(Gegenwind 238, Juli 2008)

Entschleunigung der Stadt

Anmerkungen zur Kommunalwahl

Wahlplakate der Parteien zur Kommunalwahl in Schleswig-Holstein 2008

Die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein haben einige überraschende Ergebnisse gezeitigt. So war vor der Wahl unklar und spannend, ob die SPD ihre massiven Stimmverluste aus 2003 wettmachen könne und wieder mehr Wähler für sich mobilisiert. Ebenso unklar war, wie stark die CDU verlieren würde, denn für die Annahme, dass sie die Protestwähler der letzten Wahl binden könnte, gab es keinen Hinweis. Dass die Linke stark werden würde war klar, aber nicht in welchem Maße. Im Folgenden beschäftige ich mich mit den Ergebnissen in den kreisfreien Städten. Hier sind bemerkenswerte Entwicklungen in Gange, die auch etwas mit neuen Problemen des städtischen Lebens zu tun haben.

Im Trend liegt der erneute Rückgang der Wahlbeteiligung. In den kreisfreien Städten Lübeck, Neumünster und Flensburg wählten noch knapp 40%, in Kiel 47%, was damit zusammenhängen mag, dass Kiel als Landesverwaltungs- und Universitätsstadt überdurchschnittlich viele Bürger beherbergt, deren Beschäftigungsverhältnisse über ein politisches Ticket laufen oder gelaufen sind.

Die CDU verliert in den kreisfreien Städten kumuliert 47.000 Wähler, die SPD noch einmal 14.000. Damit schrumpft der Stimmanteil der großen Koalition an allen Wahlberechtigten in Kiel auf 27,6%, in Lübeck auf 22%, in Neumünster auf 27,8% und in Flensburg auf 14,4%. Dennoch wählten in den vier Städten kumuliert 52.000 Bürger die CDU und 60.000 die SPD (deshalb ist die Bemerkung von Wadepfuhl, die CDU spiele in einer anderen Liga nur so zu verstehen, dass sie halt in der Kreisliga spielt). Die Zeit, in der die Verluste der CDU mit den Gewinnen der SPD korrespondierten und umgekehrt ist vorbei. Ihre Wählerstimmen verringern sich mit dem Wohlstandsverlust der großen Masse der Bevölkerung mitten in der Hochkonjunktur. Vor allem die schlagende Teuerung untergräbt den politischen Konsens in Deutschland. Es hat schon eine Anpassung an die Senkung der durchschnittlichen Löhne um 5% seit 2000 gegeben und in genau dieser Anpassung wurden die Reserven der unteren Hälfte der Bevölkerung aufgezehrt, die es jetzt bräuchte um höhere Preise zu puffern. Zugleich sehen die Leute, dass der Kaiser nackt ist. Um die Teuerung zu dämpfen, wird eine Leitzinserhöhung angekündigt und am gleichen Tag steigt der Ölpreis um 11%. Das beunruhigt gründlich, weil es die herrschenden Konzepte falsifiziert.

Als reine Veralberung kommen dann Vorschläge daher, die Unternehmen sollten nun Benzingutscheine an Mitarbeiter ausgeben. Soll Gefolgschaft begründet werden? Nein, es braucht Lohnzuschläge der Unternehmen. 1.000 € für jeden Beschäftigten in 2008 wäre fast schon durch die Steuergeschenke dieses Jahres an Unternehmen finanziert. An den Tankstellen liegen Tipps für ökonomisches Fahren aus, die im gleichen Verhältnis zu den galoppierenden Spritpreisen stehen, wie ein Wundpflaster zum Wirbelsäulenbruch. Manchmal hört man auch Hinweise, wie man denn mit wenig Geld auskommt: Gut essen mit Sarrazin. Oder man hört etwas vom steten Bemühen die Konkurrenz zu beleben, um die Preise zu senken. Gute Güte, mittlerweile hat Springer und PIN großformatig ausgeflaggt, dass Konkurrenz den Sinn hat, Löhne zu senken.

