(Gegenwind 372, September 2019)


Der Protest gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017

In 10 Tagen im Juli 2017 veränderte sich Hamburg durch die Austragung des G20-Gipfels, den zu seinem Schutz exerzierten Ausnahmezustand und den vielfältigen Protest gegen beides. Es herrschte ein produktives, teilweise recht chaotisches Nebeneinander unterschiedlichster, sich teilweise widersprechender Aktionsformen. So fand am Sonntag vor dem Gipfel eine explizit gesetzestreue „Protestwelle“ professioneller NGOs statt, in Abgrenzung von der großen Bündnisdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“, die angemeldet wurde von Jan van Aken, seinerzeit Bundestagsabgeordneter der Linken für Hamburg. Alle Beteiligten hatten die brachiale und anlasslose Zerschlagung der autonomen Demonstration mit 12.000 Teilnehmenden auf Beschluss der Polizeiführung zwei Tage zuvor mit zahlreichen Schwerverletzten noch vor Augen. Aber die bunte Abschlussdemonstration konnte bis auf kleinere Polizeiprovokationen stattfinden: Für einen Angriff waren wohl zu viele Menschen auf der Straße - 80.000.

Die Stimmung in der westlichen Innenstadt rund um den Austragungsort des G20-Gipfels zwischen Tränengasschwaden, Polizeiknüppeln, unterschiedlichsten Menschenansammlungen von Zaungästen bis hin zu Demonstration(sversuchen) war aufgeladen. In bis auf Polizeifahrzeuge ausnahmsweise nahezu autofreien, alternativ bis grün geprägten Stadtteilen standen überall Menschen auf den Straßen, schauten, unterhielten sich. Es gab viel Aufbegehren gegen die ständige Polizeipräsenz, gegen die auf Unterordnung, Kontrolle und Eskalation angelegte Strategie der Polizeiführung. Es war ein ausnahmsweise nicht verregneter, warmer Sommer in Hamburg, überall war Leben auf den Straßen. Ein Alptraum für die Polizeistrategen, die den größten Polizeieinsatz der Hamburger Geschichte mit 31.000 zum Gipfelschutz beorderten Polizeibeamten leiteten. Der vom Staat unabhängige, mehr oder weniger dissidente linke Teil der städtischen Zivilgesellschaft sah sich herausgefordert durch einen als Herrschaftspropaganda wahrgenommenen Gipfel der mächtigsten 19 Staaten der Welt plus der EU. Es gab trotz Verbot und Behinderung Protestzeltlager, das alternative Medienzentrum FCMC, diverse Kunstperformances vom Megafonchor über Straßentheater, die Rebel Clowns und Spiegelmenschen, Demonstrierende in Glitzerkleidung, die den Polizeieinheiten große Spiegel entgegen hielten, bis hin zum Rave „Lieber tanz ich als G20“. Die spektakuläre Massenperformance „1000 Gestalten“: eintausend Menschen in mit Lehm bemalter, grauer Kleidung mechanisch durch die Straßen des außerhalb der Demonstrationsverbotszone gelegenen Hamburger Kontorhausviertels. Beim Zusammentreffen der einzelnen Gruppen auf einem Platz befreien sich die Gestalten aus den grauen Anzügen und werden wieder zu bunt gekleideten Menschen.

Bei den Motivationen zum Engagement ging es um Vieles: Erstens, dass der G20-Gipfel im Gegensatz zur UNO keine demokratische Legitimation habe, über die Probleme der Welt zu verhandeln; zweitens wurde die Aufnahme von Geflüchteten in der Stadtgesellschaft ebenso propagiert wie „offene Grenzen“; drittens wurde diffus bis pointiert Unbehagen und Kritik am Kapitalismus und seinen Folgen formuliert, insbesondere beim Klimawandel. Aber eben auch Brandstiftungen in Geschäften, über denen sich Wohnungen befinden, Brennende Barrikaden, deren Flammen auf Wohnhäuser überzugreifen drohten.

