(Gegenwind 231, Dezember 2007)

Deutschland sucht Facharbeiter - im Ausland

Palast des Finanzministers Apikyan Efendi, in dem Özkan Nissen aufgewachsen ist
In diesem Palast des Finanzministers Apikyan Efendi, ein Armenier der unter Sultan Abdulhamid gedient hatte und durch die Jungtürken erschossen wurde mit 50 Zimmern bin ich aufgewachsen. Mein Urgroßvater, ein Vetter des Königs Zogu von Albanien hatte ihn nach seiner Flucht aufgekauft.

"Holzhacken mit Diplom" nannte der "Spiegel" jüngst einen Artikel. Es ging darum, dass Deutschland Fachkräfte im Ausland sucht. Die Bundesregierung wird von Wirtschaftsverbänden gedrängt, die Bedingungen zu erleichtern. Gleichzeitig gibt es hier viele Migrantinnen und Migranten, deren Ausbildungen und Abschlüsse nicht anerkannt werden. Sie haben ein Diplom, werden aber Küchenhilfe oder Holzhacker. Özkan Nissen, der in Neumünster arbeitet und Mitglied der Dolmetscher-Kartei beim Gegenwind ist, schrieb dazu eine kleine Übersicht über seine Mühen.

Die väterliche Seite kam in das damalige Osmanische Reich Ende des 19. Jahrhunderts bis kurz vor den I. Weltkrieg mit dem Ursprung Albanien, Mazedonien (heute in Griechenland) und Preußen. Die mütterliche Seite folgte kurz nach dem II. Weltkrieg mit Ursprung Dänemark und Mecklenburg.

Ich bin geboren in Bursa / Anatolien 1960 und aufgewachsen in Istanbul mit drei Staatsbürgerschaften. Wegen unterschiedlichem so genannten Namensrecht war zudem der Familienname für jeden Staat unterschiedlich. Der Verzicht auf die eine oder andere Staatsbürgerschaft war entweder rechtlich nicht zulässig oder mit unerträglichen Härten verbunden, die es faktisch unmöglich machten.

1966 Grundschule

Die Eltern wollten den Besuch der deutschen Grundschule im deutschen Generalkonsulat. Dies wurde verweigert.

  1. Die deutsche Schule und das Konsulat weigerten sich, Doppelstaatler mit türkischer Staatsbürgerschaft aufzunehmen, weil angeblich die Vertretung das Gastrecht dadurch verletzt hätte.
  2. Das türkische Recht erkannte eine Schulpflicht von (damals) 5 Jahren nur durch den Besuch einer türkischen Schule als erfüllt an. Damit war der Besuch einer deutschen Grundschule nicht anerkannt und führte zu Maßnahmen des Staates wegen Verletzung der Schulpflicht.
  3. Ein Besuch der deutschen Schule wäre nur nach Verzicht auf die türkische Staatsbürgerschaft möglich gewesen und dies wurde vom türkischen Staat grundsätzlich (damals) abgelehnt.
  4. Sollte eine ausnahmsweise Ausbürgerung erfolgen, so schrieb das Gesetz vor, dass der Ausgebürgerte mindestens 10 Jahre nicht türkischen Boden betreten dürfe. Ich war 6 Jahre alt und wäre ausgebürgert auch ausgewiesen - mein Vater, der unter Zwang auf die deutsche Staatsbürgerschaft schon früher verzichten musste, wäre aber nicht nach Deutschland gekommen. Damit hätte ich wegen der Ausweisung aus der Türkei auch nicht auf die Konsulatsschule gedurft und hätte von meinen Eltern getrennt wie ein Waisenkind aufwachsen müssen. Es wäre somit gar nicht möglich gewesen.

1971 Weitere Schulbildung

Erneut wollten meine Eltern mich auf die deutsche Schule geben. Es wurde erneut abgelehnt.

Hintergrund: Das deutsche Gymnasium hat Klassen für Deutsche und für Türken. Die Klassen für Deutsche nehmen nur Schüler von der deutschen Grundschule auf, auf die ich nicht durfte. Die Klassen der Türken unterliegen einer Aufnahmeprüfung. Dabei gab es zwei Alternativen, die einander ausgeschlossen haben. Entweder die allgemeine Aufnahmeprüfung für Schüler, die erst Deutsch lernen müssen, oder jene für Schüler die Deutsch können und das Vorbereitungsjahr überspringen wollen. Beide Prüfungen anzugehen ist unzulässig. Die Plätze der 2. Alternative werden begrenzt durch die Anzahl an Schülern, die es in der Vorbereitungsklasse nicht geschafft haben. Im Vorjahr gab es fünf Plätze und wir entschieden uns für die zweite Alternative. In meinem Jahr wurde nur ein Platz vergeben und ich wurde der Zweite. Damit folgte die Ablehnung.

