(Gegenwind 326, November 2015)

Hans-Martin Kühnel

Rote Flora:

Hinter der Fassade

In Hamburg kennen alle die Fassade der auch bundesweit bekannten Roten Flora, aber nur wenige die Aktiven, welche „den Kasten mit am Laufen halten” wie es Hans Martin Kühnel, Jahrgang 1960, ausdrückt. Er engagiert sich seit 26 Jahren unbezahlt in Hamburgs bekanntestem autonomen Zentrum Rote Flora. Und ist damit ebenso lange dabei, wie die Flora rot und besetzt ist. Durch die ganzen Jahre engagierte er sich neben Studium und Lohnarbeit für diesen Ort der Subkultur und des radikalen linken Protests.

Die erste Nacht der Besetzung auf den 1. November 1989 hat Hans Martin nicht in dem seither besetzten ehemaligen Varietétheater Flora am Schulterblatt im Hamburger Schanzenviertel verbracht. Er stand vor einer nahegelegenen Polizeiwache und beobachtete, ob dort Aktivitäten für eine Vorbereitung zur Räumung stattfanden: „Damals gab es ja noch keine Handys, das war alles schon sehr aufwändig”, meint er und lacht. Mit 29 Jahren gehörte er damals zu den älteren unter den BesetzerInnen. „Die ersten fünf, sechs Jahre habe ich mich voll reingehängt, war jede Woche etwa 20 Stunden im Kasten, fast jeden Abend, neben Studium und Jobben”, so Hans Martin mit einem Lachen: Das war damals neben dem Studium ja noch alles möglich.

Ursprünglich kommt er aus Cuxhaven, der kleinen Hafenstadt an der Elbemündung. Seine Eltern wählen CDU, sein Vater war Pastor. Er war als Jugendlicher politisch interessiert, konnte seine Kriegsdienstverweigerung pazifistisch begründen. Nach dem Ersatzdienst im Altersheim ging es zum Studium 1981 nach Hamburg, „dort habe ich mich politisiert”. Im ersten Seminar im Hauptfach Geschichte ging es gleich um die kubanische Revolution, er wurde in den Gremien der studentischen Interessenvertretung aktiv. Erstsemestergruppe, Fachschaftsrat, Studierendenparlament. „Finde ich nach wie vor richtig, das gemacht zu haben, wobei ich heute diese Stellvertreterpolitik kritischer sehe”, stellt er rückblickend fest. Auch im gerade gegründeten, ökosozialistisch orientierten Landesverband der Grünen war er Mitglied. Die hießen in Hamburg „Grün-Alternative Liste”, und seine Unigruppe beteiligte sich am „Blockadeplenum”, dem radikaleren Flügel der Anti-Kriegs-Bewegung in der Stadt. Als im Juni 1986 eine spontane Anti-Atomkraft-Demonstration von Polizeikräften umstellt und festgesetzt wurde, war er dabei und musste viele Stunden im „Hamburger Kessel” ausharren: „Wer noch Illusionen über einem Rechtsstaat hatte, verlor sie hier”, erinnert er sich. Blanke Repression, sie wurden von den Polizisten schikaniert, ohne Trinken, Essen und Toilettenzugang zusammengepfercht. Ein einschneidendes Erlebnis, dass seine Distanz zum Staat vergrößert hat.

1987 war ein bewegtes Jahr für Hamburgs Linke: Es war das Jahr der Barrikadentage rund um die besetzten Häuser an der Hafenstraße. Eigentlich galt in Hamburg die vom rechtssozialdemokratischen Innensenator und zweiten Bürgermeister Alfons Pawelczyk verkündete Doktrin, dass kein Haus länger als 24 Stunden besetzt bleibt, bevor es polizeilich geräumt wird. Die Besetzung an der Hafenstraße begann heimlich mit einzelnen Wohnungen, 1987 wohnten in den sechs Häusern über 100 BesetzerInnen aus der autonomen und antiimperialistischen Szene der Stadt, die bereit waren, die Häuser unter hohem persönlichen Risiko militant zu verteidigen. Im Herbst 1987 spitzte sich die Lage zu, die Polizeiführung bereiteten die Räumung vor, UnterstützerInnen errichteten rund um die Häuser große, massive Barrikaden. Der Erste Bürgermeister, Klaus von Dohnanyi, SPD, konnte seine Parteigenossen um Pawelczyk nur mit Mühe vom Showdown abhalten. Die Hamburger Grünen hatten Monate zuvor beschlossen, die Akzeptanz der Besetzungen in der Hafenstraße bei möglichen Koalitionsverhandlungen mit der Hamburger SPD nicht zur Bedingung zu machen. Für Hans Martin, der die Besetzungen unterstützte, war dies der Grund, aus den Grünen auszutreten. Während der Solidaritätskampagne für die Hafenstraßenbesetzungen hatte er die aktive und durchsetzungsfähige autonome Szene näher kennen gelernt. „Ich hielt es grundsätzlich für richtig, die Häuser militant zu verteidigen und dafür in Kauf zu nehmen, sich dadurch gewisse Probleme einzuhandeln”, erinnert er sich. Er begann, sich an den Debatten und Aktivitäten der Autonomen Szene zu beteiligen. Die hatte nach der erfolgreichen Verhandlungslösung für die Hafenstraße in Hamburg einigen Zulauf und propagierte „den Kampf in die Viertel zu tragen”, sich auf Stadtteilebene zu organisieren. So gab es etwa eine autonome Zeitschrift „Schanzenleben”, die auf der Straße verkauft im Schanzenviertel verkauft wurde. 1988 plante ein Musicalunternehmen, auf dem Schulterblatt ein Musicaltheater zu bauen - gigantisch, mit 3.000 Plätzen, in dem täglich das „Phantom der Oper” aufgeführt werden sollte. Das alte Varietétheater Flora sollte dafür nur als Kopfbau erhalten bleiben und einen riesigen Anbau bekommen. Die in Hamburg regierende SPD förderte das Vorhaben über alle lokalen Einwände hinweg, um die Stadt als Musicalstandort noch weiter auszubauen. Breiter Protest regte sich, Autonome konnten bei ihren zahlreichen militanten Aktionen gegen das Bauvorhaben und die massiv präsenten Polizeieinheiten mit breiter Akzeptanz im Stadtteil rechnen.

