(Gegenwind 211, April 2006)

Zum 91. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern (II)

Manchmal zu christlich

Wilhelm Baum: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten. Geschichte, Völkermord, Gegenwart.

Gerade beginnen die Betrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU. Dabei geht es außer der Besetzung Nordzypern, der Frage der Menschenrechte und der Kurden, der Anerkennung des Völkermordes auch um die Frage der nicht-moslemischen Minderheiten in der Türkei. Um die christlichen Minderheiten geht es in dem neuen Buch des Historikers und Theologen Wilhelm Baum.

Die Darstellung beginnt um 610 nach Christus, also vor der Entstehung des Islam. Der Autor zeichnet dann die verschiedenen islamischen Vorstöße auf Konstantinopel nach. Hiervon war auch Armenien betroffen, das fast immer unter der Herrschaft benachbarter Großreiche stand. Baum zeichnet sorgfältig nach, dass es keineswegs einen "islamischen" Angriff auf die damaligen christlichen Staaten und Völker gab. Vielmehr gab es im zerfallenden oströmischen Reich eine Vielzahl örtlicher Herrscher und kurzlebiger Staaten, die sich je nach Taktik mal mit diesem, mal mit jenem Nachbarn verbündeten. Die osmanische Herrschaft, benannt nach dem türkischen Herrscher Osman (der zum Zeitpunkt der eigentlichen Reichsgründung aber schon tot war), begann 1453 mit der Eroberung Konstantinopels.

In den verschiedenen Phasen der osmanischen Herrschaft gab es für die Christen im Reich unterschiedlich viel Bewegungsspielraum. Im allgemeinen galt die Regel, dass Moslems wehrpflichtig waren, Andersgläubige hatten Steuern zu bezahlen und die "Knabenlese" zu dulden. Das bedeutete, dass Jungen aus allen Bevölkerungsgruppen den Eltern weggenommen und jahrelang militärisch trainiert wurden, um bei der Eliteeinheit der Janitscharen Dienst zu tun, natürlich nach ihrer Zwangsbekehrung zum Islam. Der Neubau von Kirchen war praktisch die gesagte Zeit des Osmanischen Reiches verboten, wurde aber zeitweise tolieriert.

Sehr kenntnisreich beschreibt der Autor die verschiedenen Kirchen und Glaubensrichtungen unter den christlichen Minderheiten, die auch zu handfesten Auseinandersetzungen führten. Manche staatliche Verfolgung einzelner Gruppen war von konkurrierenden christlichen Kirchen beim Sultan zuvor angeregt worden. Die ursprünglich relativ einheitlichen griechisch-orthodoxen Christen zerfielen nach und nach in verschiedene Gruppen, wobei die armenisch-orthodoxe und die russisch-orthodoxe Richtung ähnlich war, es gab dann aber auch katholische Kirchen und sogenannte "unierte" Kirchen, das sind solche, die in der Selbständigkeit dem Papst treu sind, ohne alle Regelungen der katholischen Kirche zu übernehmen. Später gab es auch mehr und mehr evangelische Kirchen.

Die große Katastrophe brach dann über die Minderheiten herein, als einige Gruppen im zerfallenden Osmanischen Reich den (europäischen) Nationalismus als Strategie entdeckten, um den Untergang aufzuhalten. Aus dem multikulturellen Osmanischen Reich sollte ein türkischer Nationalstaat werden. Diese Bewegung traf auf eine parallele Entwicklung in Europa: Mehrere europäische Staaten erklärten sich selbst zur "Schutzmacht" einer Minderheit, um so Einfluss zu nehmen oder sich bestenfalls ein Stück aus dem untergehenden Reich zu sichern. So wurde Frankreich zur Schutzmacht der Katholiken, Russland zur Schutzmacht der Orthodoxen. Auf dem von Bismarck geleiteten "Berliner Kongress" wurden dem türkischen Sultan Zugeständnisse bezüglich einer rechtlichen Gleichstellung der Minderheiten abgepresst, die allerdings nicht umgesetzt wurden.

1895 kam es zu landesweiten Massakern an (christlichen) Armeniern, gleichzeitig aber auch zu Massakern und Vertreibungen von Griechen. Doch während Griechenland inzwischen seine Unabhängigkeit von den Osmanen erkämpft hatte und mehr recht als schlecht versuchte, die griechische Minderheit zu schützen sowie Flüchtlinge aufzunehmen, gab es keinen Staat Armenien. Die Armenier, die unter russischer Regierung lebten, hatten allerdings mehr Freiheiten.