Ein weiteres Problem war, dass die Abiturprüfungen von den türkischen Klassen vom Lehrerkollegium gestellt wurden. Die türkischen Absolventen durften dann über das Ausländerkontingent in Deutschland studieren. Als deutscher Staatsbürger hätte ich aber nicht in das Ausländerkontingent gedurft. Ich hätte das Abitur der deutschen Klassen machen müssen, deren Abiturprüfungen aus Deutschland mit diplomatischem Courier gesendet werden musste. Dies setzte voraus, dass ich von der deutschen Klasse komme - was bekanntlich nicht möglich war.

1971 - 79 Besuch der Französischen Schule

Die Klasse des Autors auf der französischen Schule 1977
Die Klasse des Autors auf der französischen Schule 1977

Anders als die Deutschen, machten die Franzosen keinen Unterschied in der Staatsbürgerschaft und ich konnte ein Baccalaureat machen, mit dem ich in Frankreich studieren durfte.

1979 Abschluss der franz. Bac (Abitur) mit Studienanspruch in Frankreich.

Das Abkommen zur Anerkennung der gegenseitigen Diplome und Zeugnisse zwischen Frankreich und Deutschland stellt auf das Abitur erteilt im jeweiligen Land ab. Ein im Drittstaat (Türkei) von Frankreich erteiltes Abitur ist in Deutschland nicht gültig. Damit ist ein Studium in Deutschland ausgeschlossen.

1979 türkisches Abitur. Zum Zwecke des Studiums im Ausland wird ein türkisches Abitur und ein zusätzlicher Punktestand in einer Universitätsaufnahmeprüfung benötigt, um eine Devisenausfuhrgenehmigung zu erlangen. 1979 erfolgt das türkische Abitur und die Punktezahl wurde erreicht. Ich musste binnen 6 Monaten einen Studienplatz im Ausland nachweisen, sonst verfällt die Genehmigung.

1979 Studium in Rennes / Frankreich

Unerwartet erteilt ohne Begründung die Universität Darmstadt einen Studienplatz. Auf Druck der Eltern wird Frankreich verlassen - alle Zelte abgebrochen. Bei Ankunft stellt Darmstadt zur großen Verwunderung fest, dass ich deutscher Staatsbürger bin und zieht seine Zulassung zurück und droht mit einer Strafanzeige, weil ich angeblich eine Zulassung über das Ausländerkontingent erschleichen wolle.

1979: Rückkehr nach Frankreich scheitert, nachdem ich dort exmatrikuliert wurde. In der Türkei herrscht Bürgerkrieg. Deutsche werden alle als vermeintliche "Nazis" von kommunistischen Untergrundorganisationen verfolgt. Morddrohungen sind an der Tagesordnung. In Deutschenland droht Strafverfolgung wegen angeblicher Erschleichung der Zulassung über das Ausländerkontingent. Ich hatte die Türkei mit 100 DM verlassen, weil der Staat nicht mehr Devisen zubilligte. Herzlich willkommen in Deutschland!

Studium an drei Hochschulen in drei Ländern
Das Studium habe ich in Frankreich an der Universität in Rennes begonnen. Später in Wien an der Wirtschaftsuniversität studiert und noch später in Passau die Differenzfächer abgelegt.

Als einziges Bundesland bietet Hessen noch eine Abiturprüfung an. Ich habe 3 Wochen Zeit, das Pensum von 13 Schuljahren in Deutschland prüfen zu lassen. Stets ergeht der Hinweis von allen Behörden: mit großen Kosten würde man für uns Deutsche die deutsche Schule finanzieren und ach welche Opfer doch Deutschland für uns dafür erbringen müsse. Wenn wir Deutsche denn nicht auf die deutsche Schule gingen dann wären wir wohl selbst schuld. Auf die Frage, was die Schule, die uns strikt die Aufnahmeverweigert, denn nutzt, sehen wir entweder ungläubige lange Gesichter oder hören die Antwort, dies könne nicht stimmen, dies würde man nicht glauben.

Schließlich meint der Rektor des Gymnasiums, an der die Abiturprüfung geschrieben werden soll, nur lapidar: "Was wollen Sie eigentlich in Deutschland? Gehen Sie doch gleich wieder ins Ausland!" Was will auch ein Deutscher in Deutschland??? Wie beantwortet man diese Frage, ohne sich eine Strafanzeige wegen Beleidigung einzuhandeln???

Doch die größere Frage ist: Wie eignet sich ein Deutscher, dem dieser Staat konsequent jegliche Möglichkeit verweigert hat, je eine deutsche Schule besuchen zu können und der sich Deutsch nur selbst autodidaktisch beigebracht hat, in drei Wochen das gesamte Pensum von 13 Schuljahren an? Hand aufs Herz, kann man da noch von realistischer Möglichkeit sprechen?