Das Wahlergebnis ist auch nicht mehr nur ein Warnschuss, eine mürrische Erklärung des Widerwillens, sondern das praktische Resultat der Wahlen liegt in der Verhinderung von einfachen Koalitionen. Die deutliche Intention der Wähler ist: Nicht weiter so. Denn dass die traditionellen Koalitionen nicht mehr gehen heißt auch, dass die klotzigen Großinvestitionsprojekte nicht mehr ohne weiteres beschleunigt durchzuwinken sind. Damit sind die Prestigebauten des Superreichtums gemeint, mit denen Sicherheit in einer riskanter werdenden Umwelt symbolisiert wird: Hotelklötze und Bankenhochhäuser. Es geht aber auch um die Ausbeutung städtischer Ressourcen durch Energiekonzerne, mit denen einerseits viel Geld für Investoren gemacht werden soll, wovon die Bevölkerung aber nur den Schaden eines oberhässlichen Industriebaus, einer zusätzlich verpesteten Atmosphäre und einer um mehrere Grad Celsius erwärmten Förde hat. Die Oberbürgermeisterinnen werden viel kriminelle Energie aufbringen müssen, um die vom Wähler erzwungene Rückkehr zu demokratischen Verfahrensweisen zu umgehen. Und man hört es ja mittlerweile raunen, dass die Demokratie wirtschaftlich nicht unbedingt nützlich sei. Umgekehrt fragen die Bürger, was hat die Stadt - verstanden als Gesamtheit ihrer Bürger - von einem Investment?

Insbesondere aus Flensburg gibt es hier bedeutungsvolle Ergebnisse. Eine Bürgerinitiative, die im Konflikt mit der städtischen Stadtentwicklungs- bzw. "Investitions"- oder besser Ausverkaufspolitik stark geworden war, gewinnt auf Anhieb 23% und wird stärkste Fraktion vor dem SSW mit 22%. Auf den Plätzen folgen die CDU mit 20% und die SPD mit 16%. Wahrscheinlich spielt die Nähe zu Dänemark, mit seinem gut regulierten Arbeitsmarkt, Vollbeschäftigung und deutlich höheren Löhnen eine wichtige Rolle. Für die Dänen sind wir ja ohnehin bedauernswerte Billiglöhner oder wenn es um ihre Jobs geht: Lohndumper. Allerdings kann dies auch die Zukunft der anderen Städte sein, wenn mehr und mehr durchschaut wird, dass das neuliberalistische Mantra von Privatisierung, Deregulierung und Konkurrenz wirtschaftlich außerordentlich schädlich ist. Aus dem "trickle down"-Effekt, nach dem der Wohlstand sozusagen nach unten durchtröpfelt ist ein "trickle up"-Effekt geworden. Das Geld fällt nach oben oder die Armen zahlen alles. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die freie Marktwirtschaft zu einem erbärmlich niedrigen Lebensstandard der Massen führt.

Mit dem Nachlassen der Bindungskraft beider Parteien rücken auch andere Parteien nach. In den ehemaligen Hochburgen der städtischen CDU erreichen die Grünen mittlerweile 25%, ebenso viel wie die Linke in ehemaligen SPD Hochburgen. Überhaupt ist die Linke in drei von vier schleswig-holsteinischen Städten dritte Kraft geworden. Kumuliert hat die Linke 25.000 Stimmen in den kreisfreien Städten bekommen, ohne dass eine Politik vorgelegen oder sie ausdrucksstarke Personen vorzuweisen hätte. Hier ist in geballter Manier Protest gewählt worden. Dieser Protest ist aber nicht beliebig, sondern transportiert das Kalkül, dass die Stärkung der Linken zunächst Druck aufbauen hilft, um eine Wende bei den Wohlstandsverlusten herbeizuführen und dann die Möglichkeit eröffnet die politischen Karten neu zu mischen. Das heißt, die politischen Erwartungen an die Linke sind politisch-atmosphärisch hoch und politisch-praktisch eher gering ausgeprägt. Wenn die Wähler Aktivität der Linken für ihre Belange bemerken, wird sie ihr Ergebnis schon stabilisieren können, wenn sie es versteht, den divers verteilten Unmut politisch zu verbinden und konstruktive, realitätstüchtige Forderungen zu entwickeln, wird sie absehbar zur SPD aufschließen.

