(Gegenwind 359, August 2018)

Kein Schlussstrich! NSU-Komplex aufklären und auflösen! Verfassungsschutz abschaffen! Rassismus in Behörden und Gesellschaft bekämpfen! Den aktuellen rassistischen Terror gegen Geflüchtete und Migrant_innen entgegentreten!
Demonstration „Kein Schlussstrich”,
Kiel am 18. Juli 2018 (Urteilsverkündung)

Urteile im NSU-Prozess:

„... bemüht, alle zu Einzeltätern zu machen”

Nach fünf Jahren endete der NSU-Prozess in München mit einem Urteil für die fünf Angeklagten. Wir sprachen darüber mit dem Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, Nebenklage-Vertreter einer Geschäftsfrau aus der Keupstraße in Köln, wo eine Nagelbombe explodiert war. Es ist das dritte Interview zu diesem Thema. Wer die vorigen Interviews nachlesen möchte, findet sie in den damaligen Heften: „Es wird eine zähe, langsame Beweisaufnahme” (Gegenwind 297, Juni 2013) - „Die Bundesanwaltschaft versucht, möglichst wenig Aufklärung zuzulassen” (Gegenwind 310, Juli 2014)

Gegenwind:

Du bist jetzt ein paar Jahre lang fast jede Woche nach München gefahren zum Prozess gegen den NSU. Jetzt ist das Urteil gegen die fünf Angeklagten verkündet worden. Bist Du mit dem Urteil gegen die Hauptangeklagte und die vier Mitangeklagten zufrieden?

Alexander Hoffmann:

Ich habe als Vertreter von Nebenklägern aus der Keupstraße in Köln am Prozess teilgenommen. Unsere Aufgabenstellung als Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage, unser Ziel in dem Prozess war nie alleine darauf beschränkt, eine Verurteilung oder eine möglichst hohe Verurteilung der Angeklagten zu erzielen. Unser Ziel war immer in erster Linie darauf ausgerichtet, umfassende Aufklärung der Gesamtzusammenhänge zu erzwingen. Unter diesem Gesichtspunkt bin weder ich noch meine Mandanten mit dem Urteil zufrieden. Das war aber auch schon vorher klar, denn das Gericht hat eine Aufklärung nur in sehr engen Grenzen zugelassen und hat sehr viele von unseren Beweisanträgen, die wir gestellt haben, die zu mehr Aufklärung hätten führen können, abgelehnt. Insofern war das nicht überraschend.

Es war sicherlich auch nicht überraschend, dass das Gericht, der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München der Anklage der Bundesanwaltschaft folgend die Hauptangeklagte, Frau Zschäpe, vollständig quasi entsprechend der Anklageschrift mit den Erweiterungen, die die Nebenklage erzwungen hat, verurteilt hat. Es war nicht überraschend, denn es passt ja zu der Lesart der Geschichte, die die Bundesanwaltschaft schreiben wollte. Die Bundesanwaltschaft hat nämlich von Anfang an gesagt, der NSU bestand nur aus drei Personen, von denen zwei, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, nun tot sind. Also nicht Einzeltäter, aber eine Kleingruppen-Theorie - und mit der Festnahme von Frau Zschäpe und dem Tod der beiden anderen gibt es den NSU, gibt es die bewaffnete Gruppe von Neonazis in Deutschland nicht mehr. Deswegen können sich alles beruhigen. Das war ja die Stoßrichtung der Bundesanwaltschaft, und es war relativ wahrscheinlich und relativ klar, dass das Gericht das bestätigen würde, das haben sie gemacht.

