(Gegenwind 268, Januar 2011)
Was reitet eigentlich unsere Regierenden, Meldungen wie diese zu produzieren: „Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle hat sein Herz für den Arbeitnehmer entdeckt.” „Wenn die Wirtschaft boomt, sind auch kräftige Lohnerhöhungen möglich”, sagt der FDP-Mann - und nennt die deutsche Stahlindustrie als Vorbild. Dort haben sich die Tarifparteien jüngst auf eine Lohnerhöhung von 3,6 Prozent geeinigt. Dieser Abschluss habe laut Brüderle gezeigt, „dass ein fairer Ausgleich möglich ist, an dem sich vielleicht andere Branchen orientieren könnten.” „Den fleißigen Menschen in unserem Land gehört der Wirtschaftsaufschwung. Er sollte daher nicht an ihnen vorbeigehen”, sagte Brüderle der »Bild-Zeitung«. „Buchstabe für Buchstabe sieht das die Bundeskanzlerin auch so”, lässt Merkel ihren Regierungssprecher beipflichten. Brüderles Äußerungen seien eine „Beschreibung der gesamtwirtschaftlichen Landschaft”.
Sind diesen erklärten Vertretern des freien Markes plötzlich „Herz-Jesu-Sozialisten” geworden? Oder hat Berthold Huber, Vorsitzender der IG Metall, recht, wenn er im Editorial der METALL 11/2010 zum öffentlichen Lob über den Tarifabschluss in der Stahlindustrie schreibt: „Allerdings ist schon verwunderlich, wer alles in den Chor der Gratulanten einstimmt und ganz forsch ähnliche Abschlüsse für andere Branchen fordert. Es sind die Spitzenrepräsentanten der schwarz-gelben Bundesregierung, der aus eigener Kraft seit ihrem Amtsantritt keine Erfolge gelingen mögen. Wollen sich die Herren Brüderle usw. im Glanz erfolgreicher Gewerkschafter sonnen?”
Es ist nicht die sentimentale Erinnerung, die uns in das Archiv politischer Erinnerung greifen lässt. Es gibt verblüffende Ähnlichkeiten der augenblicklichen Lage der Gewerkschaften mit der aus dem Jahre 1969 und dem damaligen taktischen Vorgehen der Herrschenden in ihrem Verhältnis zu Betrieben und Gewerkschaften, die uns diese Überlegungen anstellen lassen. Allerdings auch Differenzen.
Damals gab es die erste Große Koalition. Sie hielt von Dezember 1966 bis zum 21. Oktober 1969. Ludwig Erhard war als Kanzler von seinen eigenen Leuten gestürzt worden. Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD) bildeten die Regierung. Zum ersten Male in der Geschichte der BRD konnte die SPD Minister im Bund stellen. Unvergessen das Gespann von CSU-Strauß als Finanzminister und dem SPD-Professor Schiller als Wirtschaftsminister. „Plisch und Plum” nannte die Presse sie liebevoll. Sie beschlossen das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz” im Sinne einer „Konzertierten Aktion”. Danach haben Bund und Länder das Recht, im Falle der Gefährdung ihrer Wirtschaftsziele Orientierungsdaten festzulegen, nach denen sich Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände richten müssen.
Den Gewerkschaften waren durch ihre gewollte Teilnahme an der „Konzertierten Aktion” politisch die Hände gebunden. Nur die SPD hatte das erreichen können. Die Gewerkschaften waren in den wirtschaftlichen Krisenjahren 1967 und 1968 auf lang laufende Tarifvereinbarungen mit geringfügigen Lohnerhöhungen eingegangen. Wie heute wurde dies im Wesentlichen damit begründet, sie dienten der Sicherung von Beschäftigung. So festgelegt, konnten sie legal nicht auf die veränderte wirtschaftliche Lage im Jahr 1969 mit eigenständigen Forderungen und Aktionen reagieren. Die in der Zeit der Großen Koalition eingeleitete Exportoffensive bescherte den Kapitalisten einen unerwartet schnellen Aufschwung und immense Profite.
In der Folge kam es dem damals 1969 so genannten „Lohnstau”. Und damit zu den selbständigen Streiks, die sich gegen die SPD-orientierten Gewerkschaftsführungen organisieren mussten. Die durch die festgeschriebenen Vorgaben auferlegte Zurückhaltung der Gewerkschaften war für die Arbeiter nicht mehr auszuhalten. Diese, von der Presse „wild” genannten Streiks veränderten die politische Landschaft der BRD erheblich.