Nach meinem Eindruck sind die Linken noch kaum politikfähig. Aber das kann sich ändern. Sie sollte zunächst nicht nach Macht angeln, sondern erst mal Erfahrungen in den Räten machen, auch positive Erfahrungen gegenseitiger Unterstützung. Das heißt gerade nicht im klein-klein zu verharren, sondern beobachten wie der Laden läuft, Verbindungen mit der Verwaltung aufbauen, über Inhalte Bündnispartner suchen und die Bevölkerung informieren. Generell sollten keine Spar- oder Einschränkungsbeschlüsse mitgetragen werden: das ist tödlich. Vielleicht gelingt eine Vernetzung der Fraktionen der Städte: Es wäre schon was, wenn die Linke es schaffen würde, zunächst in den schleswig-holsteinischen Städten eine Wende in der Personalpolitik herbei zu führen. Keine Ein-Euro-Jobs ohne Übernahmeperspektive, keine Gehaltskürzungen, ordentliche Verdienste und ein ordentlicher Umgang mit den städtischen Mitarbeitern, wieder vernünftig ausbilden: 1985 hatte Schleswig-Holstein mit 1.304 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen 264,5% mehr neu abgeschlossene Ausbildungsverträge als 2007 mit 493. Das kann doch mal gesagt werden, wenn Wirtschaftsminister und Bildungsministerin sich die Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt zurechnen.

Die Grünen verlieren und gewinnen in je zwei kreisfreien Städten und bleiben dort mit insgesamt 27.000 Stimmen dritte Kraft. Besonders interessant ist, dass sie aus der Koalition mit der CDU in Kiel gestärkt hervorgehen. Ökologisch hat man, bis auf den vierten Kessel bei der Müllverbrennung, nichts anbrennen lassen, und die Spar- und Privatisierungspolitik hat wohl weder die materiellen Interessen der Wähler der Grünen noch deren Sensibilität getroffen. Die Technofraktion scheint jetzt den Haushalt konsolidieren zu wollen. Dies ist aus zwei Gründen falsch. Es fehlt eine nachvollziehbare Rechnung, was die Stadt von der Privatisierung der Stadtwerke an finanziellen Vor- oder Nachteilen hatte. Wenn der Verkaufserlös dem Verlust von 1.500 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, laufenden Mindereinnahmen, einer unters Minimum gefallenen Neubau- und Instandhaltungsaktivität entgegengestellt wird, ergibt sich, dass die Privatisierung ein ganz schlechtes Geschäft für die Stadt ist. Auf den Punkt gebracht handelt es sich um eine Subventionierung von Konzernen. Dies gilt generell: Die Haushälter sind unfähig oder unwillig, eine wirtschaftliche Vollkostenrechnung zu erstellen, um die Kosten von Outsourcing, Private-Public-Partnership, Privatisierung und allein preisbasierten Ausschreibungen zu erfassen. Dort wo es geschehen ist (vor allen: die Schweizer) resultiert eindeutig: Diese Politik ist wirtschaftlich extrem unvorteilhaft für die Städte, erzeugt erhebliche Mehrkosten, die in keinem Verhältnis zu erwartbaren Minderausgaben stehen. Es würde also ins Ungewusste hinein eingespart werden, mit möglicherweise kontraproduktiven Ergebnissen weiteren Schuldenaufbaus aufgrund von Einsparungen. Zweitens ist es auch dumm, in den Abschwung hinein zu konsolidieren. Dies vertieft den Abschwung und erhöht die Arbeitslosigkeit. Das Ziel der städtischen Haushalte kann so nur sein, den Schuldenstand überschaubar zu halten.

