(Gegenwind 252, September 2009)
Ein von den Energieversorgern verbreiteter Mythos geistert quer durch Deutschland: Erneuerbare Energien allein könnten unseren Energiebedarf auf absehbare Zeit nicht decken. Atomausstieg und gleichzeitig ein mittelfristiger Ausstieg aus der Verstromung von Kohle wäre nicht zu verantworten. Man müsse daher auf einen "Mix" aus Erneuerbaren Energien und neuen Kohlekraftwerken setzen, oder aber die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern - um diese als "Brückentechnologien" zu nutzen. Ist der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken oder der Bau von neuen Kohlekraftwerken zusätzlich zum zügigen Ausbau der Erneuerbaren wie Wind- und Sonnenenergie tatsächlich notwendig? Und wäre dies wirtschaftlich und technisch sinnvoll?
Nein. Vielmehr wäre eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke genauso kontraproduktiv für die Energiewende wie der Bau neuer Kohlekraftwerke. Denn beides würde den Ausbau der Erneuerbaren Energien verzögern.
Stromerzeugung aus Kohle- und Atomkraftwerken und die zunehmende Stromerzeugung aus Windenergie- und Solaranlagen ergänzen sich nicht. Schwerfällige Atom- sowie Kohlekraftwerke sind so genannte Grundlast bzw. Mittellastkraftwerke. Atomkraftwerke brauchen bspw. etwa 50 Stunden um nach einem Stillstand wieder ihre volle Leistung zu erreichen (vgl. Grimm 2007, S.9). Als flexible Ausgleichsoption eignen sie sich daher ganz und gar nicht.
Dennoch steigt beim hoch- und herunterfahren von Atomkraftwerken das ohnehin zu hohe Risiko von Unfällen, weswegen sie möglichst mit gleich bleibender Leistung fahren sollte. Kohlekraftwerke brauchen ebenfalls eine Weile, bis sie auf Touren kommen. Auch wenn die vergleichsweise schnell schwankende Einspeisung von Strom aus Wind- und Sonnenenergie immer besser prognostiziert werden kann - Kohlekraftwerke können nur schlecht darauf reagieren. Das würde übrigens noch schlechter, wenn sie eines Tages mit einer Technik zur Abscheidung (und Deponierung) von CO2 (CCS) ausgerüstet würden.
Aber nicht nur technisch, sondern auch wirtschaftlich passt ein hoher Anteil von Grundlastkraftwerken nicht mit einem wachsenden Anteil von Wind- und Solarstrom zusammen. Denn Grundlastkraftwerke müssen möglichst viele Stunden unter Volllast laufen, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Im Vergleich beispielsweise zu Erdgaskraftwerken sind die Investitionskosten von Atom- und Kohlekraftwerken sehr hoch - die Betriebskosten dagegen niedrig. Bestehende Kraftwerke, bei denen die Investitionskosten bereits bezahlt wurden, müssen also vergleichsweise wenig Geld ausgeben, um eine Kilowattstunde Strom zu produzieren. Jede Stunde ohne Stromproduktion ist wegen der hohen Investitionskosten betriebswirtschaftlich besonders ungünstig. Bei 8760 Stunden, die ein Jahr hat, haben daher derzeit Atomkraftwerke knapp 8000 Volllaststunden, Braunkohlekraftwerke knapp 7000 und Steinkohlekraftwerken knapp 5000. Durch die Ausstattung eines Kohlekraftwerkes mit CCS Technik steigen die Investitionskosten deutlich, wodurch der Anreiz bzw. der wirtschaftliche Zwang zu einer besseren Auslastung der Kraftwerke noch weiter erhöhen würde. Daher sind diese Kraftwerke wirtschaftlich vor allem geeignet, rund um die Uhr Strom zu produzieren - egal, ob dieser gerade gebraucht wird oder nicht. Nicht gebraucht würde dieser Strom beispielsweise, wenn aktuelle hohe Einspeisungen von Strom aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen möglich ist. Diese Anlagen haben noch geringere Betriebskosten.
Wenn der Anteil von Wind- und Solarstrom weiter kräftig steigen soll, wird es immer mehr Stunden im Jahr geben, in denen so viel Strom mit Erneuerbaren Energien produziert wird, dass nur noch wenig Bedarf nach Strom aus anderen Quellen besteht. Inzwischen hatten wir schon Situationen, in denen aufgrund der Schwerfälligkeit der Grundlastkraftwerke zu viel Strom produziert wurde. Die Folge: der Strompreis an der Börse sinkt auf null oder gar ins Negative. Diese Situationen werden sich häufen - wenn wir weiter zu viele Grundlastkraftwerke am Netz haben. Grundlastkraftwerke wie Kohle und Atomkraftwerke werden nicht nur überflüssig, sie werden sogar zum Hemmnis für den weiteren Ausbau der Erneuerbaren. Betreiber von Grundlastkraftwerken haben entsprechend einen starken finanziellen Anreiz, den Ausbau von Erneuerbaren Energien zu blockieren - damit ihre Kraftwerke auch in Zukunft mit vielen Volllaststunden laufen und die Betreiber weiter hohe Gewinne schreiben können.
