(Gegenwind 282, März 2012)
Es gibt die Partei schon länger, aber durch die Berliner Landtagswahl wurden sie plötzlich bedeutsam: Mit mehr als dreimal so vielen Stimmen wie die FDP zogen sie in die Bürgerschaft ein. Seitdem zeigen die Umfragen fast regelmäßig Werte über 5 Prozent an. Dennoch wissen die meisten Menschen wenig über die Partei. Bekannt sind Positionen zur Freiheit im Internet oder auch Forderungen nach einem Grundeinkommen, aber andere Positionen müssen auch teilweise noch gefunden werden. In Schleswig-Holstein hat die Piratenpartei ein Programm für die Landtagswahl beschlossen. Das soll hier vorgestellt werden.
Die erste „Piratenpartei” wurde in Schweden gegründet, um sich gegen Vorwürfe aus der Industrie zu verteidigen, das Anfertigen vonMusik- und Filmkopien über Tauschbörsen im Internet sei „Piraterie”. Die deutsche Piratenpartei wurde 2006 gegründet, der Landesverband Schleswig-Holstein 2007. Die Piraten treten nicht für das hemmungslose Kopieren ein, sondern wollen ein Recht auf Privatkopien. Sie wehrten und wehren sich dagegen, Tauschbörsen pauschal als kriminell zu bezeichnen.
Für die einzelnen Menschen fordern die Piraten einen Datenschutz im Sinne der Selbstbestimmung: Man muss selbst darüber entscheiden können, welche eigenen Daten von anderen genutzt werden dürfen, welche gesperrt oder gelöscht werden sollen. Die Verwaltung und Regierung allerdings soll nach ihrer Meinung öffentlich und transparent handeln, also nicht nur die Entscheidungen, sondern auch die Grundlagen dafür, die Informationen und Verträge transparent darstellen.
Die Piraten wollen den Datenschutz in die Landesverfassung aufnehmen. Auskünfte durch Meldeämter sollen nur noch nach Benachrichtigung der Betroffenen erteilt werden. Zur Kontrolle der Einhaltung von Regeln soll das ULD und der Datenschutzbeauftragte besser ausgerüstet werden und Bußgelder verhängen dürfen. In der Schule und anderen Bildungseinrichtungen sowie öffentlich soll stärker über die Rechte und die Funktionsweisen von Datenverarbeitung informiert werden, damit die Betroffenen ihre Rechte auch wahrnehmen können.
Die Piraten fordern, dass mit Hilfe von Steuergeldern erzielte Forschungen und andere Arbeitsergebnisse öffentlich zugänglich sind. Behörden sollen stärker online arbeiten, damit man nicht mit Laufereien und Öffnungszeiten konfrontiert ist - wobei diejenigen keine Nachteile haben sollen, die die Nutzung neuer Technik ablehnen. Die Piraten wollen ein übersichtliches Portal, auf dem Gesetze, Verordnungen, Drucksachen und alle anderen Informationen von Land und Kommunen schnell auffindbar und einsehbar sind.
Die Piraten wollen, dass nicht nur Gesetze, sondern auch ihre Entstehung öffentlich werden - das betrifft Referentenentwürfe und Anhörungen. Sitzungen von Kommunalparlamenten sollen als Livestream übertragen werden. Abgeordnete sollen ihre Nebeneinkünfte veröffentlichen, und Amtsträger (z.B. Minister) sollen nach ihrem Amt Posten in der Industrie innerhalb der ersten drei Jahre nur annehmen dürfen, wenn ein Ethikrat das überprüft. Weisungen sollen öffentliche begründet werden. Für alle Verwaltungsakte soll es ein Widerspruchsverfahren (vor der Klage) geben, und bei falschen Entscheidungen von Behörden sollen die Betroffenen mindestens pauschal entschädigt werden.
