(Gegenwind 297, Juni 2013)

Wolf Wetzel: Der NSU-VS-Komplex
Wolf Wetzel: Der NSU-VS-Komplex.
Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf? Unrast-Verlag, Münster 2013,
130 Seiten, 12 Euro.

Buchvorstellung

Staat und Nazis, Nazis und Staat

In der Zeit des Kalten Krieges gab es bei der NATO das Konzept „Gladio”: Kommandos sollten in den Mitgliedsländern der NATO Anschläge begehen, um schärfere Sicherheitsgesetze durchzusetzen. Die Bombenattentate von Bologna (1980, 85 Tote) und München (1980, 13 Tote) gelten als die üblichen Verdachtsfälle.

In diesem Buch geht der Autor den Verstrickungen zwischen staatlichen Geheimdiensten und der NSU-Nazi-Szene nach. Wo beginnt der nationalsozialistische Untergrund? Wo hört der Staat auf? Gibt es eine klare Grenze zwischen Geheimdienst und Nazis?

Der Autor beginnt die Beschreibung des Rassismus der Institutionen mit der Änderung des Asylrechts 1991 bis 1993. Auch damals gingen Behörden, Parteien und Nazis in getrennten Rollen, aber letztlich Hand in Hand gegen Flüchtlinge vor. Die einen verschärften die Gesetze, schlossen die Grenzen, die anderen arbeiten mit Brandstiftung und Bomben.

Anschließend geht der Autor konkret auf den NSU und die Morde ein. Dabei stellt er vor allem Fragen und weist auf extreme Unstimmigkeiten in der öffentlichen Darstellung der Behörden hin. So hält er es für ein Märchen, dass die drei TäterInnen nach ihrem „Untertauchen” spurlos verschwunden wären. Es gab eine Vielzahl von Spuren, eine Vielzahl von Informationen, eine Vielzahl von Kontakten. Auch die „Pannen” in den Behörden, das „Wirrwarr” der Zuständigkeiten hält er für ein Märchen. Er geht davon aus, dass die Polizei bei den seltenen Versuchen, näher an die Täter heranzukommen, vom Geheimdienst behindert oder von der Staatsanwaltschaft klar angewiesen wurde, still zu halten. Ein Beispiel ist das Telefonverzeichnis, dass bei der Durchsuchungsaktion 1998 in der Bombenwerkstatt von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gefunden wurde. Es enthält 35 Kontaktpersonen des Trios, darunter auch diejenigen, die die neuen Verstecke organisierten. Dass die Polizei ein Telefonverzeichnis, das neben 1,4 Kilogramm Sprengstoff und einigen halbfertigen Bomben gefunden wird, nicht auswertet, glaubt der Autor nicht.

Ein Kernstück des Buches ist die Frage, warum die Nazis 2006 mit der Ermordung von eingewanderten Geschäftsleuten aufhörte, eine Polizistin erschoss und danach nur noch Banken überfiel. Was ist da passiert? Hat die Polizei dem Geheimdienst Bescheid gesagt, dass man das nicht mehr duldet, jetzt ernsthaft fahnden wird? Und wie starben die beiden NSU-Mitglieder 2011 im Wohnmobil? Offiziell wird behauptet, sie hätten auf die eintreffende Polizei mit einer Maschinenpistole geschossen, diese habe aber plötzlich Ladehemmung gehabt. Dadurch wäre die Lage aussichtslos geworden. Doch die beiden hatten 20 weitere Waffen im Wohnmobil, die sie nicht benutzten. Warum? Begingen sie Selbstmord? Einige Polizisten erzählten später, am Tatort hätten ihnen Geheimdienst-Mitarbeiter „auf den Füßen gestanden”. Verfolgen Geheimdienste Bankräuber?

Der Autor ist mit Schlussfolgerungen relativ zurückhaltend. Er flüchtet sich in die Schilderung von Geheimdienst-Operationen anderer Länder und deutet an, ähnlich könnten auch deutsche Geheimdienste handeln, ohne sie direkt zu beschuldigen. Er will keine Verschwörungstheorien in die Welt setzen, glaubt aber nicht an logische Antworten auf seine Fragen, die andere Möglichkeiten zulassen.

Letztlich beschäftigt er sich mit den umfangreichen Aktenvernichtungen zwischen November 2011 und Sommer 2012. Er geht davon aus, dass die Behördenmitarbeiter wussten, dass es herauskommen würde, denn zu allen Akten gibt es auch Verzeichnisse, die zeigen, was mal da war. Er glaubt, dass das Lesen der Akten für die Geheimdienste weitaus schlimmer gewesen wäre als der Verdacht, der durch das Bekanntwerden der Vernichtung entsteht.

Es lohnt sich, den hier aufgeworfenen Fragen nachzugehen.

Reinhard Pohl

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