Das Schicksal war doch wohl gesonnen. Ich bestand die 6 Prüfungen (sog. Ergänzungsprüfungen) mit 1,17 Durchschnitt.

Doch nun wäre es zu spät, einen Studienplatz zu bekommen. Ich hätte 6 Monate warten müssen. Hätte ich dies getan, wäre meine Devisenausfuhrgenehmigung abgelaufen. Zudem wäre der Wehrdienst dann gleichzeitig in drei Armeen fällig geworden. Der Tanz auf gleich drei Hochzeiten?

1979 blieb mir nur noch die Flucht nach Österreich, wo ich bis 1988 gelebt habe. Nachdem ich einen Studienplatz in Österreich nachgewiesen hatte und Devisen aus der Türkei bekam (mein Vater hat mein Studium finanziert), wurde von der Türkei ein Wechsel des Studienortes nach Deutschland abgelehnt, da es zusätzliche Devisen gekostet hätte.

In den Folgejahren habe ich oft der Vorwurf der so unanfechtbaren (und überschlauen) deutschen Bürokraten gehört, dass das deutsche Generalkonsulat doch dabei gewiss geholfen hätte. Tatsache ist, dass damals der Devisenverkehr streng reglementiert war und jede Zuwiderhandlung als "schweres Devisenverkehrsdelikt" zu Gefängnisstrafen in der Türkei führte. Hätte das deutsche Generalkonsulat Devisen so ins Ausland befördert, hätte es den Straftatbestand erfüllt. Zwar besteht diplomatische Immunität, aber das Gastrecht wäre erheblich verletzt worden, und mein Vater hätte jederzeit, zumal ohne eine solche Immunität, verurteilt werden können.

Wirtschaftsuniversität Wien - Sponsion 26.03.1985
Die Sponsion ist die Verleihung des Magister / Diplom in Österreich.

1979 - 1985 Studium

Ich absolvierte das Studium der Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien, laut damaliger Studienordnung 14,5 Semester Studiendauer!

Zunächst die Begriffe:

Wirtschaftsuniversität: wie eine TU, Technische Universität ist die Wirtschaftsuniversität eine Fachuniversität. Trotz Gleichwertigkeit der Abschlüsse mit der allgemeinen Universität/Wirtschaftsfakultät genießt die Fachuniversität einen besseren Ruf durch die Spezialisierung.

Handelswissenschaften : Eine Fachrichtung zwischen einem Handelsjuristen und einen Diplomkaufmann mit mindestens zwei weiteren Wirtschaftssprachen außer Deutsch.

Magister: In Österreich schließen alle (außer Ingenieure) mit dem Magister ab. Der Titel liegt in Österreich nach Abschaffung des Diplomkaufmanns höher.

1985 bescheinigt das Kultusministerium des Landes Schleswig-Holstein, dass die Wirtschaftsuniversität eine "anerkannte Hochschule" ist.

Dennoch habe ich in Deutschland keine Arbeit bekommen. Oft wurde die Wirtschaftsuniversität mit einer Wirtschaftsakademie verwechselt, da es in Deutschland solche Fachuniversitäten nicht gibt. Der Magister ist in Deutschland gegenüber dem Diplom inferior und nicht superior wie in Österreich, und von einem Handelswirt hat hier noch nie einer etwas gehört.

Die Promotion in Wien 1986 zeigt den Autor mit der Urkunde zum Doktortitel in der Hand. Hintergrund ist die Fahne der Rep. Österreich.
Die Promotion in Wien 1986 zeigt mich mit der Urkunde zum Doktortitel in der Hand. Hintergrund ist die Fahne der Rep. Österreich.

Das Ministerium schlägt vor, die Gleichwertigkeit zu beantragen. Um die Differenz abzulegen, habe ich erneut einen Studienplatz beantragt und zwar in Kiel.

Ich bekam einen Studienplatz (sinnigerweise!!) in Passau statt in Kiel. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass dies eine Ermessensentscheidung sei. Es wird mir nahe gelegt, in Wien in Volkswirtschaft zu promovieren.

1986 erfolgt die Anerkennung auch als Diplomkaufmann. Da ist die Doktorarbeit aber schon fertig. 1987 Promotion zum Doktor der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.

Mit (noch) 26 Jahren hatte ich in drei Ländern das Abitur, den Diplomkaufmann, Magister-Handelswirt und den Doktor in VWL. Ich spreche 4 Sprachen fließend und 2 weitere kann ich verstehen.

Nun hieß es, ich sei zu hoch qualifiziert. In einem meiner studierten Berufe habe ich seit 1985 nie (!) einen Job bekommen.

Wenn nun die Wirtschaft meint, ein Mangel an Hochqualifizierten würde die Wirtschaft schädigen, dann raufe ich mir Haare.

Dr. Özkan Nissen
Neumünster

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