In Bezug auf die anderen Angeklagten sind wir teilweise sehr unzufrieden. Es gab die Verurteilung von Carsten Schulze, der damals noch als Heranwachsender mit Ralf Wohlleben die Ceska-Pistole besorgt hatte. Er ist verurteilt worden wegen Beihilfe zu neun Morden. Bei ihm ist Jugendrecht angewandt worden, er hat drei Jahre gekriegt. Das geht sicherlich in Ordnung. Es gibt einzelne NebenklägerInnen, die sogar gesagt haben, so wie er sich verhalten hat, relativ offen die Taten zugegeben und für Aufklärung gesorgt hat, hätte er auch eine Bewährungsstrafe bekommen können.

Dann gab es die Verurteilung von Holger Gerlach, der über einen langen Zeitraum von praktisch 10 Jahren die Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt unterstützt hat, und zwar mit falschen Papieren und mit anderen Sachen, auch mit der Lieferung einer Waffe. Das ist schon etwas abenteuerlich, wenn man ihn jetzt in diesem Prozess ausschließlich wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt hat und das Gericht in der Begründung auch noch ausführt, er hätte keine Kenntnisse von den genauen Taten gehabt. Das ist nach der Beweisaufnahme einfach nicht nachvollziehbar. Er hat ja selbst in den Urlauben, die sie gemacht haben, ganze Urlaubsteile mit den dreien verbracht, um sie auf den Stand über seine persönlichen Verhältnisse zu bringen. Sie sind ja immer mit seiner Identität gereist. Er hat ja zuletzt sogar noch im Jahr 2011 neue Papiere für sie besorgt. Nach unserer Bewertung der Beweisaufnahme war relativ klar, dass er eigentlich ein Teil dieser Gruppe war. Aber das war ja schon nicht angeklagt.

Beim Angeklagten André Eminger gab es die Verurteilung, die jetzt sicherlich am meisten und am kontroversesten diskutiert wird. Da ist es nochmal anders: Die Bundesanwaltschaft hat beantragt, ihn zu zwölf Jahren Haft zu verurteilen, und zwar einmal wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, zum zweiten wegen Beihilfe zu zwei Banküberfällen, wo mit seinen Papieren Fluchtfahrzeuge angemietet worden sind. Dann wegen Beihilfe zum versuchten Mord, weil mit seinen Papieren ein Wohnmobil angemietet worden ist, womit die Bombenlegung in der Probsteigasse in Köln, eine in einer Keksdose versteckte Sprengfalle in einer von Migranten betriebenen kleinen Laden gelegt worden ist. Dafür sollte er wegen Beihilfe an einem versuchten Mord verurteilt werden. Die letzte Tat war sicherlich so, dass man erhebliche Zweifel haben könnte, ob die Beweisaufnahme für eine Verurteilung reicht. Erstaunlich war es aber, dass das Gericht im letzten September genau wegen dieser Forderung der Bundesanwaltschaft im Plädoyer einen Haftbefehl gegen Eminger erlassen hat. Deshalb steht das Urteil, das jetzt gesprochen worden ist, in diesem Punkt in einem ganz krassen Widerspruch zum Haftbefehl im letzten September. Die Beweisaufnahme zur Probsteigasse war schon zwei Jahre abgeschlossen, als die Entscheidung getroffen worden ist. Und wegen einer Strafe von zweieinhalb Jahren, wie sie jetzt ausgesprochen worden ist, hätte man ihn sicherlich nicht in Untersuchungshaft nehmen können. Hier hat sich das Gericht eindeutig widersprochen, und ich muss sagen: Nach der mündlichen Urteilsbegründung leuchtet mir das immer noch nicht ein. Aber ganz davon abgesehen, hat das Gericht auch nicht verurteilt wegen der Beihilfe zu zwei Banküberfällen, und das ist nun gar nicht nachzuvollziehen. Denn wir wissen, dass Eminger bewusst war, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe keiner legalen Arbeit nachgingen, aber trotzdem immer Geld hatten. Er wusste, dass sie immer bewaffnete waren, die Waffen waren allgegenwärtig. Es muss ihm einfach klar gewesen sein, dass sie Banküberfälle begingen. Und wenn er ihnen dann ein Fahrzeug zur Verfügung stellt, muss das in seinem Vorsatz gestanden haben. Hier hat das Gericht, und das ist wirklich geschmacklos aus meiner Sicht, sich einfach vollständig auf die Angaben der Angeklagten Zschäpe gestützt, die eben - natürlich, um ihren alten Freund zu schützen - gesagt hat, er habe erst zu einem sehr späten Zeitpunkt erfahren, dass sie Straftaten begehen, und nach diesem Zeitpunkt hat er eben nur noch einmal eine Bahncard übergeben. Er ist jetzt also ausschließlich wegen der Zurverfügungstellung einer Bahncard verurteilt worden. Dafür ist eigentlich dann zweieinhalb Jahre viel zu viel. Diese Verurteilung ist überhaupt nicht nachzuvollziehen.