Gaston Kirsche.


„Ein dreistündiger polizeifreier Raum ist noch nicht die Morgenröte der Revolution“

Interview mit Andreas Blechschmidt. Brennende Barrikaden und Autos, geplünderte Geschäfte sowie eine vorübergehende polizeifreie Zone gaben Anlass für Aufstands- oder Riotromantik beim Protest gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Die hat Blechschmidt in seiner soeben erschienenen „Streitschrift um die Mittel zum Zweck“ praktisch kritisiert und theoretisch eingeordnet.

Andreas Blechschmidt, 53, war während seines Studiums der Germanistik und Wirtschafts- und Sozialgeschichte und danach als ausgebildeter Altenpfleger erwerbstätig und dabei zeitweilig Betriebsratsvorsitzender. Er hat in einem Anwaltskollektiv gearbeitet, jetzt in einem alternativen Bestattungsunternehmen. Außerdem hat er zu rechtspolitischen Themen im Infobrief des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins RAV Artikel veröffentlicht und ist freier Autor der Berliner Wochenzeitung „Jungle World“. Seit 1988/89 die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel besetzt wurde ist er in dem autonomen Zentrum engagiert. Blechschmidt war oft als Sprecher und Anmelder für Versammlungen der autonomen Linken aktiv, auch für die von der Polizei gewaltsam aufgelöste „Welcome-To-Hell“-Demo beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg.

Gegenwind:

Was hat Sie dazu bewegt, neben Ihrer Lohnarbeit und politischen Aktivitäten ein Buch über Polizeigewalt und linke Militanz beim G20 in Hamburg zu schreiben?

Andreas Blechschmidt:

Vor zwei Jahren hat mit dem G20-Gipfel der größte Polizeieinsatz in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands in Hamburg stattgefunden. Erwartungsgemäß hat es im Nachgang bei den politisch und polizeilich Verantwortlichen für die systematischen Rechtsbrüche und die massive Polizeigewalt keinerlei erkennbare Selbstkritik gegeben. Was mich aber dann doch überrascht hat, war die Tatsache, dass auch innerhalb der radikalen Linken in den öffentlich wahrnehmbaren Analysen und Reaktionen überwiegend nur Erfolgsmeldungen verbreitet wurden.

Gegenwind:

Kritik Fehlanzeige?

Andreas Blechschmidt:

Ja, und das hat sich weder mit meinen Wahrnehmungen, noch mit denen vieler Genossen und Genossinnen, mit denen ich diskutiert habe, gedeckt. Für mich drückte sich darin ein grundlegendes Defizit linksradikaler Debatten aus, in denen nämlich politischer Widerspruch zu oft als unsolidarisch, spalterisch und als Ausdruck von Renegatentum abgetan wird. Diese unerfreuliche Erfahrung durfte ich leider auch persönlich machen, da hatte ich keine Lust, das so stehen zu lassen.

Gegenwind:

Sind in das Buch auch Debatten aus der Roten Flora eingeflossen?

Andreas Blechschmidt:

Tatsächlich nein! Wir haben in der Roten Flora sehr kontrovers miteinander gestritten, weil es innerhalb des Projekts über das öffentliche Agieren der Flora insbesondere nach den militanten Auseinandersetzung der Freitagnacht auch intern Kritik gab. Aber wenigstens war hier das menschliche Miteinander fair und respektvoll. Mein Buch ist ausdrücklich eine persönliche Positionierung, die erst mal nichts mit der Haltung der Aktivistinnen und Aktivisten der Roten Flora zu tun hat.

Gegenwind:

Aber mit ihrem Engagement beim Gipfelprotest: Sie haben schon unmittelbar nach dem Barrikadenabend am Freitag, im Schanzenviertel in der Nacht in einem Interview mit dem NDR Kritik geübt an Formen der praktizierten Militanz. Wie war das im Juli 2017?