Es wurde offensichtlich - so die die Polemik der Bourgeoisie - dass die Gewerkschaften ihrer Aufgabe als „Feuerwehr” oder - wie es die Bild-Zeitung damals ausdrückte - als „Dompteur” der Belegschaften in den Konzernen nicht gerecht würden. Wie sehr den Gewerkschaften durch die „Konzertierte Aktion” politisch das Heft aus der Hand genommen war, las man im „Jahreswirtschaftsbericht 1969”. Er lobt die Gewerkschaften für ihre zurückhaltende Lohnpolitik und erklärt ausdrücklich, dass sich die Tariferhöhungen mit ihren überlangen Laufzeiten „durchweg im Rahmen der durch die Jahresproduktion gegebenen Orientierungsdaten gehalten” haben. Damals stellte das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung” Vergleichsermittlungen der Nettolohnquote zum ersten Halbjahr 1969 an. Ein Minus von 2% zu Ungunsten der Arbeiter und Angestellten war das Ergebnis der Analyse. „Die lohnpolitischen Konflikte dieses Monats sind ökonomisch als eine Bewegung zu bewerten, die auf einen Ausgleich der strukturellen Ungleichgewichte gerichtet ist.” Otto Brenner, damals Vorsitzender der IG Metall, versucht später auf dem 8. DGB-Kongress diese Gewerkschaftspolitik zu rechtfertigen: Die Tarifbewegungen wären „ohne bestehen der Konzertierten Aktion auf Grund der gegebenen realen Verhältnisse nicht anders abgelaufen, als sie tatsächlich abliefen”. Man habe sich nie am Gängelband der Konzertierten Aktion gefühlt. Der SPD Wirtschaftsminister Schiller erklärt hingegen kaltschnäuzig, worum es bei dem Erfolg der „Konzertierten Aktion” ging: „Selbstverständlich verändern gemeinsam gebilligte Orientierungsdaten die Situation. Niemand kann mehr so handeln, als ob es sie nicht geben würde.”
Aber die Lohnabhängigen und Gewerkschaftler von 1969 hielten sich keineswegs an diese Vorgaben. Es war der Stolz vieler Belegschaften, dass sie selbständig mit ihren Vertrauensleuten und Betriebsräten eigene Ziele mit Erfolg durchsetzen konnten. So z.B. als im September 1969 in Bremen die Arbeiter und Angestellten der „Klöckner Werke AG / Hütte Bremen” in den Streik treten. Der Betriebsrat schreibt dazu: „Das Gesamtergebnis dieser Lohnbewegung ist auf die selbstbewusste Haltung der Stahlarbeiter zurückzuführen. Ein Lohn- und Gehaltserhöhung dieser Größenordnung hat es seit 20 Jahren nicht mehr gegeben.” Die Beschäftigten erstritten sich 16 Prozent Lohn- und Gehaltserhöhungen.
Die Streikbewegung des September 1969 hatte die gesamte BRD erfasst. In Broschüren von damals kann man folgende Zahlen finden: 69 Betriebe beteiligten sich; 140.000 KollegInnen nahmen an Streikaktionen teil; 532.308 Arbeitstag fielen durch Streik aus.
Einige Beispiele: Angeführt wurde die Bewegung durch Betriebe aus der Stahl- und Metall-Industrie: Hoesch AG, Dortmund, mit 27.000 Streikenden. In der Oberpfalz, Maximilianshütte, streiken 3.600. Gefolgt von der Ruhrkohle AG mit 10.000 Beteiligten. In Ochtrup-Steinfurt streikten 1.500 bei den Laurenz Textilwerken. Bei den Howaldt Werken in Kiel streikten 7.000 Kolleginnen und Kollegen.
Längst redet keiner mehr von „Konzertierter Aktion”. Jeder würde sich den Mund verbrennen, weil die alten Erfahrungen im Langzeitgedächtnis der Akteure haften geblieben sind. Heute wird hingegen die Autonomie der Tarifparteien betont, um dafür die Gewerkschaften um so mehr in die Pflicht zu nehmen. Nichts ist in diesem Zusammenhang schlimmer für die Herrschenden, als wenn die Gewerkschaften in ihrer Bindung an die SPD der ihnen zugewiesen Aufgabe als „Ordnungsfaktor” nicht mehr gerecht werden. Es geht ihnen mit Hilfe der SPD um die Beherrschbarkeit der Betriebe.
Inzwischen sind die Zeiten vorbei, in der die Gewerkschaften nur einer Partei zugehören. Zunehmend binden sich viele aktive Gewerkschafter an andere Parteien. Zum Beispiel an die LINKE. Deshalb arbeiten die SPD, die Arbeitsgeber und die Gewerkschaftsführungen intensiv daran, zu verhindern, dass diese Partei in die Rolle einer neuen Gewerkschaftspartei hineinwächst.
