(Gegenwind 211, April 2006)

Zum 91. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern (I)

Glücklich und tragisch

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman.

Jedes Kind kennt den Musa Dagh. Zumindest jedes Kind in Armenien. In Deutschland ist dieser Berg an der syrischen Mittelmeerküste im südlichsten Zipfel der Türkei eher unbekannt. Das müsste nicht so sein, denn das Buch, das hier vorgestellt werden soll, wurde auf Deutsch geschrieben und in Deutschland veröffentlicht. Dennoch wurde die armenische Übersetzung weit besser verkauft. Damit hatte der Autor sicherlich nicht gerechnet - denn zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war an eine armenische Übersetzung nicht zu denken, ja schon die deutsche Ausgabe wurde kurze Zeit nach Erscheinen verboten.

Der Roman beginnt als Familiengeschichte. Nach dem Tod Avetis Begradian zieht sein Sohn mit den beiden Enkeln nach Paris um. Einer dieser Enkel ist Gabriel, die Hauptperson des Romans. Der Bruder, er heißt ebenfalls Avetis, kehrt nach Istanbul zurück, wo sein Großvater das bekannte Handelshaus gegründet hat mit Niederlassungen in Paris, London und New York. Er lebt in der Villa der Familie in Yoghonoluk im heutigen Nordsyrien, das damals zum Osmanischen Reich gehörte.

Gabriel absolviert das Gymnasium in Paris und studiert an der Sorbone. Er ist Archäologe, Kunsthistoriker und Philosoph. Sehr jung heiratet er eine Französin, Juliette. Gemeinsam haben sie einen inzwischen 10-jährigen Sohn, Stephan, für den der Vater einen armenischen Studenten als Sprachlehrer engagiert, damit er in Paris auch Armenisch lernt. In Paris hat er einen guten Namen, dass man ihm sogar ein Abgeordneten-Mandat der armenischen Daschnakzakan-Partei anbietet. Er sagt ab, nimmt aber trotzdem 1907 an einem Kongress teil, auf dem die "Jungtürken" ihre Zusammenarbeit mit der armenischen Nationalpartei vereinbaren. Sie wollen aus dem untergehenden Osmanischen Reich einen modernen Staat schaffen, in dem alle Gruppen des Vielvölkerstaats friedlich zusammen leben.

Der Roman beginnt mit der Übersiedlung nach Istanbul. Gabriel bekommt überraschend einen Brief seines älteren Bruders Avetis, der sein Leben komplett verändert. Avetis ist ein schwerkranker Mann und nicht mehr fähig, das Unternehmen zu leiten. Gabriel reist im Juli 1914 aus Paris ab, er nimmt Juliette, Stephan und Stephans Lehrer Awetisjan mit. Nach zwei Wochen kommen sie in Konstantinopel an, ohne Avetis noch einmal zu sehen, der inzwischen gestorben ist. Nachdem Gabriel mit Rechtsanwalt und Notaren alles klärt, fahren sie nach Beirut. Zu dieser Zeit beginnen die Kämpfe in Belgien, auf dem Balkan und in Galizien, der Weltkrieg ist da, eine Rückkehr nach Frankreich nicht mehr möglich. Die Familie mietet eine Villa in Beirut, dann fährt Gabriel aber, gezogen von der Sehnsucht, in die Villa der Familie nach Yoghonoluk. Im Dezember 1914 kommen sie dort an. Juliette sollte nach den Plänen Gabriels eigentlich mit dem Sohn in die Schweiz, weil sie aus dem neutralen Land weiter nach Frankreich könnten, aber beide folgen Gabriel. Das kleine armenische Dorf, Teil einer Gemeinschaft von fünf armenischen Dörfern wird ausführlich und liebevoll beschrieben. Wir lernen den Arzt Doktor Altuni, den Apotheker Grigor und den Priester Ter-Haigaseun kennen.

Doch das Verhängnis zieht herauf. Die osmanischen Behörden sammeln die Pässe aller Armenier ein, so dass sie auch innerhalb des Reiches nicht mehr reisen können. Gabriel Begradian wird, obwohl er Reserveoffizier ist und im Balkankrieg gekämpft hat, nicht zur Armee eingezogen, bereits eingezogene armenische Soldaten werden entwaffnet. In Zeitun im Süden der Türkei kommt es zu Massakern und Deportationen von Armeniern, eine kleine Gruppe Flüchtlinge trifft in Dorf ein. Gabriel sieht das Unheil kommen, legt genau Pläne der Vorräte an, zählt die Bewohner, Stephan zeichnet Landkarten der Dörfer und des nahen Berges Musa Dagh. Gabriel ruft die Einwohner aller Dörfer zu einer Vollversammlung zusammen. Er kündigt an, überall begänne die Verfolgung und Ermordung der Angehörigen der armenischen Minderheit. Rund 4000 Menschen beschließen, den Widerstand zu organisieren. Rund 500 wollen sich dagegen deportieren lassen, in der Hoffnung, so wären ihre Überlebenschancen größer.