Andreas Blechschmidt:

Das war nicht mein Privatvergnügen, sondern ich habe im Auftrag und mit dem Mandat für die in der Nacht in der Flora befindlichen Aktivistinnen und Aktivisten gesprochen. Mir wurde im Nachhinein aus der Szene vorgeworfen, ich hätte hier als Altkader persönlich meinem Geltungsbedürfnis Raum verschaffen wollen. In der Sache haben wir jedenfalls geäußert, dass wir Militanz für berechtigt halten, aber Widerspruch zu den Ausdrucksformen hatten, womit wir natürlich die Brandstiftungen von Geschäften, über denen sich Wohnungen befanden, meinten, die uns tatsächlich entsetzt haben. In der Nacht haben wir aus taktischen Gründen die-se Brandstiftungen, von denen wir eben wussten, bewusst nicht aktiv benannt. Deswegen klang im Nachhinein diese Kritik der Militanz mit der sehr allgemeinen Formulierung, sie habe sich an sich selbst berauscht, natürlich altbacken und beleidigt.

Gegenwind:

Und deshalb wurde ihnen persönlich von anarchistischen Gruppen in der Broschüre Rauchzeichen „kriecherischer Opportunismus“ vorgeworfen. Wie gehen sie mit solchen Vorwürfen um?

Andreas Blechschmidt:

Naja, der ehemalige GEO-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede hat mir unmittelbar nach dem Gipfel persönlich in der FAZ in einem offenen Brief seine Verachtung erklärt. Da müssen die anarchistischen Genossinnen und Genossen mit klarkommen, in welche Gesellschaft sie sich begeben haben, wenn sie mich ihrerseits für einen kriecherischen Opportunisten halten, vor dem sie übrigens, um das Zitat mal vollständig zu machen, Ekel empfanden.

Gegenwind:

Neben solchen Diffamierungen fällt auf, dass in einigen Veröffentlichungen zum militanten G20-Protest die Rote Flora ignoriert wird, die Kritik verschwiegen wird. Wie soll so eine Debatte stattfinden?

Andreas Blechschmidt:

Diese Frage reiche ich ja mit meinem Buch an diejenigen zurück, die in ihren Publikationen nicht offen ihren politischen Widerspruch zu den Positionierungen der Roten Flora geführt haben. Ich habe überhaupt kein Problem damit, sich im Streit um politische Ansichten voneinander abzugrenzen. Aber missliebige Ansichten zu Einschätzungen der Ereignisse im Schanzenviertel in der Analyse komplett zu unterschlagen und damit unsichtbar zu machen, finde ich inakzeptabel.

Gegenwind:

Aber warum wird in der autonomen Debatte nach G20 auch die Geschichte militanter Auseinandersetzungen im Schanzenviertel ausgeblendet, von der Besetzung der Roten Flora bis hin zu den Schanzenfesten von 2002 bis 2012?

Andreas Blechschmidt:

Darauf kann ich nicht wirklich erwidern, weil ich mir diese Frage selber stelle. Meine vorläufige Erklärung dazu lautet, dass diese fehlenden Bezugnahmen der Ausdruck einer Geschichtsvergessenheit innerhalb der radikalen Linken sind. Zwischen den letzten Schanzenviertelriots und dem Juli 2017 lagen fünf Jahre, offenbar eine zu lange Zeit, als dass hier ein politischer Zusammenhang erkannt werden konnte. Dabei gab es beim Schanzenfest 2012 bereits einen Vorfall, der deutlich machte, dass ein Riot nicht immer links ist: Als Aktive aus der Roten Flora verhinderten, dass unter dem Vordach des Zentrums ein Feuer entzündet wird, wurde mit Messern auf sie eingestochen.

Gegenwind:

So was wird gerne vergessen.

Andreas Blechschmidt:

Und verdrängt.

Gegenwind:

Was sollen Anwohner*innen denken, wenn sie lesen würden, wie eine autonome Gruppe sich darüber lustig macht, dass es im Schanzenviertel Linke gäbe, welche den Riot „sogar an der Verträglichkeit für Kinder messen wollen“?

