Beschneiderinnen“ im Ort, die es oft von der eigenen Mutter gelernt haben. Insofern gibt es in Wahrheit Tausende von „Typen“, für die die Klassifizierung der WHO nur ein sehr grobes Raster bildet. Auch werden die Beschneidungen oft nicht mit chirurgischen Instrumenten, sondern mit Messern, Rasierklingen oder Glasscherben durchgeführt, was zusätzlich ein großes Infektionsrisiko und auch Fehlerrisiko darstellt.

Die Tradition selbst scheint es schon vor mehr als 5.000 Jahren gegeben zu haben, wie sich an Mumien aus ägyptischen Pyramiden oder anderen Grabstätten zeigt. Daraus leitet sich auch der Begriff „pharaonische Beschneidung“ her, ohne dass man weiß, ob der Begriff wirklich berechtigt ist. Auf jeden Fall sieht man an allen Staaten, in denen die weibliche Beschneidung (oder Verstümmelung) vorkommt, dass sie nichts mit heutigen Staaten oder heutigen Religionen zu tun hat, sondern in der Tradition von Völkern begründet ist und deshalb auch schwer zu bekämpfen.

Allerdings schreiben die Autorinnen dieses Buches auch, dass die Witwenverbrennung in Indien oder die Sklaverei im Römischen Reich auch erfolgreich bekämpft werden konnte - es gäbe also keinen Grund, bei der weiblichen Beschneidung aufzugeben. Sie warnen auch dringend davor, für diese Menschenrechtsverletzung eine Art „Schutz der Tradition“ oder bei der Bekämpfung eine „koloniale Bevormundung“ zu unterstellen. Allerdings raten sie dringend dazu, in der Information und Aufklärung einheimische Beschneiderinnen einzusetzen, die der Tradition den Rücken gekehrt haben, aber durch die Bezahlung als Beraterin der Tradition auch den Rücken kehren konnten. Denn die Tradition unter Strafe zu stellen, wenn Zehntausende von Beschneiderinnen damit ihren Lebensunterhalt verdienen, könnte ein schwieriger Kampf werden. Außerdem können die (ehemaligen) Beschneiderinnen die Aufklärung am glaubwürdigsten betreiben.

Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, die Beschneidungen weniger brutal zu gestalten, ohne gleich mit Strafgesetzen und tatsächlichen Strafen in die Tradition einzugreifen. Davor warnen die Autorinnen, denn auch eine im Krankenhaus unter hygienischen Bedingungen durchgeführte Beschneidung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung an einem Kind, meistens einem Baby oder Mädchen zwischen 8 und 11 Jahren. Man kann durch die Durchführung im Krankenhaus zwar das Begleitrisiko der Infektion und auch der häufigen Todesfälle während und nach der Beschneidung vermeiden, aber mehr gewinnt man eben nicht, und die betroffenen Kinder verlieren sehr viel.

Es handelt sich um einen Sammelband. Das bedeutet, die einzelnen Autorinnen vertreten auch verschiedene Schattierungen der Bewegung gegen die Beschneidung, und das ist für die Leserin oder den Leser sehr hilfreich. Keine gibt vor, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, auch wenn die eine für „null Toleranz“ und die nächste für eine kultursensible Beratung ohne Strafandrohung eintritt.

Hier in Europa sind allerdings alle Autorinnen für eine kompromisslose Durchsetzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit für alle Mädchen und junge Frauen. Sie sind auch für die Anerkennung des Rechts auf Asyl, da sind die verschiedenen Behörden noch viel zu verständnisvoll gegenüber „landestypischen Traditionen“, und für die Unterstützung gefährdeter Mädchen auch gegen deren Mütter. Da mag im Einzelfall zu Tragödien einer Familientrennung führen, aber Kompromisse sind in unserem Rechtsstaat einfach nicht möglich, wenn es solch schwere Menschenrechtsverletzungen betrifft.

Das Buch leidet ein wenig darunter, dass die Hälfte der Kapitel unverändert aus der Erstauflage von 2003 übernommen wurden, weil es an Geld und Zeit zur Überarbeitung fehlte. Die andere Hälfte ist aber aktuell geschrieben oder aktualisiert worden. Und wer will, kann sich auf der Internet-Seite der Herausgeberinnen stets aktuelle Informationen und zahlenmäßige Schätzungen ansehen, die dort Jahr für Jahr aktualisiert werden.

Reinhard Pohl

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