Um Erneuerbare Energien - für die Zeit vor der hundertprozentig erneuerbaren Stromerzeugung - zu ergänzen, sind Kraftwerke nötig, die in Zeiten von Windflauten rechtzeitig Strom bereit stellen und in Zeiten, in denen viel Wind weht, ihre Produktion möglichst kurzfristig drosseln können. Dazu sind weder Atom- noch Kohlekraftwerke technisch oder wirtschaftlich in der Lage.
Daher würde eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke genauso wie ein Zubau neuer Kohlekraftwerke relativ bald zu massiven Interessenkonflikten mit dem Ausbau der Erneuerbaren führen. Denn weder die Grundlastkraftwerke wollen geregelt werden - siehe oben - noch Wind- und Solarenergieanlagen. Schließlich macht es in Zeiten hohen Windangebots und hoher Sonneneinstrahlung keinen Sinn, Wind- und Solarkraftwerke zugunsten von Grundlastkraftwerken ab zu regeln. Weder aus Umweltsicht, noch wirtschaftlich. Denn dann würden wir auf aktuell verfügbaren CO2-freien Strom aus Erneuerbaren Energien verzichten und deren wirtschaftliches Potenzial nur unzureichend ausnutzen.
Die Vorstellungen einer harmonischen Koexistenz eines hohen Anteils Erneuerbarer Energien und Grundlastkraftwerken gehören ins Märchenbuch, nicht in die politische Debatte.
Wir stehen in Wirklichkeit vor zwei Alternativen: Entweder Deutschland setzt weiterhin auf Dinosauriertechnologien wie Atom- und Kohlekraftwerke, ungeachtet des Klimawandels, der Begrenztheit der Ressourcen sowie den massiven sozialen und umweltschädlichen Folgen und Gefahren einer unverantwortlichen Atomtechnologie. Oder aber Deutschland entscheidet sich für einen entschlossenen Ausbau der heimischen Erneuerbaren Energien und für die Energiewende.
Nachdem es bei einem noch relativ geringen Anteil der Erneuerbaren Energien bislang kaum wirklich schwerwiegende Konflikte mit den Grundlastkraftwerken gab, ändert sich die Situation nun. Wer einen weiteren Ausbau der Erneuerbaren will, muss auch nein sagen können. Nein zur Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken. Und nein zum Bau neuer Kohlekraftwerke. Denn beides behindert den Ausbau der Erneuerbaren Energien und damit die Energiewende. Stattdessen sagen wir ja zu mehr Energieeffizienz. Ja zum Ausbau der Erneuerbaren Energien. Und ja zu einer entschlossenen Energiewende.
Ingrid Nestle (Spitzenkandidatin von Bündnis 90 / Die Grünen Schleswig-Holstein für die Bundestagswahl);
& Jan Frederic Vetter (Student an der Universität Flensburg; Fachrichtung Energie- und Umweltmanagement)
In den letzten Monaten haben immer mehr relevante Akteure erkannt, dass eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke und der Neubau von Kohlekraftwerken nicht mit einem weiteren zügigen Ausbau der Erneuerbaren Energien zusammen passen. Hier eine kleine Auswahl von Zitaten:
"Aufgrund des Systemgegensatzes zwischen Kraftwerken, die technisch-ökonomisch auf Grundlast angelegt sind, und stark fluktuierenden regenerativen Energiequellen ist der geplante Neubau von erheblichen Kapazitäten von Kohlekraftwerken mit einer Übergangsstrategie auf eine vollständig regenerative Energieversorgung unvereinbar. Die derzeitigen Neubauplanungen für Kohlekraftwerke stehen daher in krassem Gegensatz zur notwendigen Weiterentwicklung des deutschen Elektrizitätssystems hin zu einem langfristig nachhaltigen und klimaverträglichen Energieversorgungssystem."
Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) 2009: Weichenstellungen für eine nachhaltige Stromversorgung. Seite 12. Juli 2009
Atomkraft und erneuerbare Energien sind im Systemverbund nicht kompatibel.
BMU: Hindernis Atomkraft. Die Auswirkungen einer Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Seite 13. April 2009.
Ohne diesen Ausstieg erscheint es unwahrscheinlich, dass die milliardenschweren Investitionen in Windparks auf dem Meer tatsächlich getätigt werden.
BMU: Strom aus Erneuerbaren Energien. Zukunftsinvestitionen mit Perspektive. Juni 2009. Seite 24.
"Die von der Atomlobby behauptete friedliche Koexistenz zwischen unflexiblen Atomkraftwerken und fluktuierenden Erneuerbaren Energien ist schon in wenigen Jahren aus handfesten physikalischen Gründen eine Schimäre".
Deutsche Umwelthilfe (DUH) 2009: Entweder- Oder: Die Ära der friedlichen Koexistenz zwischen Atomkraft und Erneuerbaren Energien geht zu Ende. Pressemitteilung vom 12.05.2009
"Atomkraft ist eben keine 'Brückentechnologie'. Wer die erneuerbaren Energien wirklich ausbauen will, muss beim Atomausstieg bleiben".