Die FDP gewinnt in den kreisfreien Städten bedeutend von 10.000 Wählern in 2003 auf 17.000 aktuell. Die Motive, die FDP zu wählen werden einmal aus ihrer Position zum Rauchergesetz stammen, wo sie aus eher ängstlichem Abwarten als einzige Partei dann doch zu einer entschieden liberalen und ablehnenden Haltung gefunden haben. Neben den enttäuschten CDU-Wählern haben ihnen vielleicht auch ihre gut begründeten Positionen in Sachen Rechtsstaat und Bürgerrechte geholfen.

Wirtschaftlich hat sich seit 2000 die bundesrepublikanische soziale Marktwirtschaft tatsächlich in eine freie Marktwirtschaft verwandelt. Dies hatte erhebliche negative Folgen für die Arbeitnehmer in Bezug auf Einkommen und Arbeitsbeziehungen. Zu beobachten ist die Umwandlung des Wirtschaftsgeschehens in ein Rattenrennen, eine Umverteilung der Wertschöpfungsergebnisse weg von den Leistungseinkommen der Arbeiter und Angestellten hin zu den leistungslosen Einkommen der Vermögensbesitzer. Darüber hinaus wandern nun auch die Erwartungen des internationalen Markts, die strukturell vom Krieg ununterscheidbar sind, in den Alltag ein. Verrohte, nervöse und idiotische Umgangsverhältnisse aus der schönen neuen Welt der real existierenden Marktwirtschaft gelangen in die städtische Umwelt.

Veränderungen im städtischen Leben

Dass die Attraktivität der Städte nachlässt zeigt schon ein Blick auf die Einwohnerentwicklung. Die Bevölkerung Kiels schrumpft von 1970 bis heute von 270.000 auf 235.000, diejenige Lübecks von 240.000 auf 211.000, diejenige Neumünsters von 86.000 auf 79.000. Nur Flensburgs Einwohnerzahl bleibt mit 86.000 konstant. Im gleichen Zeitraum findet ein rapider Strukturwandel statt: Hatte Neumünster 1970 noch 163 industrielle Arbeitsplätze auf 1.000 Einwohner, so sind es heute noch 73 und in Kiel sinkt diese Ziffer von 120 auf 55. Zu diesen länger laufenden Prozessen kommen einige Beobachtungen:

Ich beobachte diese Zunahme der Nervosität, Unduldsamkeit und Rohheit unter Unbekannten sowie das Nachlassen kollektiver Intelligenz im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung, die auch eine der Veränderung des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft ist.

Statt eines: Weiter so! der Wirtschaftsstandortpolitik braucht es jetzt eine Politik des städtischen Lebens, der sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates. Sie beinhaltet auch eine entschiedene Hinwendung zur Wirtschaft mit der Intention, dass die Wohlstandsproduktion des Marktes verteilt wird und damit politische Probleme der Teilhabe, der individuellen Lebenschancen und der sozialen Gerechtigkeit soweit entschärft und abmildert werden, dass sie nicht unlösbar werden. Dazu gehört die dauerhafte Aufgabe, in neuen Formen und unter neuen Aspekten sich wandelnde Tatbestände und Fragen des sozialen und politischen Lebens durch stets erneute Willensentscheidungen für alle Bürger in demokratischen Verfahrensweisen lebbar zu machen. Es geht um einen ständigen Ausgleich von Wohlstandsgewinnen in der Gegenwart, um die Entwicklung kollektiver Intelligenz und um eine Form von Gesamtwohl, welches nicht mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse identisch ist.

Thomas Herrmann

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