Als die türkische Armee in die Dörfer einfällt, ist alles vorbereitet. Die Vorräte werden nachts auf den Berg geschafft, die Glocken der Kirche auf dem Friedhof begraben, und rund 5000 Menschen ziehen nachts auf den Musa Dagh.

Erst als die Deportationen beginnen, bemerkt die osmanische Armee, dass der größte Teil der Einwohner der armenischen Dörfer verschwunden ist. Es dauert einige Zeit, sie auf dem Musa Dagh zu entdecken. Der erste Angriff am 4. August 1914 wird offen und sorglos vorgetragen - die Armenier verfügen zur Überraschung der Soldaten über rund 500 Waffen und schlagen den Angriff blutig zurück. Da keine Fronteinheiten dort abgezogen werden können, werden zusammengewürfelte Einheiten rund um den Musa Dagh stationiert, die einen neuen Angriff unterstützt von einem Artilleriegeschütz starten. Gabriel hat militärische Stellungen anlegen lassen, die Verteidigung organisiert, Gruppen und Befehlshaber geschaffen. So gelingt es, auch den zweiten Angriff abzuwehren, wieder sind die türkischen Soldaten völlig überrascht. Sie sind es gewohnt, nur Zivilisten zu deportieren und umzubringen, da bereits seit 1895 die meisten Waffen bei Armeniern beschlagnahmt wurden. Auch der dritte Angriff wird abgewehrt, allerdings sterben dabei über hundert der Verteidiger.

Zwischen dem ersten und dem zweiten Angriff schleicht sich Gabriels Sohn Stephan nachts weg, zurück in die Villa, die den türkischen Truppen inzwischen als Hauptquartier dient. Er will dort die Bibel eines Flüchtlingsmädchens holen, das mit der Gruppe aus Zeitun gekommen ist. Er wird entdeckt, kann aber mit Hilfe des älteren Jungen Haik entkommen. Beide finden Geschmack daran, schleichen die nächste Nacht ins türkische Truppenlager - und erbeuten dort das Geschütz mit Munition, dass die Einheit seines Vaters dann auf den Berg zieht. Als beschlossen wird, Boten nach Aleppo und Alexandriette zu schicken, um Hilfe zu holen, wird Haik ausgewählt. Stephan wird eine Teilnahme verboten, er verlässt das Lager heimlich. Die Familie Begradian zerbricht - Stephan wird bei dem Kommandounternehmen entdeckt und von türkischen Soldaten zu Tode geprügelt. Gabriel entdeckt seine armenischen Wurzeln neu und wendet sich einer armenischen Frau zu. Juliette bleibt europäisch, findet Trost bei einem griechischen Freund, der mit auf den Berg gezogen ist, erkrankt dann aber schwer.

Zweimal wird der Roman durch dokumentarische Kapitel unterbrochen, "Zwischenspiel der Götter" genannt. Es geht um den deutschen Pastor Lepsius, der sich seit langem für die Armenier im Osmanischen Reich einsetzt und zu Beginn des Ersten Weltkrieges die deutsch-armenische Gesellschaft gründet. Gleich zu Anfang des Buches wird sein Besuch in Istanbul beschrieben. Er trifft die Spitzen der osmanischen Regierung, Enver und Talaat. Sie versichern, es seien keine neuen Massaker geplant, nur Umsiedlungen.

Das zweite "Zwischenspiel der Götter" findet Mitte August statt, als ein Großteil der armenischen Bevölkerung bereits deportiert oder tot ist. Lepsius wird im Auswärtigen Amt nur von untergeordneten Beamten empfangen, die ihm klar machen, dass Deutschland den Verbündeten nicht kritisieren wird. Auch in der Türkei hat er keinen Zugang zur Regierung mehr, trifft sich dagegen mit Vertretern islamischer Gruppen. Diese lehnen den Völkermord aufgrund ihres Glaubens ab und versprechen, Lebensmitteltransporte zu den Deportierten und auch zum Musa Dagh zu organisieren.