Seit Monaten redet man gerne in den Betrieben, den Sozialen Bewegungen und in der LINKEN vom „Heißen Herbst”. Schaut man genauer hin, so könnte man erkennen: Es ist ähnlich wie damals. Geht es nach den derzeit gültigen Tarifverträgen, so hat z.B. die IG Metall schlicht keine legale Gelegenheit, auf breiter Front den aktuellen Aufschwung in höhere Löhne umzumünzen. Die Verträge für die 3,4 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie, der wichtigsten Branche, laufen noch bis zum 31. März 2012. Und der Lohnzuwachs für 2011 steht bereits fest: Ab April gibt es 2,7 Prozent mehr für die Metallarbeitnehmer. Das in einer Klausel vereinbarte Vorziehen dieser Lohnerhöhung für den Fall, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert, ist aber „freiwillig” und - laut IG Metall - rechtlich so formuliert, dass es nicht durch Streik erzwungen werden kann. Hinzu kommt: Zahlreiche betriebliche Vereinbarungen über Interessenausgleich und Sozialplan mit erheblichem Abbau übertariflicher Leistungen zur Sicherung von Beschäftigung beginnen gerade erst ihre Wirkung zu entfalten. KollegInnen verlieren ihren Arbeitsplatz und lesen zugleich die Ad-hoc-Meldung aus der eigenen Konzernzentrale, dass die Gewinne steil steigen.
Damit können sich die Kolleginnen und Kollegen von heute aber nicht zufrieden geben. Sie müssen wiederum eigene Wege finden, aus diesen vertraglichen Bindungen herauszukommen, selbständige Forderungen aufzustellen und wirkungsvolle Aktionen einzuleiten. So fordert z.B. die METALL in der Novemberausgabe ihre Mitglieder auf, in Herbstaktivitäten „Auf die Straße (zu) gehen für ein gutes Leben!”
Also muss man als Wirtschaftminister, wenn man klug ist, etwas den Dampf unter dem Deckel herauslassen und den KollegInnen in den Betrieben wenigstens das Gefühl geben, verstanden worden zu sein. Und zugleich kann er damit als Liberaler die Gewerkschaften, die sich mal wieder haben einbinden lassen, an ihrem Nasenring vorführen.
Otto Brenner, Vorsitzender der IG Metall, dem 1969 die Felle seiner an Schiller/Brandt und SPD gebundenen Politik davon geschwommen sind, macht ein interessante Beobachtung. Er erklärt am 12. September 1969, es habe sich deutlich gezeigt, „daß hier von politisch extrem orientierten Kräften der Versuch gemacht wurde, auf Kosten der Organisation und eines erheblichen Teils der gutgläubigen Arbeitnehmer ihr politisches Geschäft zu machen.” Er witterte als neue „Feinde”, damalige neue Linke.
Bei den Streiks im Mai 1968 in Frankreich agierten zum ersten Mal Arbeiter und Stundenten gemeinsam. Bisher galten Arbeiter und Angestellte für die Studentenbewegung als saturiert durch Konsum und ideologisch an die Herrschaftsverhältnisse gebunden. Dies änderte sich ab 1969 auch in Deutschland: Man wurde „ökologisch-grün”, Intellektuelle gingen in die Betriebe oder arbeiteten in Stadtteilen mit proletarischen Jugendlichen zusammen. Es bildeten sich alternative, sozialistische und kommunistische Gruppen, Zirkel und Organisationen. Aus diesen Bewegungen hat auch der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) seine Ursprünge.
Staat und Konzerne bekamen diese Entwicklung in den folgenden Jahren deutlich zu spüren. In den Jahren nach den Septemberstreiks übernahm der Öffentliche Dienst eine führende Rolle in dem Konflikt um die Eigenständigkeit der Kämpfe der Beschäftigten.
Schon 1973 hatte es in der BRD eine weitere Welle selbständiger Streiks gegeben. Auch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sahen sich ermutigt, selbst wild zu streiken. Um das in den Griff zu bekommen, sah sich die ÖTV-Führung genötigt, „radikal” tätig zu werden und verlangte ohne Kündigung der Tarifverträge ein volles 13. Monatsgehalt Sie drohte trotz Friedenspflicht mit Streiks, um diese Forderung durchzusetzen. Dies allein reichte aus, um 1973 zusätzlich ein volles Weihnachtsgehalt durchzusetzen.
Im Februar 1974 zwang der Druck der in der Gewerkschaft „Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr” (ÖTV) organisierten Kolleginnen und Kollegen ihren Vorsitzenden Heinz Kluncker gegen seinen ausdrücklichen Willen in einen Streik gegen die SPD-geführte Regierung unter Willy Brandt. Damit durchbrach die ÖTV die staatlich verordnete Lohnleitlinie der SPD-Regierung. Drei Monate später im Mai 1974 erfolgte der Rücktritt von SPD-Kanzler Willi Brandt.
Leider dauerte es in den siebziger Jahren nicht lange, bis die Herrschenden mit großer Härte zurückschlugen. Ihre bekanntesten Maßnahmen waren ab 1972 Gewerkschaftsausschlüsse und Berufsverbote. Sie richteten sich gegen alle diejenigen, die die Kämpfe der Arbeiter unterstützt, die ihnen theoretische Kenntnisse über die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge zu vermittelt und ihnen eine weiterführende Richtung für eine neue Gesellschaft gegeben hatten. Betroffen waren damals vor allem Kommunisten. Ganz gewiss kann sich in unseren Tagen da auch die LINKE nicht in Sicherheit wiegen.
Karl-Helmut Lechner