Die letzten Verurteilung, die es hier gab, die zehn Jahre für Beihilfe zum neunfachen Mord für Ralf Wohlleben, ist gleichwohl überhaupt nicht nachvollziehbar. Es ist nicht erklärlich, warum das Gericht über zwei Jahre unter der Forderung der Bundesanwaltschaft bleibt. Es ist deutlich geworden, dass Ralf Wohlleben gemeinsam mit Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe und noch anderen Personen eine Vereinigung gegründet hat, noch vor deren Abtauchen im Jahr 1998, und dass diese Vereinigung auch Straftaten begangen hat. Es war so, dass nach der Durchsuchung der Garage, in der diese Bomben und das Archiv der Gruppe gefunden worden ist, Wohlleben selbst erst einmal überlegt hat, gemeinsam mit den anderen abzutauchen, und er hat in der nachfolgenden Zeit eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der drei gehabt. Er hat nicht nur die Ceska besorgt, er hat ihnen eine weitere Waffe zukommen lassen. Und er hat sie auch später noch getroffen, nachdem der V-Mann Brandt aufgeflogen war, um mit ihnen zu diskutieren, was sich für sie verändert. Das sind Sachen, die wir wissen, die bewiesen sind. Und damit ist völlig klar, dass er eine ganz zentrale Stütze war. Nun hat die Bundesanwaltschaft ihn ja auch nicht als Mitglied der Gruppe angeklagt. Aber wenn man alles das zusammen nimmt, hätte man die Strafe wegen neunfacher Beihilfe zum Mord sicherlich höher ausfallen lassen können und müssen. Wobei das sicherlich nicht unser Hauptanliegen ist, ob hier zwei Jahre mehr oder zwei Jahre weniger ausgeworfen werden.

Das Bittere dabei ist, dass in dem Versuch jetzt auch des Gerichts, den NSU zu einer winzigen Einzeltätergruppe umzudeuten, damit der Bevölkerung gesagt werden kann: „Wir haben hier kein Problem mit bewaffneten Nazi-Gruppen”, dass in diesem Versuch ein fatales Signal für die Nazi-Szene liegt. Man kann also bewaffnete bewaffnete Gruppen der Nazis, die auch Morde begehen, unterstützen, man kann daran teilnehmen, und hat sehr sehr große Chancen, dass man keine adäquate, keine hohe Strafe bekommt, weil der Staat insgesamt sich immer bemüht, die tatsächlich bestehenden Gruppenstrukturen zu verdecken und alle zu Einzeltätern zu machen. Das ist ein fatales Signal.

Gegenwind:

Wie hat denn Beate Zschäpe ihren Prozess geführt? Sie hat in der Mitte der fünf Jahre eine Erklärung abgegeben und sich als unwissend dargestellt: Sie hat den Haushalt gemacht und wusste nicht viel. Andererseits hat sie versucht, ihre drei Anwälte zu entlassen und zwei neue verlangt und bekommen. Das machte ja eher den Eindruck, dass sie selbst doch aktiv ist.