Der Autor schildert dann ausführlich den Völkermord von 1915. Hierbei geht er nicht nur auf die Armenier ein, sondern auch auf die fast ausgerotteten christlichen Assyrer und die weitgehend vertriebenen Griechen. Die Alliierten reagierten kurz nach den ersten Deportations- und Mordbefehlen mit einer öffentlichen Erklärung, die allen Kriegsverbrechern die Verurteilung und Bestrafung androhte, woraufhin die Befehle auf türkischer Seite nur noch geheim gegeben wurden. Dennoch belegen heute Tausende von erhalten gebliebenen Dokumenten den Völkermord, der zum Leidwesen der türkischen Regierung heute von der UNO, dem Europaparlament und mehr als 20 nationalen Parlamenten verurteilt worden ist.

Interessant, weil weitgehend unbekannt schildert Baum dann das weitere Schicksal derer, die Richtung Russland flohen. Hier brach das Zarenreich zusammen, und die neu entstehende Sowjetunion zog alle Truppen aus dem Kaukasus zurück. Es entstanden Georgien, Armenien und Aserbaidschan, die versuchten, eine "kaukasische Föderation" zu bilden. Die Türkei, die damals zwei konkurrierende Regierungen in Istanbul und Ankara besaß, griff den jungen armenischen Staat an, um anschließend die sprachlich und kulturelle verwandten Aserbeidschaner der neuen Republik anzuschließen. Noch mal wurden über 100.000 armenische Zivilisten umgebracht, bevor die Alliierten und die Rote Armee von Leo Trotzki eingriffen. Die Rote Armee schlug die Türken zwar innerhalb weniger Tage, aber nur, um zu bleiben - Armenien wurde Sowjetrepublik.

Der Autor beschreibt danach die Situation der christlichen Minderheit in der Republik Türkei, die ja ihre Streitigkeiten mit Griechenland keineswegs beigelegt hat, vielmehr erreichten diese mit dem griechischen Putsch auf Zypern und Massakern an dort lebenden Türken einen neuen Höhepunkt, der zur bis heute andauernden Besetzung Nordzypern durch die türkische Armee führte. Und als die Sowjetunion sich auflöste, kam es im schnell mit der Türkei verbündeten Aserbaidschan wieder zu Pogromen an der armenischen Minderheit, die zum Eingreifen der armenischen Armee und der Quasi-Unabhängigkeit der Region "Berg-Karabach" (Arzagh) führte.

Bis heute ist es für die christliche Minderheit in der Türkei schwierig, Grundbesitz zu haben, und fast unmöglich, neue Kirchen zu bauen. Allerdings hat die Türkei im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der EU zugesagt, die Gesetzgebung dem internationalen Standard anzunähern. Hier konstatiert der Autor einen Fortschritt auf dem Papier, dem der Fortschritt in der Realität noch hinterherhinkt.

Der Autor beschreibt sehr kenntnisreich die verschiedenen christlichen Kirchen und Gruppierungen, wobei fraglich ist, ob sich alle Leserinnen und Leser wirklich für diese Einzelheiten interessieren. Wer aber die Verästelungen der nahöstlichen Kirchen wirklich wissen will, ist hier bestens bedient.

Mir ist die Zeit des Osmanischen Reiches ein wenig zu stark unter dem Aspekt der Unterdrückung der christlichen Minderheit geschrieben. Nur mit kurzen Bemerkungen geht der Autor darauf ein, dass Angehörige der östlichen Kirchen in katholisch regierten Ländern Europas ein noch schwereres Los hatten, das Osmanische Reich also im Vergleich besser abschnitt als Italien oder Frankreich. Diese Passagen sind im Ton unnötig scharf anti-islamisch gehalten.

Die Erläuterung der internationalen Abkommen von Sèvres und Lausanne nach dem ersten Weltkrieg und das Schicksal der kaukasischen Völker in der Zeit zwischen 1918 und 1923 ist sehr interessant, weil selten erzählt. Hier finden sich auch umfangreiche Karten. So hatte der US-Präsident Wilson ein viel größeres Armenien als das heute bestehende vorgeschlagen, allerdings hatte er die zwischenzeitig ermordeten Armenier noch als "Mehrheitsbevölkerung" in Ostanatolien, dem damaligen Westarmenien auf der Rechnung. Diese Karten dienen heute einigen Armeniern als Grundlage für Gebietsforderungen, obwohl das fragliche Gebiet heute mehrheitlich von Kurden und sehr vielen Türken bewohnt wird.

Reinhard Pohl

Wilhelm Baum: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten. Geschichte, Völkermord, Gegenwart. Kitab-Verlag, Klagenfurt/Wien 2005, 208 Seiten, 22 Euro.

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