Andreas Blechschmidt:

Ich habe aus den Diskussionen und Auseinandersetzungen, die die Flora mit der Nachbarschaft nach dem G20 geführt hat, eine Ahnung, was die Antwort der in der Schanze lebenden Menschen wäre. Ich halte solche herablassenden Sprüche für Heldentum an den Tasten des Computers, das im direkten Gespräch wahrscheinlich wie Schnee in der Sonne schmölze.

Gegenwind:

Sie schreiben von doppelter Ausgrenzung der Anwohner*innen durch die Polizeimacht und durch Militante beim Aufstand, beim Riot. Sehen dass andere Linke aus dem Schanzenviertel auch so?

Andreas Blechschmidt:

Oh, ich würde sagen, eine gute Frage an die anderen Linken im Schanzenviertel. Für mich drückt sich in dieser Konstellation aus, ob die radikale Linke den gesellschaftlichen Resonanzraum als Bezugspunkt für die eigene Politik in Betracht zieht. Ich finde es richtig, die eigenen politischen Inhalte nicht für das Strohfeuer populistischen Zuspruches zu opfern. Mensch muss es aushalten können, mit der Verteidigung militanter Aktion manchmal sehr einsam auf weiter Flur zu stehen. Aber das kann ja nicht im Umkehrschluss bedeuten, mit der militanten Walze über alles und jeden hinwegzurollen, denn mit dieser Haltung gäbe es in Hamburg weder die genossenschaftlich verwalteten Häuser an der Hafenstraße, noch die besetzte Rote Flora oder die Gängeviertel-Genossenschaft.

Gegenwind:

In ihrem Buch legen sie ausführlich dar, dass militante Aktionsformen immer vermittelbar sein müssen und dass Gegengewalt kein Wert an sich ist. Ist das kein Konsens in der autonomen Szene?

Andreas Blechschmidt:

Da bin ich mir sicher, dass es im Grundsatz darüber einen Konsens nicht nur in der autonomen, sondern auch in der militanten Linken insgesamt gibt. Aber der Teufel steckt eben im Detail, in der Beurteilung der konkreten Aktion. Genau da wird es interessant. Als am Freitagmorgen des 7. Juli eine Gruppe Demonstrierender auf der Elbchaussee Kleinwagen in Brand gesetzt hat und weitere Objekte angegriffen hat, war die politische Haltung darin meiner Meinung nach klar erkennbar: Dem gewaltsamen Allmachtsanspruch des polizeilichen Kontrollregimes der vorangegangenen Tage sollte eine klare Grenze aufgezeigt werden. Ob das aber in der konkreten Ausführung widerspruchsfrei gelungen ist, ist für mich diskussionsbedürftig. Doch angesichts der staatlichen Repression, insbesondere auch wegen des aktuell laufenden Prozesses in Hamburg, gehört mein Herz und meine Solidarität allen, die an dem Morgen auf der Straße waren.

Gegenwind:

Aber in der Debatte der radikalen Linken über die militanten Proteste beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 fehlt doch eine Einordnung in die gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse?

Andreas Blechschmidt:

Ich antworte mal mit statistischer Polemik! Zwei Monate nach den militanten Auseinandersetzungen beim G20-Gipfel ist die AfD mit über 12 Prozent in den Bundestag eingezogen. Im Jahre 2017 sank aber die Arbeitslosenquote im Bundesdurchschnitt auf den niedrigsten Stand seit 1990. Das heißt, in Zeiten, in denen es in dieser Gesellschaft der Mehrheit der hier lebenden Menschen verhältnismäßig gut geht, kann eine genuin rechtsradikale Partei ungefährdet in den Bundestag einziehen. Und seitdem hat sich in den ostdeutschen Bundesländern die AfD als politische Kraft sogar noch weiter stabilisiert, obwohl sie sich in ihrer Rhetorik für keinen abstoßenden, rassistischen, erinnerungspolitischen und antisemitischen Tabubruch zu schade war. In den Verlautbarungen der radikalen Linken zum G20 habe ich angesichts dieser deprimierenden Realität für Perspektiven eines massenhaften Widerspruchs zum neoliberalen Regime nichts Erhellendes wahrnehmen können, wie wir also dieser Entwicklung mit einer radikalen außerparlamentarischen Antwort Einhalt gebieten könnten.