Alexander Hoffmann:

Vor dem Hintergrund des Prozessverhaltens der Beate Zschäpe ist es noch weniger nachvollziehbar, dass das Gericht wesentliche, auch entlastende Punkte aus den Angaben von Zschäpe gezogen hat, beispielsweise für André Eminger. Das ist einfach absurd. Was klar ist: Im Wesentlichen hat Beate Zschäpe geschwiegen beziehungsweise Lügen erzählt. Sie hat geschwiegen, sie hat beim ganzen Prozess bei allem, was sie erklärt hat, was ihre Anwälte erklärt haben, keinen einzigen ihrer Kameraden oder Kameradinnen belastet. Sie hat keinerlei Aufklärung geleistet über die Personen, die ihr, Böhnhardt und Mundlos Waffen besorgt haben, Pässe besorgt haben, Unterschlupf gegeben haben, Geld besorgt haben. Sie gab keinerlei Informationen, auch nicht über den Hauptmieter der Wohnung, in der sie gewohnt haben. Auch nicht über ihre Freundin, Susann Eminger, die Ehefrau des Angeklagten Eminger. Sie hat an der Stelle gar nichts zur Aufklärung beigetragen. In ihrer durch ihre neuen Anwälte verlesenen Erklärung hat sie beispielsweise behauptet, sie wäre am Ende Alkoholikerin gewesen. Das ist sogar widerlegt worden. Wie man auf diese Angaben überhaupt etwas stützen kann, wie es das Gericht gemacht hat, ist für mich nicht nachvollziehbar, ist dubios.

Das Hauptanliegen von Beate Zschäpe war auf der einen Seite, niemanden von ihren Kameradinnen und Kameraden zu belasten, und auf der anderen Seite, ihre eigene Verantwortung gering zu reden, sich als geschlagene Freundin eines Gewalttäters darzustellen, die keinerlei Einfluss hatte auf das, was geschehen ist. Meine Bewertung ist, diese gesamte Erklärung von Beate Zschäpe ist widerlegt und Unfug, und darauf kann man gar nichts stützen. Was man erkannt hat ist, dass Beate Zschäpe eine sehr starke Persönlichkeit ist, dass sie durchsetzungsstark ist, dass sie sich auch gegen die drei Verteidiger hat absetzen können, dass sie ihre Spielchen mit den Verteidigern und mit dem Gericht gespielt hat. Und dass sie eben das Gegenteil von dem ist, was sie laut ihrer Erklärung sein sollte. Sie ist eine starke Persönlichkeit, sie kann ihre Ziele sehr genau verfolgen und sich durchsetzen.

Gegenwind:

Kann denn so eine Verteidigung überhaupt funktionieren? Es gab drei Verteidiger, mit denen die Angeklagte nicht spricht. Und zwei Verteidiger, die einen Großteil des Prozesses gar nicht mitbekommen haben.

Alexander Hoffmann:

Die Verteidigung hat ja lange Zeit gut funktioniert, und es mag so sein, dass die Verteidigung dann so nicht funktioniert hat. Aber das war ja in den Händen von Beate Zschäpe. Es hätte ihr offen gestanden, jederzeit mit ihren Alt-Verteidigern zu sprechen. Eine Zusammenarbeit der Alt- mit den Neu-Verteidigern möglich zu machen. Wenn sie das verhindert, dann verhindert sie eine optimale Verteidigung. Das darf jede Angeklagte und jeder Angeklagte. Das führt aber sicherlich nicht dazu, dass hier ein Prozess abgebrochen werden muss. Sonst stünde es ja im Ermessen der Angeklagten zu entscheiden, wann ein Prozess zu Ende kommt oder nicht.