Der Volksentscheid soll erleichtert werden, z.B. durch die Möglichkeit, Unterschriften frei zu sammeln, außerdem soll das Ergebnis nur durch einen neuen Volksentscheid geändert werden können. Petitionen an den Landtag sollen auch im Internet möglich werden. Die Piraten möchten Landräte wieder direkt wählen. Regierungsmitglieder sollen nicht gleichzeitig Abgeordnete bleiben dürfen, weil das Parlament ja die Regierung kontrollieren sollte. Das kommunale Wahlrecht soll es ab 14 Jahren, das Wahlrecht für den Landtag ab 16 Jahren geben. Für Ausländer, die seit mindestens 5 Jahren hier leben, soll das kommunale Wahlrecht eingeführt werden. Die Piraten wollen ein weltoffenes Schleswig-Holstein ohne Diskriminierung von Flüchtlingen, Ausländern oder Behinderten.
Die Piraten wollen den Bestand an Gesetzen und Verordnungen in Schleswig-Holstein durchforsten und reduzieren. Da Bürger in der Regel einen Monat Widerspruchsfrist gegen Behördenentscheidungen haben, sollen in Zukunft auch Behörden innerhalb eines Monats entscheiden - sonst soll automatisch gelten, dass Anträge genehmigt sind. Behörden sollen keine Daten über „unbescholtene” Bürger sammeln dürfen, das gilt auch für die Videoüberwachung öffentlicher Räume. Deshalb werden auch biometrische Ausweise abgelehnt. Bilder und Videos im Internet, die Kindesmissbrauch zeigen, sollen gelöscht, nicht gesperrt werden - weil Programme zur Sperrung von Seiten auch für andere Zensur genutzt werden könnten. Die Polizei soll besser ausgestattet werden, um auch Straftaten im Internet verfolgen zu können, allerdings sollen Polizisten mindestens durch eine offen getragenen Nummer identifizierbar sein.
Informationen über belastete Lebensmittel sollen frei zugänglich sein, nicht umständlich bei Behörden angefordert werden müssen. Dazu sollen auch die Verbraucherzentralen gestärkt werden. Der Antibiotika-Einsatz in der Tierproduktion soll offen gelegt werden. Lebensmittel sollen transparent gekennzeichnet wrden, also nicht mit Inhaltsstoffen in Prozent eines (willkürlichen) „Tagesbedarfs”, sondern pro 100 g oder 100 ml. Ergebnisse von Hygiene-Kontrollen z.B. von Restaurants sollen öffentlich sein, z.B. durch Aufkleber am Eingang.
Bildung soll frei sein - das meint kostenlos, aber auch unter Einsatz von Werken, die unter einer freien Lizenz stehen. Im Geschichtsunterricht soll mehr zur Geschichte Deutschlands nach 1945 vorkommen, insbesondere das Wirken ehemaliger Nationalsozialisten und die Diktatur in der DDR. Schülermitverwaltungen und Studierendenschaften sollen mehr Rechte erhalten. Die Einhaltung von Qualitätsstandards in den Ländern soll durch den Bund gewährleistet werden. Sogenannte „Schultrojander”, also Spionageprogramme gegen die Verwendung urheberrechtlich geschützter Kopien durch Lehrer, lehnen die Piraten ab. Generell soll für die Bildung mehr Geld ausgegeben werden, es soll keine Zeit- und Werkverträge im Bildungsbereich geben. Grundsätzlich soll es eine flächendeckende Ganztagsbetreuung und freie Beförderung geben. Konfessionsgebundenen Religionsunterricht lehnt die Partei ab. Kindergärten und Kinderkrippen sollen kostenlos sein, ebenso werden Studiengebühren abgelehnt.
Die Piraten wollen Hackerspaces (Büro-WGs für Selbständige) schaffen, umgekehrt Beschäftigungsprojekte für Langzeitarbeitslose (die nur der Bereinigung von Statistiken dienen) abschaffen. Leiharbeit soll begrenzt werden, ebenso soll es Regelungen gegen den Missbrauch von „Praktika” geben. Es soll flächendeckend Pflegekräfte und Hebammen geben, damit Betroffene auch die Möglichkeit haben, auf dem Lande zu wohnen.
Die offene Jugendarbeit soll gefördert, Kürzungen zurückgenommen werden. Den Piraten geht es um Vermittlung von Medienkompetenz und Gewaltprävention, Verbote von Computerspielen lehnen sie ab. Menschen mit Handicap sollen gestärkt werden, die Kürzungen beim Blindengeld zurückgenommen werden. der öffentliche raum - nicht nur Straßen und Plätze, sondern auch Räume in öffentlichen Gebäuden - sollen allen zur Verfügung stehen.