Auf dem Musa Dagh siegen die osmanischen Truppen zum ersten Mal: Ein kleines Kommando dringt nachts vor und treibt sämtliche Schafe und Ziegen weg. Als auf dem Berg der Hunger droht, zerbricht die Führung. Als der Hunger ausbricht, meutert eine Kampfgruppe, die ausschließlich aus Deserteuren besteht, nicht aus Dorfbewohnern. Sie erobert das Lager, zündet Altar und Vorratshäuser an, nimmt die Munition mit. Die nur noch etwas über 4000 Flüchtlinge ziehen sich daraufhin ans Meer zurück und erwarten den letzten türkischen Angriff.

Doch das Feuer, das den Flüchtlingen die letzte Hoffnung nimmt, bringt eine unerwartete Wende: Französische Kriegsschiffe bemerken das Feuer, nähern sich und nehmen die osmanischen Truppen unter Beschuss. Die Schiffe nehmen alle Überlebenden an Bord und retten sie nach Ägypten. Nur Gabriel Begradian bleibt auf seinem Berg zurück und stirbt im Gewehrfeuer der heranstürmenden Soldaten.

Historischer Hintergrund

Zum Zeitpunkt des Romans tobt der Erste Weltkrieg auch im Kaukasus, entlang der russisch-türkischen Grenze. Ein Drittel des armenischen Siedlungsgebietes ist russisch, zwei Drittel osmanisch. Im russischen-türkischen Konflikt im Kaukasus unterstützten viele Armenier in der Hoffnung auf Unabhängigkeit die russische Seite. Allerdings gibt es in der osmanischen Armee nur wenige Deserteure und Überläufer. Am 24. April 1915 werden alle armenische politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Führer, die sich in Konstantnapolis (Konstantinopel / Istanbul) aufhalten, verhaftet, verschleppt und später ermordet. Fast alle der rund zwei Millionen Armenier, die zu der Zeit im Osmanischen Reich lebten, wurden in den folgenden Monaten verhaftet, und zu großen Teilen auf Anordnungen des damaligen Innenministers, Talaat Pascha, auch ermordet oder starben auf Todesmärschen. Je nach Schätzung kamen etwa 600.000 bis 1.500.000 Armenier ums Leben. Das Osmanischen Reich wollte Armenien ohne Armenier haben, das wurde auch so benannt.

Der Schriftsteller Franz Werfel wurde 1890 in Prag geboren. Er war Sohn des Handschuhfabrikanten Rudolf Werfel. Die ersten Gedicht veröffentlichte er 1909, sie wurden sehr begeistert aufgenommen. Er hat viele Werke (Romane, Novellen, Dramen, Lyrik) geschrieben. Seine erste Auszeichnungen bekam er 1925: den Grillparzer-Preis. 1927 bekam der den Schiller-Preis, den tschechoslowakischen Staatspreis. Schließlich wurde im 1937 das Österreichische Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft 1. Klasse verliehen. 1929 heiratete Franz Werfel Alma Mahler. Ab 1943 sich verschlimmerte sich seine Angina Pectoris, er hatte zwei Herzfälle. Am 26 August 1945 starb Franz Werfel an einem Herzschlag.

Franz Werfel schrieb am 24. März 1933 aus Italien an seine in Prag lebenden Eltern über die Arbeit an seinem Roman Die 40 Tage des Musa Dagh. Die Idee zum "Musa Dagh" war 1929 während einer Reise Werfels nach Damaskus entstanden, wo er das Elend armenischer Flüchtlingskinder erlebte. Der Roman erschien Ende 1933 in Wien und wurde knapp zwei Monate später in Deutschland von den Nazis verboten. Seit 1945 darf das Buch wieder erscheinen. Mittlerweile wurde das Werk in 15 Sprachen übersetzt.

Jedes Jahr an einem Sonntag Mitte September, an dem die Belagerten von Musa Dagh durch Franzosen gerettet wurden, feiern die Nachkommen der Überlebenden im gleichnamigen Dorf den Tag ihrer Befreiung. Dabei gedenken sie auch Franz Werfels, des jüdischen Dichters aus Österreich.

Der Roman ist mit 1000 Seiten sehr dick, und er fängt sehr langsam an. Die Familiengeschichte, die Beschreibung der Dörfer und der handelnden Personen füllen das erste Drittel des Buches. Doch dann nimmt der Roman ungemein an Spannung zu - bis zum glücklichen und tragischen Ende.

Sona Shirvanyan/Reinhard Pohl

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Roman. Erstmals erschienen Wien 1933. Fischer-Taschenbuch, 15. Auflage 2005, 990 Seiten, 14,90 Euro.

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