Die Angeklagte ist frei in der Entscheidung, ob sie eine Aussage machen will oder keine Aussage machen will oder mit einem Anwalt zusammen arbeitet oder nicht. In anderen Prozessen gab es deutlich stärkere Einschränkungen, dass zum Beispiel Angeklagte von Anfang an einen Verteidiger gegen ihren Willen aufgezwungen wurde. Hier, im NSU-Prozess, war das nicht so. Frau Zschäpe hat sich ihre ersten drei Verteidiger freiwillig ausgesucht. Sie hat lange Zeit gut mit ihnen zusammen gearbeitet. Sie hat sich dann zwei weitere Verteidiger freiwillig ausgesucht. Sie hatte fünf Verteidiger zur Verfügung. Und wenn sie dann eine optimale Verteidigung unmöglich macht, ist das ihr Problem.

Gegenwind:

Wie haben denn die Verteidiger der vier anderen Angeklagten gearbeitet? Haben die einzeln für sich gearbeitet? Oder gab es eine Zusammenarbeit? Es waren ja richtige Szene-Anwälte dabei.

Alexander Hoffmann:

Die Verteidigung des Angeklagten Wohllebens, das waren drei Anwälte, von denen zwei originär aus der rechten Szene stammen und der dritte sich sehr rechts geäußert hat. Die haben gemeinsam gearbeitet, bis hin zum Plädoyer. Es war ein mit Hitler-Zitaten und Ähnlichem durchzogenen Plädoyer des Verteidigers Marat. Die haben sich im Wesentlichen drauf gestützt zu sagen, es sei nicht erwiesen, dass die Ceska, die Wohlleben besorgt hat, auch die Ceska war, mit der die Morde durchgeführt worden sind. Das war keine besonders tiefgehende oder erfolgversprechende Verteidigung. Die Tatsache, dass Rolf Wohlleben jetzt nur zehn Jahre bekommen hat, liegt mit Sicherheit nicht an der Arbeit der Verteidiger, sondern ausschließlich an dem Kalkül des Gerichts, dass man die Bedeutung der Unterstützer niedrig halten muss, um diese Trio-These, dass der NSU nur aus drei Personen bestand, zu stärken.

Die Verteidigung von Holger Gerlach war im Wesentlichen damit beschäftigt, ihn am Schweigen zu halten. Er hätte, wenn er ausgesagt hätte, sicherlich sich selbst deutlich schaden können. Wenn wir ihn hätten befragen können, wäre deutlich geworden, dass er Teil der Gruppe war.

Die Verteidigung von Carsten Schulze hat sich darauf bezogen, dass er nach Jugendstrafrecht zu verurteilen sei. Und sie haben versucht öffentlich darzustellen, dass er mit der Nazi-Szene nichts mehr zu tun hat, weil er jetzt in einer anderen Szene lebt.

Und die Verteidigung André Eminger hat im ganzen Prozess eigentlich fast gar nichts gemacht, bis aufs Ende: Nach dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft haben sie ein paar Befangenheitsanträge und Ähnliches gestellt, aber die hatten wohl die Strategie, sich zu ducken und zwischen den anderen vielleicht nicht gesehen zu werden. Das war aber sicherlich auch nicht erfolgreich, auch hier war es im Wesentlichen ein mir noch nicht ganz nachvollziehbares Kalkül des Gerichts, warum man Eminger nur zu zweieinhalb Jahren verurteilt hat.

Gegenwind:

Wie hat denn das Gericht insgesamt agiert? Die Bundesanwaltschaft wollte eine sehr begrenzte Klage. Die Nebenklage wollte mehr Aufklärung. Wem ist das Gericht mehr entgegengekommen?

Alexander Hoffmann:

Das Gericht an sich war immer nur aktiv durch den vorsitzenden Richter, der die Verhandlung geleitet hat. Der hat sich an manchen Stellen doch davon überzeugen lassen, die Beweisaufnahme etwas weiter zu fassen als von der Bundesanwaltschaft vorgesehen. Er hat zugelassen, dass eine Beweisaufnahme zur Unterstützung der Zschäpe in Chemnitz in Sachsen durchgeführt worden ist, dass dargelegt und bewiesen werden konnte, dass sie in Chemnitz von der lokalen Gruppe von „Blood and Honour” vollständig unterstützt worden sind. Aber Sachen, die weiter gingen, hat das Gericht vollständig abgeblockt. Insbesondere auch alle Beweisanträge, die auf eine Mitverantwortlichkeit staatlicher Stellen hingezielt haben, hat das Gericht mit zum Teil abstrusen Argumentationen abgeblockt.

