(Gegenwind 239, August 2008)

Die Ukrainerin Korol Anna Afanasjewna besucht Kiel

Mit 12 Jahren Zwangsarbeiterin

Korol Anna Afanasjewna vor ihrer Kate (Aufnahme von 2008)
Korol Anna Afanasjewna vor ihrer Kate (Aufnahme von 2008)

Die ehemalige ukrainische Zwangsarbeiterin Korol Anna Afanasjewna besucht in Kürze Kiel. Korol Anna Afanasjewna wurde am 15. April 1929 im ukrainischen Dorf Wassilevka geboren. Als Kind wurde sie zur Vollwaise: Beide Elternteile verstarben während der riesigen Hungersnöte der Dreißiger Jahre. Korol Anna Afanasjewna wuchs zusammen mit anderen Kindern in einem Waisenhaus des Dorfes auf.

Kaum 12 Jahre alt, musste sie erleben, wie deutsche Soldaten in ihr Dorf einmarschierten und nicht nur Erwachsene und Jugendliche zusammen trieben, sondern auch die Kinder des Waisenhauses, die sie für arbeitsfähig hielten. Nur Kleinkinder und Babies wurden verschont. Alle waren verängstigt, weinten, schrien - und mussten doch eng gequetscht in bereitstehende Viehwaggons steigen, die dann wochenlang nach Deutschland fuhren - und wo sie, auch die Kinder, zur Zwangsarbeit vorgesehen waren.

Korol Anna Afanasjewna kam direkt nach Kiel in das dortige Torpedowerk. Hier musste sie Putz- und Reinigungsarbeiten ausführen (z.B. Splitterreste von den Werkbänken entfernen, Fegen der Arbeitsräume usw.). Weil überall (erwachsene) Arbeitskräfte fehlten, brachte ihr ein Meister schließlich einfache Schlosserarbeiten bei, so musste sie fortan Männerarbeit leisten: Muttern, Scheiben, Gewinde (mit)herstellen.

Korol Anna Afanasjewna mit 33 Jahren und ihren beiden 1957 und 1960 geborenen Kindern (Aufnahme von 1962)
Korol Anna Afanasjewna mit 33 Jahren und ihren beiden 1957 und 1960 geborenen Kindern (Aufnahme von 1962)

Untergebracht war Korol Anna Afanasjewna im Lager "An der Schanze" in Kiel-Friedrichsort. Hier "lebte" sie mit Gleichaltrigen zusammen in einer Baracke. Im Gegensatz zu den erwachsenen ZwangsarbeiterInnen durften sich Kinder - wollten sie nicht geharnischte Strafen riskieren - auf gar keinen Fall außerhalb des Lagergeländes bewegen. So blieb der Zwölfjährigen wie auch den übrigen Kindern und Jugendlichen als einzige Abwechslung nach ihrem (Erwachsenen-)Arbeitstag das Spaziergehen vor dem und um das Lagergelände herum. Ebenfalls im Gegensatz zu den erwachsenen ZwangsarbeiterInnen wurden die Kinder nicht entlohnt bzw. wurde ihnen das Entgelt einfach vorenthalten. Drei Jahre lang war Korol Anna Afanasjewna weder in Friedrichsort oder in Kiel - außer dem Lager und den Torpedowerken hat sie nichts gesehen. Während dieser Zeit waren die Kinder, also auch Korol Anna Afanasjewna, von nahezu allen Informationen von außen abgeschottet, sie wussten also nicht im entferntesten, ob und wie lange der Krieg noch dauern, ob sie jemals ihr Heimatland wieder sehen würde.

Umso ängstlicher war sie (als ohnehin schon), als sie in einem kurzen Moment der Unachtsamkeit mit ihren Zöpfen an der Werkbank "hängenblieb" und Metallsplitter ungeschützt in ihre Augen gerieten. Dabei zog sie sich schlimme Kopf- und Augenverletzungen zu, zu deren Behandlung sie in das Krankenhaus nach Kiel eingeliefert wurde. Die bange Frage, die sich Korol Anna Afanasjewna stellte und deren Beantwortung sie fürchtete: was würden wohl die Deutschen nun mit ihr anstellen, da sie nicht mehr arbeitsfähig war?

Nahezu zeitgleich zu ihrer Krankenhauseinweisung begannen schwere Bombardements auf Kiel, die solche Ausmaße annahmen, dass Ärzte, Schwestern und PatientInnen, sofern dazu in der Lage, panikartig aus dem Krankenhaus flüchteten. Allein auf sich gestellt, irrte die nunmehr 15jährige durch Kiel, bis sie von deutschen Marinesoldaten aufgegriffen wurde. Diese hatten offenbar Mitleid mit ihr und besorgten ein kleines Boot, mit dem sie Korol Anna Afanasjewna zurück "nach Hause", ins Friedrichsorter Lager brachten.

Sitzend: Korol Anna Afanasjewna mit 17 Jahren (Aufnahme von 1946); neben ihr Freundin Olga, ebenfalls zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt
Sitzend: Korol Anna Afanasjewna mit 17 Jahren (Aufnahme von 1946); neben ihr Freundin Olga, ebenfalls zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt

Nun überstürzten sich die Ereignisse: Die z.T. schweren Verletzungen wurden kaum bis gar nicht behandelt, die Wunden waren noch offen - aber es kam endlich zur Befreiung: Vertreter der Roten Armee hatten jetzt in Kiel das Sagen, sammelten die russischen, ukrainischen Menschen ein und brachten diese nach Ostpreußen. Dort wurden die ehemaligen Zwangsarbeiter mehr oder weniger gezwungen, die Ernte einzubringen und landwirtschaftliche Arbeiten zu verrichten. Dass Korol Anna Afanasjewna klaffende Kopfwunden und schlimme Augenverletzungen hatte, war für die Befreier ohne Bedeutung, sie wurde wie alle anderen als volle Arbeitskraft gebraucht und auch eingesetzt. Erst im Spätherbst 1945 konnte Korol Anna Afanasjewna in die ukrainische Heimat zurückkehren.

Hier war an die Fortsetzung des gewaltsam unterbrochenen Schulbesuches nicht zu denken, weil ihre Arbeitskraft sofort in der Landwirtschaft benötigt wurde. Korol Anna Afanasjewna hätte gern den Schulbesuch fortgesetzt, etwas gelernt, sie war doch erst 15 Jahre - aber danach ging es nicht. Bis zu ihrer Familiengründung arbeitete sie als Wäscherin im dörflichen Krankenhaus. 1957 und 1960 wurde Korol Anna Afanasjewna Mutter von zwei Töchtern. Ihr Ehemann ist schon längst verstorben. Sie lebt allein in einer kleinen Kate - und wäre da nicht der Garten, würde sie noch nicht einmal jeden Tag satt werden können (ihre Rente ist rd. 63 € mtl.).

Die physischen Verwundungen, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte, wurden eigentlich nie behandelt, mit dem Ergebnis, dass sie bis heute periodisch sowohl unter Kopf- als auch Augenschmerzen, insbesondere zeitweisen Konzentrationsstörungen leidet. Über die psychischen Verletzungen mag sie auch heute noch nicht wirklich reden.

Korol Anna Afanasjewna hat ihr Leben lang im gleichen Dorf verbracht; ist nie von dort verreist - ihr einziger Auslandsaufenthalt war die Zeit der Zwangsarbeit in Deutschland.

Luba Chevyreva
und Dieter Boßmann

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