Sigmar Gabriel 2009: Pressemitteilung vom 26.06.2009. Gabriel: Wer erneuerbare Energien will, muss Atomkraftwerke abschalten. BMU 2009
"Die bisherige Investitionssicherheit für die Erneuerbaren Energien würde durch eine Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken oder den Bau neuer Grundlast-Kohlekraftwerke in Frage gestellt und damit der weitere Ausbau erschwert."
Agentur für Erneuerbare Energien e.V. 2009: Hintergrundinfo: Grundlastkraftwerke und Erneuerbare Energien- ein Systemkonflikt?. Agentur für Erneuerbare Energien e.V., Berlin.
"Unter den dargestellten Voraussetzungen ergibt sich als vordringlichste Handlungsempfehlung, den weiteren Aus- und Zubau großer fossiler Kraftwerke mit hohen Investitionskostenanteilen bei gleichzeitig geringen Brennstoffkosten, die für einen wirtschaftlichen Betrieb eine hohe Ausnutzungsdauer erreichen müssen, deutlich zu reduzieren, falls an dem Ziel eines hohen Anteils der Windenergienutzung festgehalten wird".
Krämer M. 2003 (Dr.): Modellanalyse zur Optimierung der Stromerzeugung bei hoher Einspeisung von Windenergie. VDI Verlag. Bremen 2003. Seite 108.
"Die Einspeisung von Windenergie, von anderen Erneuerbaren Energien sowie von Kraft-Wärme-Kopplung erlaubt eine Nutzung von schwer regelbaren Grundlastkraftwerken in immer weniger Fällen,... Damit sind zukünftig neue Grundlastkraftwerke nicht mehr wirtschaftlich betreibbar, weil sie ihre Zins- und Tilgungszahlungen nicht mehr erwirtschaften können".
Jarass L., Obermair G., Voigt W. 2009: Windenergie. Zuverlässige Integration in die Energieversorgung. Springer- Verlag Berlin Heidelberg 2009. Vorwort) Dipl. Ing. Wilfried Voigt ist Staatssekretär a. D. für Energie im Wirtschaftsministerium des Landes Schleswig-Holstein, Kiel.
Agentur für Erneuerbare Energien e.V. 2009. Hintergrundinfo: Grundlastkraftwerke und Erneuerbare Energien- ein Systemkonflikt?. Agentur für Erneuerbare Energien e.V., Berlin www.unendlich-viel-energie.de (abgerufen 17. Juli 2009)
BMU 2009a. Hindernis Atomkraft. Die Auswirkungen einer Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Berlin 2009 https://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/studie_hindernis_atomkraft.pdf (abgerufen am 11. August 2009)
BMU 2009b. Strom aus Erneuerbaren Energien. Zukunftsinvestitionen mit Perspektive. Juni 2009 https://www.erneuerbare-energien.de/inhalt/44594/4590/ (abgerufen am 11.August 2009)
(DUH) Deutsche Umwelthilfe 2009. Entweder- Oder: Die Ära der friedlichen Koexistenz zwischen Atomkraft und Erneuerbaren Energien geht zu Ende. Pressemitteilung vom 12.05.2009 https://www.duh.de/pressemitteilung.html?&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=1707&cHash=736a047016 (abgerufen 17. Juli 2009)
Sigmar Gabriel 2009. Pressemitteilung vom 26.06.2009. Gabriel: Wer erneuerbare Energien will, muss Atomkraftwerke abschalten. BMU 2009 https://www.bmu.de/pressemitteilungen/aktuelle_pressemitteilungen/pm/44461.php (abgerufen am 18. Juli 2009)
Grimm V. 2009. Einbindung von Speichern für erneuerbare Energien in die Kraftwerkseinsatzplanung- Einfluss auf die Strompreise der Spitzenlast. Dissertation Bochum 2007
Helmuth- M. Groscurth 2009. Projektbericht "Zur Wirtschaftlichkeit von Kohlekraftwerken am Beispiel des geplanten Kohlekraftwerks in Mainz". Arrhenius Institut für Energie- und Klimapolitik 2009 https://www.arrhenius.de/uploads/media/arrhenius_Bericht_Kohlekraftwerk_Mainz_Mai2009.pdf; (abgerufen am18. Juli 2009)
Jarass L., Obermair G., Voigt W. 2009. Windenergie. Zuverlässige Integration in die Energieversorgung. 2., vollständig neu bearbeitete Auflage.Springer- Verlag Berlin Heidelberg 2009.
Krämer M. 2003. Modellanalyse zur Optimierung der Stromerzeugung bei hoher Einspeisung von Windenergie. VDI Verlag. Bremen 2003
Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), 2009. Weichenstellungen für eine nachhaltige Stromversorgung. https://www.umweltrat.de/cae/servlet/contentblob/581556/publicationFile/34398/2009_Thesen_Weichenstellungen_Stromversorgung_Hohmeyer.pdf (abgerufen am 21.07.2009)