Hans-Martin Kühnel

„Da ging meine Flora-Geschichte los, weil ich Teil des Widerstands gegen das Phantom der Oper war”, so Hans Martin, „auch bei den Scharmützeln war ich da”. Im Sommer 1988, als klar war, dass das Musicaltheater außerhalb des Viertels an einer Hauptstraße errichtet wird, begannen in autonomen Gruppen Planungen für eine Nutzung des Flora-Theaters. Er wurde angesprochen, ob er bei einer Motorradselbsthilfegruppe mitmachen würde: „Dann haben wir uns in der Flora getroffen, bevor wir das Gebäude überhaupt übernommen hatten. Wir sind über den Zaun geklettert.” So wurde das Gebäude neu belebt, 1989 bot der Oberbaudirektor der Stadt Gruppen aus dem Stadtteil das Gebäude zur zeitweiligen Zwischennutzung an, als Zugeständnis an den breiten Protest im Stadtteil, um die Wogen nach der Konfrontation zu glätten. „Wir waren in einer Art Hochstimmung, nach dem wir gegen das Phantom der Oper gewonnen hatten”, erinnert er sich gerne.

Er war zwar schon 29 Jahre alt, aber die Besetzung und der Protest davor gehören für ihn zu den „prägendsten Erfahrungen”. Dabei war er damals „noch nicht so häufig auf dem Plenum”, dem wöchentlichen Treffen, auf dem bis heute mittwochs alle wichtigen Entscheidungen fallen. Er baute im Parterre Räume mit aus für die Motorradselbsthilfe und im ersten Stock für die „Volxküche”. Die Werkstatträume werden bis heute genutzt, es gibt feste Öffnungszeiten, an denen jedeR zum Schrauben vorbeikommen kann. Die von der Stadt für sechs Wochen angebotene Zwischennutzung endete am 31. Oktober 1989, „danach, am 1. November, wurde das Gebäude besetzt”. Das Schanzenviertel war noch nicht gentrifiziert, sondern ein Arbeiterviertel, das „ganz anders funktioniert hat als jetzt”. Es gab viele politische Gruppen, Frauen-, Internationalismus- und Antifagruppen, weitaus mehr als heute, welche die Florabesetzung mitgetragen haben und die Räume dort nutzten. Die damals kursierende Bezeichnung „unser Viertel” sah und sieht er aber kritisch: „Wir waren viele, aber ich hatte nie das Gefühl, dass wir die Mehrheit im Viertel waren, auch wenn wir wohlgelitten waren. Aber so diesen Begriff ‚Unser Viertel’ fand ich immer ein bisschen übertrieben”. Eine für Hans Martin typische Aussage - er äußert sich immer etwas skeptisch, hinterfragend zu allzu optimistischen Aussagen seines eigenen politischen Spektrums. Großsprecherei ist nicht Seins, eher eine zurückhaltende Bestimmtheit.

So ist die Rote Flora für ihn ein idealer Ort, um sich zu engagieren, den hier trifft sich der selbstkritische Flügel der Hamburger Autonomen, der auch mal eigene Gewissheiten verabschiedet, wenn es dafür gute Gründe gibt.