Gegenwind:

Sich die Ohnmacht als radikale Linke eingestehen, aber Widerstand organisieren?

Andreas Blechschmidt:

Walter Benjamin, auf den ich mich beziehe, hat 1928 für die „souveräne Abschätzung“ der Ohnmacht plädiert. Ohnmacht im Wortsinne bedeutet, ohne Macht zu sein, es geht um einen Zustand, der veränderbar ist. Und dabei spielen militante Aktionen eine wichtige Rolle.

Gegenwind:

Nach der Buchvorstellung in Hamburg gab es erste Reaktionen, die ihr Buch als pessimistischen Abgesang verstehen. Was erwidern sie darauf?

Andreas Blechschmidt:

Es geht mir in meinem Buch nicht um eine Absage, sondern um ein Plädoyer dafür, dass militante Aktionsformen immer eine Option für die radikale Linke sein müssen. Das habe ich als Aktivist so vor, während und auch nach dem G20 öffentlich vertreten. Worum es für mich geht ist, dass Militanz in den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen politische Spielräume schaffen kann, aber aktuell nicht der Schlüssel zur Herbeiführung eines Umsturzes der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse ist.

Gegenwind:

Deshalb beziehen sie sich auch auf Daniel Bensaid?

Andreas Blechschmidt:

Daniel Bensaid war ein bedeutender Aktivist des Pariser Mai 1968 und hat sich trotz der Niederlage der damaligen Revolte immer dafür eingesetzt, dass der Kapitalismus nicht der Endpunkt der Geschichte sein darf und wohl nicht sein wird. Er war zugleich der Meinung, dass sich die radikale Linke darüber klar sein müsse, dass die Herbeiführung der Revolution aktuell kein realistisches Nahziel ist. Aber er hat darauf gedrängt, dass sich die radikale Linke darauf vorbereiten müsse, eine schlechte Auflösung einer möglichen revolutionären Situation zu vermeiden. Das bedeutet, sich politisch in Theorie und Praxis mit den Bedingungen und Möglichkeiten der Abschaffung des neoliberalen kapitalistischen Regimes zu beschäftigen. Für diese notwendige Politik des langen Atems reicht es aber nicht, sich bloß an den Feuern brennender Barrikaden zu wärmen.

Gegenwind:

Und für den langen Atem geht es in der zweiten Hälfte des Buches eher grundsätzlich um die Gewaltverhältnisse des Staates und der radikalen Linken?

Andreas Blechschmidt:

Es gibt eine Menge Aspekte, die ich in den mir bekannten Analysen innerhalb der radikalen Linken zum G20 unterbelichtet finde und daher thematisiere. So empfand ich den Riot der Freitagnacht in der Schanze vorsichtig gesagt als sehr maskulin. Analysen von zum Beispiel Silvia Federici zu diesem Kontext fehlen. Mir kam in den Nachbetrachtungen zudem zu kurz, dass wir nicht per se Gewalt predigen, sondern ja grundsätzlich eine gewaltfreie Gesellschaft anstreben. Militanz ist in diesem Kontext eben ein Mittel zum Zweck, weil andere Mittel ausgeschöpft sind. Von Jean Améry über Herbert Marcuse bis zu Hannah Arendt gibt es in diesem Zusammenhang eine Reihe von mittlerweile historischen solidarischen Bezugnahmen auf das Anliegen der radikalen Linken, sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht abzufinden. Auf die ungebrochene Aktualität dieser Ermutigungen möchte ich mit meinem Buch hinweisen.