Öffentlich-private Partnerschaften werden abgelehnt. Bürgschaften sollen im Haushalt erscheinen, weil dadurch auch künftige Regierungen und Parlamente festgelegt werden. Subventionen sollen sparsamer eingesetzt werden und zeitlich befristet sein. Eine Kammer-Mitgliedschaft (z.B. IHK) soll in Zukunft freiwillig sein. Über Öffnungszeiten sollen Geschäfte frei entscheiden können, auch sonntags.
Die Piraten unterstützen nicht nur die Schuldenbremse in der Verfassung, die ab 2020 neue Schulden verbietet. Sie wollen auch festlegen, dass bis 2050 alle Schulden abgezahlt werden, damit nicht mehr wie bisher ein Drittel der Steuereinnahmen direkt an Banken weitergeleitet wird. Sie wollen einen Bürgerhaushalt einführen, also eine öffentliche Mitbestimmung aller (deutschen) Steuerzahler über Ausgaben und Großprojekte. Kommunen sollen per Verfassung von Kürzungen geschützt werden, außerdem soll ein Insolvenzrecht für Kommunen eingeführt werden. Die Fraktionsfinanzierung soll begrenzt werden, die Piraten wollen einen gleichen Grundbetrag pro Fraktion und abnehmende Zulagen pro Fraktionsmitglied. Fraktionen sollen die Verwendung öffentlich abrechnen. Steuerprüfungen sollen ausgeweitet werden. Das Programm ELSTER für Steuererklärungen soll für alle Betriebssysteme anwendbar sein, bisher ist das nur für neuere Windows-Systeme zu nutzen. CD mit geklauten Dateien von Steuerhinterziehern sollen nicht mehr aufgekauft werden.
Die Umwelt soll geschützt werden, allerdings werden überzogene Regulierungen abgelehnt. Die natürlichen Ressourcen und der Artenreichtum soll auch künftigen Generationen zur Verfügung stehen. Bei allen Entscheidungsprozessen verlangt die Partei Transparenz. Der Zugang zu Umweltinformationen soll nicht nur frei, sondern auch nutzerfreundlich sein. Naturschutzverbände sollen Verbandsklagerecht erhalten. Der Öffentliche Personennahverkehr soll landesweit gefördert werden, die Verwendung von Licht (Leuchtreklame) soll den natürlichen Wechsel zwischen tag und Nacht berücksichtigen. Wälder, Seen und Küsten sollen frei zugänglich sein.
Die biologische Vielfalt soll geschützt, Knicks erhalten werden. Das Land soll gentechnikfrei werden. Patente auf Leben werden genauso abgelehnt wie Freilandversuche. Die industrielle Tierproduktion wird abgelehnt. Energiepflanzen sollen zurückgedrängt werden, damit der Anbau von Nahrungsmitteln und Futtermitteln wieder Vorrang bekommt.
Regenerative Energien sollen genauso gefördert werden wie das Stromsparen. Die Beimischung von „Bio-Ethanol” ins Benzin soll verboten werden. Die Energienetze sollen nicht mehr den Energiekonzernen gehören, sondern „neutral” sein. Die netze sollen außerdem intelligent sein, ohne den Stromverbrauch einzelner zu überwachen. Energiekosten sollen Transparent sein, d.h. Kraftwerksbetreiber sollen auch Lagerkosten für Müll mit in den Preis einberechnen, der darf nicht auf die Öffentlichkeit abgewälzt werden. Für Kraftwerke mit fossilen Energieträgern soll der Wirkungsgrad vorgeschrieben werden. Die Energieproduktion soll dezentral, die Energieversorgung kommunal geschehen. Die Trinkwasserqualität soll verbessert werden. Die CO2-Speicherung soll verboten, die Atomkraft möglichst schnell beendet werden.