Gegenwind:

Hat die Bundesanwaltschaft Hinweise verfolgt, die sie im Laufe des Prozesses bekam? Oder wollten sie das eher nicht?

Alexander Hoffmann:

Sie wollten eher nicht. Die Bundesanwaltschaft behauptet immer, sie würde weiteren Hinweisen in einem sogenannten „Unbekannt-Verfahren” nachgehen. Wir erhalten keine Akteneinsicht. Es entsteht der Eindruck, dass die Bundesanwaltschaft einfach nur darauf wartet, die laufenden Verfahren gegen neun Personen einzustellen. Mit dem Urteil, das jetzt mündlich verkündet wurde, können sie das eigentlich gut machen. Denn wenn schon Eminger und Wohlleben nur in sehr geringem Umfang Unterstützung geleistet haben sollen, dann bleibt kein Raum mehr, um andere Personen, die unterstützt haben, noch zu verfolgen. Und alle anderen Informationen werden wahrscheinlich in diesen Unbekannt-Verfahren verschwinden, damit man sie nicht an die Öffentlichkeit geben muss, aber doch sagen kann, „wir ermitteln ja”.

Da ist nichts zu erwarten, die Bundesanwaltschaft will keine Aufklärung. Sie verhindert im Gegenteil aktiv eine Aufklärung. Es werden beispielsweise der Nebenklage Aktenbestandteile verweigert mit der Begründung, die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Nazis, gegen die dort ermittelt würde, wären höher zu bewerten als das Informations- und Aufklärungsinteresse der geschädigten Nebenkläger.

Gegenwind:

Wie hat denn die Nebenklage agiert? Das war ja ein bunt zusammengesetzte Gruppe von Anwältinnen und Anwälten. Ein paar haben sich sehr stark öffentlich dargestellt, andere gar nicht. Gab es da eine Zusammenarbeit? Oder gab es mehrere Gruppen und Strategien?

Alexander Hoffmann:

Es gab verschiedenen Gruppen. Die größte Gruppe war die Gruppe derjenigen, die sehr unauffällig geblieben sind, im Wesentlichen ihre Mandanten informiert haben und ansonsten nicht aktiv geworden sind. Es gab dann mehrere Gruppen, beispielsweise die Nebenklagevertretung der Familie Yozgat aus Kassel, die sehr aktiv war. Und es gab eine weitere, sehr gemischte Gruppe von Nebenklage-Vertretern, der auch ich und mein Kollegen Björn Elberling angehört haben, die ganz massiv Anträge gestellt haben, die den NSU-Komplex insgesamt aufklären sollten, auf die Verquickung der hier Angeklagten mit Neonazi-Netzwerken gezielt hat, die die Verantwortlichkeit von staatlichen Stellen ins Auge genommen hat, die den Einsatz von V-Leuten thematisierte. Wir haben sehr viele Anträge gestellt, teilweise auch Unterstützung von anderen Nebenklage-Vertretern erhalten.

Gegenwind:

Wie groß ist denn jetzt der NSU? Bei der Gruppe wurde ja eine Liste gefunden mit möglichen Anschlagszielen, die so lang war, dass sie kaum von zwei, drei Leuten alleine hergestellt worden sein kann. Gibt es ein Netzwerk, das immer noch gefährlich ist?