Dazu gehört auch, mal unterschiedlicher Meinung zu sein, etwa bei der Frage, für wen die Rote Flora zur Nutzung offen stehen sollte: „Obwohl ich mich als Autonomer verstehe, gehöre ich zu denen, die den Kasten nicht als rein autonomen Kasten wollen”. Sondern als Ort für verschiedene Leute aus dem Stadtteil. In der Anfangszeit der Besetzung veranstaltete Hans Martin etwa gemeinsam mit Anderen die „Altennachmittage” und die „Erzählcafés”, für Anwohnende, die früher vielleicht schon im Varietétheater Flora waren. „Die Parole aus dem Widerstand - Flora für Alle, sonst gibt's Krawalle - habe ich wirklich ernst genommen”, betont er, „Damit meinte ich nicht wirklich ‚Alle’, aber auch nicht nur den autonomen Sumpf”. Zur Motorrad- und Fahrradselbsthilfe kommen eh immer die verschiedensten Leute, aber er übernimmt auch weitere Verantwortung für eine Öffnung der Flora: schon lange ist er im Stadtteilarchiv St. Pauli aktiv, dass auch Rundgänge im angrenzenden Schanzenviertel veranstaltet. Viermal im Jahr führt er so Interessierte durch die Rote Flora, auch bei den Tagen der offenen Tür versucht er so, Besuchenden die Geschichte und das Selbstverständnis der Roten Flora nahe zu bringen. „Ich glaube, Leute, die mit mir ganz skeptisch in die Rote Flora reingehen, kommen anders raus, als sie reingegangen sind.” Dabei hilft ihm auch sein ruhiges, offenes Auftreten, sein Interesse an einer gleichberechtigten Kommunikation. Und seine langjährige Aktivität in der Roten Flora: Er kann von Beginn an berichten.

Aktiv beteiligt er, der beruflich als Buchhalter arbeitet, sich außerdem an der Verwaltungsarbeit, und: „ich baue auch immer noch, organisiere den Kasten mit.” Der Schornsteinfeger, der Wasserableser und viel andere kennen ihn und rufen bei ihm an. Auch wenn es darum geht, dass Geld zusammenkommt, damit „solche Dinge bezahlt werden können - dass ist meine selbstgewählte Aufgabe”. In der Flora wird niemand bezahlt, alle Aufgaben werden unentgeltlich erledigt. Damit die Selbstbestimmung nicht eingeschränkt wird. Denn wenn Jobs und Lohn an der Fortexistenz der Roten Flora hängen würden, würde dies Abhängigkeiten schaffen, die möglicherweise den Umgang mit der Besetzung beeinflussen, meint er und erklärt: „So hängt keine Existenz am Fortbestand der Roten Flora und wir müssen darauf keine Rücksicht nehmen.”

Früher wurde er mal als „Hausmeister” der Roten Flora bezeichnet, „dass ist zum Glück lange vorbei”. Denn es soll keine Hierarchien geben und eine gemeinsame Verantwortung für das Gebäude und seine Instandhaltung. Das funktioniert seit 25 Jahren ganz gut. Wer die Rote Flora von innen kennen lernt, verabschiedet sich schnell vom Vorurteil, Autonome würden nicht Arbeiten, alles Zerstören wollen, seien destruktive Chaoten. Hans Martin schätzt die geteilte Verantwortung, die soziale Bereitschaft, ohne Bezahlung, Belohnung mitzuarbeiten. Trotzdem ist er weniger als früher im Gebäude. „Ich habe nicht mehr die Energie, Vieles müssen Andere, Jüngere machen.” Dabei ist er nach wie vor viel auf Achse. Nicht nur für die Rote Flora. Seine Freundin wohnt in der Lüneburger Heide, dort stehen auch seine Bienen, er ist Hobbyimker. Seinen Honig gibt er an Bekannte weiter. Manchmal fehlt die Zeit für die Freundin, meint er. Denn für den Lebensunterhalt - und weil er gebraucht wird - jobbt er nebenbei noch ein paar Stunden die Woche als Hausmeister im Kinderladen „Krokophantsie”. Und seit zweieinhalb Jahren baut er einen neuen Kollektivbetrieb mit auf. „Aroma Zapatista” verkauft Kaffee von Kooperativen aus dem Aufstandsgebiet der Zapatistas in Südmexiko. Auch die zapatistischen RebellInnen kämpfen gegen Unterdrückung, Fremdbestimmung und Ausbeutung, für Autonomie - wie die Aktiven der Roten Flora. Davor hat er bereits in zwei genossenschaftlichen Betrieben gearbeitet: „Ich habe davor auch so gearbeitet, dass ich keinen Schaden angerichtet habe.” Unschön findet er die niedrige Rente, die ihn erwartet. Aber Kleinkriegen lässt er sich davon nicht. Er ist sozial stark eingebunden. Bevor er in Urlaub fährt, besucht er am Tag zuvor noch die kranke Mutter seiner Freundin, bringt Farbe im Kinderladen vorbei und trifft sich mit einem Anwalt der Roten Flora. Er ist immer ein bisschen auf dem Sprung, aber: „jeden Tag gönne ich mir eine Auszeit mit einer Zeitung im Café”. Auf die Frage, ob ihm dass nicht manchmal zu viel wird, erwidert er verschmitzt: „Das ist nicht ganz altruistisch. Durch meine Hilfsbereitschaft bekomme ich auch viel zurück.” Durch die soziale Einbindung hatte er nie das Gefühl, ein Outcast zu sein, sondern immer: Mitten im Leben zu stehen, als radikaler Linker.

Gaston Kirsche

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