Die Teilnahme an der Kultur soll für alle gewährleistet werden, Kulturgüter sollen zum Erhalt für die Nachwelt digitalisiert werden. Spiele sollen als Kulturgut anerkannt werden, genannt werden ausdrücklich Brettspiele und Computerspiele einschließlich sogenannter „Killerspiele”. E-Sport-Vereine sollen genauso gefördert werden wie traditionelle Sportvereine. Bibliotheken sollen besser ausgestattet werden, vor allem auf dem Land, und neben Büchern auch Dateien zur Verfügung stellen. Vergriffene Bücher in den Landesbibliotheken sollen digitalisiert und im Internet veröffentlicht werden, sobald der Urheberschutz abgelaufen ist. Ebenso sollen Landesarchiv und Museen besser gefördert werden.
Der Nahverkehr soll auch über Landesgrenzen hinweg gefördert werden. Straßeninformationsdatenbanken sollen allen zur Verfügung stehen. Der Vorrang fürs Auto soll durch Einführung von „Shared Spaces” zurückgedrängt werden. Der Öffentliche Nahverkehr soll kostenlos werden, die Piraten wollen drei Versuche dazu starten. Ausschreibung sollen transparent und verbindlich sein. Bei der Verkehrssicherheit fordert die Partei die Umsetzung der „Vision Zero”. Stillgelegte Bahnstrecken sollen wenn möglich reaktiviert werden. Das Fahrrad soll besonders gefördert werden. Fuhlsbüttel soll der einzige Flughafen für Schleswig-Holstein sein. Die Feste Fehmarnbeltquerung wird abgelehnt. Der Nord-Ostsee-Kanal soll ausgebaut werden, Gigaliner verboten werden.
Die Partei fordert einen freien Zugang zu Geobasisdaten. Die Landschaftsplanung soll langfristig erfolgen, die Zersiedelung gestoppt werden. Altbauten sollen energetisch saniert werden, Neubauten Kinder- und altersgerecht geplant werden. Gewerbegebiete sollen in einer Größe an die Größe der gemeinden gekoppelt werden. Konversionsflächen sollen vorrangig an Kommunen gehen, Truppenübungsplätze renaturiert werden. Kulturdenkmäler sollen erhalten werden. Der Breitbandausbau soll so gefördert werden, dass alle Einwohner Zugang zu einem schnellen Internet-Anschluss haben. Wohnungen sollen auch in Touristengebieten bezahlbar bleiben.
Das Programm, dass die Piraten für die Landtagswahl beschlossen haben, weist - unvermeidlich bei einer „jungen” Partei - viele Lücken auf. So fehlen Aussagen zum Schulsystem, zur Gleichstellungspolitik, zur Integration...
Die Partei wendet sich nur an die zwei Drittel der Bevölkerung, die im Internet aktiv sind. Auf der Internet-Seite fehlen Adressen fast völlig, ein Kontakt durch Briefe oder Postkarten ist überhaupt nicht vorgesehen, nur durch Mail oder durch Erscheinen auf Treffen. Insofern wendet sich die Partei bevorzugt an ein junges, männliches und städtisches Publikum.
In den Umfragen lebt die Partei genauso von der Zustimmung zu eigenen Vorstellungen wie von der Ablehnung „etablierter” Parteien. Gerade dieses zweite Motiv reicht nicht als Basis aus, weil „Protestwähler” auch jede andere Partei wählen würden, noch häufiger aber dann doch nicht zur Wahl gehen. Die eigene Basis ist aber im ländlich geprägten Schleswig-Holstein vermutlich zu schwach, um über 5 Prozent zu kommen. Wer sich die Ergebnisse für die Grünen in den 90er Jahren oder den Linken jetzt ansieht, erkennt schon die Regionen, in denen „neue” Parteien kaum Chancen haben.
Dennoch haben die Piraten schon jetzt ein Wort in der Politik mitzureden. Sie sind in bisherigen Wahlen die „Größte der Kleinen” gewesen, also unter den Parteien unterhalb der 5 Prozent die einzige, der man den Sprung über die Hürde zutraut. Und sie kann bereits jetzt gelegentlich Themen setzen, die die anderen aufgreifen (müssen).
Das hier nur in Stichworten vorgestellte Landtagswahlprogramm ist im Original 65 Seiten groß und natürlich im Internet erhältlich.
Reinhard Pohl