Alexander Hoffmann:

Wir gehen davon aus, dass es eine Gruppe NSU gab, die deutlich größer war als die drei Personen. Und dass diese Gruppe in ein Netzwerk eingebunden war, ein Netzwerk von militanten Neonazis, die sich gegenseitig unterstützen, aber teilweise auch unabhängig voneinander Aktivitäten durchführen. Wir konnten nicht klären und wir haben keine Ansatzpunkte dazu, wie groß dieses Netzwerk tatsächlich ist. Man muss aber darauf hinweisen, dass die Theorie, die ideologische Begründung von Anschlägen, von bewaffnetem Kampf gegen Nicht-Deutsche, gegen den politischen Gegner, in der Nazi-Szene insgesamt sehr, sehr weit verbreitet ist und getragen wird von Mitgliedern der NPD über Gruppen wie „Blood and Honour” und deren bewaffneten Arm „Combat 18” bis weit hin in die Szene, aus der sich teilweise auch die AfD speist. Und die propagiert auch sowas wie den Kampf gegen „Umvolkung”, also gegen den herbeiimaginierten „Volkstod”, den Überlebenskampf für die weiße Rasse. Diese Art von Ideologie macht es fast zwingend notwendig, dass man die „Fremden” vertreibt, wenn man als „Rasse” selbst überleben will. Diese Ideologie ist sehr, sehr weit verbreitet. Und es gibt nicht erst seit zehn Jahren, sondern im Grunde genommen seit Anbeginn der Bundesrepublik immer wieder Gruppen, die dann auch bewaffnete und terroristische Aktionen durchführen. Und wir haben in den letzten 15 Jahren gesehen, dass auch die politischen Gruppen, aus denen Böhnhardt, Mundlos, Tschäpe, Eminger, Gerlach, Wohlleben kamen, dass diese Gruppen ja weiter aktiv geblieben sind. Und wenn man es politisch betrachtet, kann man schon sehen, dass das Netzwerk, aus dem der NSU entstanden ist, dasselbe Netzwerk ist, aus dem die Brandanschläge und Mordanschläge in den letzten drei Jahren in ganz Deutschland begangen worden sind.

Gegenwind:

Wie weit hat der Verfassungsschutz mit dem NSU und der Nicht-Verhinderung von Anschlägen zu tun? Warum sind bestimmte Untersuchungsberichte so lange gesperrt?

Alexander Hoffmann:

Da müssen wir trennen: Die Berichte, die jetzt nach Pressemeldungen für über hundert Jahre gesperrt worden sind, betreffen Hessen und den Fall des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Temme, der am Tatort im Internet-Café anwesend war, als Halil Yozgat umgebracht worden ist.

Insgesamt muss man feststellen: Die Rolle des Verfassungsschutzes wollten wir aufklären. Und diese Aufklärung ist nicht nur im Prozess, sondern auch in Untersuchungsausschüssen verhindert worden, weil der Verfassungsschutz, also der Inlands-Geheimdienst sein Material nicht hergegeben hat. Und weil die Politik das Aufklärungs-Versprechen nicht eingehalten hat und nicht erzwungen hat, dass diese Materialien und diese Akten herausgegeben worden sind. Was wir wissen ist, dass in der Umgebung der Personen, von denen wir wissen, dass sie Teil des NSU waren, fast zwei Dutzend V-Leute aktiv waren. Wir wissen, dass Leute aus dem engsten Umfeld von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in Kontakt standen mit Verfassungsschutz-Mitarbeitern beziehungsweise V-Leuten, und dass es hier ein umfangreiches Wissen gab. Wir wissen auch, wenn wir das nachweisbare Wissen der Ämter für Verfassungsschutz und der Polizei nebeneinander legen, man erkennen kann, man hätte frühzeitig eingreifen können, wenn man das wirklich gewollt hätte, wenn man es priorisiert hätte, und man hätte dadurch Straftaten des NSU verhindern können.

Gegenwind:

Was ist denn absehbar, was jetzt noch passiert? Gibt es Strukturen von denen, die aufklären wollen, jetzt weiter aufzuklären? Oder ist mit dem Ende des Prozesses auch ein Abschnitt der Aufklärung beendet?