Gegenwind:

Deshalb die Darlegung des Gewalt-Staat-Paradigmas von Hannah Arendt im Buch? Darin geht es um die Balance zwischen Staatsgewalt und ihrer gesellschaftlichen Legitimation. Sie beschreiben anschaulich, wie sich diese Balance ausnutzen lässt, um dem Staat auch mit militanten Regelüberschreitungen Zugeständnisse abzuringen -- etwa bei Hausbesetzungen.

Andreas Blechschmidt:

Hannah Arendts Aufsatz „Macht und Gewalt“, spielt in meiner Argumentation eine wichtige Rolle. Es ist eine sehr hellsichtige politische Analyse der Vermittlung von offener Gewalt im Kapitalismus. Arendt beschreibt, wie durch Techniken der Machtausübung der freiwillige Gehorsam der Beherrschten die herrschende Ordnung stützt. Gleichzeitig zeigt sie aber auch, dass die Balance zwischen Machtausübung und Gewaltausübung nicht ins Ungleichgewicht geraten darf, denn das ist das Einfallstor der Revolution. Wie weit wir allerdings aktuell von diesem Ungleichgewicht entfernt sind, lässt sich mit Arendts Aufsatz leider auch zeigen.

Gegenwind:

Klingt fast wie eine Gebrauchsanweisung für autonome Politik, für die Besetzung der Flora?

Andreas Blechschmidt:

Die Rote Flora wurde 1988 und 1989 erkämpft und soweit ich daran beteiligt war, ist dem kein Studium der Schriften Hannah Arendts vorangegangen.

Gegenwind:

Sie schreiben, militante Politik muss immer die repressive, gewaltförmige Reaktion staatlicher Institutionen mitbedenken und dies bei der Wahl der Mittel bedenken. War die autonome Linke beim G20-Protest militanter als es ihre marginale gesellschaftliche Position erlaubt?

Andreas Blechschmidt:

Gerade der G20 in Hamburg ist ein Beispiel dafür, dass das nicht mit Zirkel und Lineal vorher abgesteckt werden kann. Das Gerede der Politik vom Festival der Demokratie, gefolgt von den offenen Rechtsbrüchen der Polizei und der krassen Polizeigewalt, das überwiegende Schweigen der sogenannten Zivilgesellschaft und die Komplizenschaft der Leitmedien mit dieser Machtdemonstration hat zu einer großen Wut auf der Straße geführt. Wenn es so etwas wie „die“ Politik der Herrschenden gibt, dann waren die militanten Auseinandersetzung während des G20 in Hamburg eine Antwort für die Arroganz dieser Herrschenden. Dass wundert mich angesichts der Eskalationskurses der Polizeiführung nicht. Aber dann müssen wir weiterreden: Deshalb gibt es keinen Grund, Geschäfte, über denen Menschen wohnen, anzuzünden. Wer das nicht ausein-ander halten kann, wer das klein redet oder bitte nur szeneintern besprechen möchte, hat ein echtes politisches Problem.

Gegenwind:

Die Verklärung des Barrikadenabends beim G20 zu einer vorrevolutionären Situation oder Blaupause für kommende Aufstände lehnen Sie entschieden ab.

Andreas Blechschmidt:

Ja, ein dreistündiger polizeifreier Raum ist weder im Ansatz der Auftakt einer vorrevolutionären Situation noch das Aufscheinen eines kommenden Aufstands. Ich will jetzt gar nicht bildungsbürgerlich um einen Blick ins Geschichtsbuch revolutionärer Kämpfe bitten, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass das Aussetzung einer polizeilichen Räumung das Aussetzung einer polizeilichen Räumung ist. Nicht mehr und nicht weniger.

Gegenwind:

Vielen Dank für das Interview!

Die Fragen stellte Gaston Kirsche.

Andreas Blechschmidt: „Gewalt. Macht. Widerstand.“ G20 - Streitschrift um die Mittel zum Zweck. rat - reihe antifaschistische texte Band: 31. Erschienen im Juni 2019. 12,80 Euro.

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