Alexander Hoffmann:

Es gibt Strukturen, es gibt die Nebenkläger und ihre Vertreter. Es gibt antifaschistische Initiativen. Es gibt Vertreter aus der Politik, die sich zum Ziel gesetzt haben, dass diese Aufklärung jetzt nicht beendet wird. Und die, obwohl jetzt natürlich viel weniger Möglichkeiten da sind, diesen Kampf um Aufklärung weiter betreiben wollen. Dazu gehört es ja auch zu fordern, dass endlich in Hamburg auch ein Untersuchungsausschuss eingerichtet wird. Dazu gehört auch der Untersuchungsausschuss in Mecklenburg-Vorpommern. Hier wird sicherlich auch weitere gesellschaftliche Unterstützung notwendig sein, damit das nicht nur im Hinterzimmer gemacht wird, sondern tatsächlich der öffentliche Druck so stark ist, dass weitere Aufklärung betrieben wird. Ich möchte nur erinnern an den Druck, der dazu geführt hat, dass nach dreißig Jahren die Ermittlungen zum Oktoberfest-Attentat wieder aufgenommen werden mussten. Hieran muss man festhalten.

Ich glaube aber, dass es nebenher auch eine gesellschaftliche Verantwortung gibt, sich mit diesen Fragen weiter zu beschäftigen. Denn die Verbrechen des NSU und die danach folgende von institutionellen Rassismus geprägte Ermittlungsarbeit der Polizeibehörden, die ja in allen Städten, in denen Straftaten passiert waren, fast deckungsgleich in erster Linie gegen die Opferfamilien geführt worden sind - das kann ja kein Zufall sein. Das liegt daran, wie die Polizei und die Staatsanwaltschaft bei uns arbeitet. Das liegt an tief in die Ermittlungsmethoden eingegrabene rassistische Vorstellungen. Das hat eine Spaltung der Gesellschaft bewirkt. Das hat einen massiven Vertrauensverlust von Migranten in die Tätigkeit von Polizei und Justiz in Deutschland gegeben, der hält an. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, diesen Vertrauensverlust wieder wettzumachen, daran zu arbeiten, dass wir uns als Gesellschaft näher kommen und dass auch wieder ein stärkeres Vertrauen in Institutionen der bundesdeutschen Gesellschaft erwachsen kann. Dazu gehört auf der einen Seite die weitere Aufklärung. Dazu gehören Veränderungen in der Arbeit der Polizei. Dazu gehört aber auch ein Eingeständnis, dass wir tatsächlich innerhalb der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Arbeit rassistische Vorurteile haben, dass wir mit denen umgehen müssen. Und dazu gehört auch endlich ein Ernstnehmen der Ängste und Sorgen der Opfer solcher Straftaten. Es muss vorbei sein, dass man diese Leute einfach alleine lässt. Das ist eine wichtige Aufgabe, die kann sicherlich nicht ein Ausschuss oder eine Gruppe oder eine kleine Gesetzesänderung bewirken, das muss eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein.

Gegenwind:

Hast du irgendwelche Signale erhalten, dass es zum Beispiel Auswirkungen auf die Polizeiausbildung hat, wenn die Polizei zehn Jahre lang versagt hat?

Alexander Hoffmann:

Ich habe bisher keine Kenntnisse von ernsthaften und grundlegenden Veränderungen der Polizeiarbeit oder der Polizeiausbildung. Ich schaue mir das relativ genau an. Im Gegenteil, die größten Veränderungen, die es bisher gab, waren verkehrt. Die Kompetenzen der Ämter für Verfassungsschutz sind gestärkt worden. Es ist ihnen jetzt erlaubt, dass sie V-Leute haben, die Straftaten begehen. Und so weiter. Das ist fatal, und es ist ein falsches Signal.

Gegenwind:

Vielen Dank!

Interview: Reinhard Pohl

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