(Gegenwind 200, Mai 2005)

Interview mit Merdiye Erman

"Ich habe vier Monate vor meinen 18. Geburtstag einen Brief bekommen, dass ich am Geburtstag abgeschoben werde"

Merdiye Erman

Gegenwind:

Wie war dein 18. Geburtstag?

Merdiye:

Das war nicht so toll. Ich hatte Angst, dass jemand kommt und mich holt. Ich hatte eine Duldung, auch lange schon. Unser Asylverfahren wurde abgelehnt, weil sie uns nicht geglaubt haben. Sie haben gesagt, ihr könnt wieder zurück in die Türkei. Es wäre da wieder besser geworden, es gibt angeblich keine politischen Gründe mehr, um hier zu bleiben. Die Duldung haben wir bekommen, weil mein Vater sehr krank ist und eine Therapie macht. Ich habe vier Monate vor meinen 18. Geburtstag einen Brief bekommen, dass ich am Geburtstag abgeschoben werde. Ich hatte mich vorher nicht richtig damit beschäftigt. Für mich war das ein Schock.

Gegenwind:

Erinnerst du dich an das Leben in der Türkei?

Merdiye:

Eigentlich schon, aber ich möchte mir nicht mehr vorstellen, wie es da ist. Die ganzen Erinnerungen kommen wieder hoch, wenn solch ein Brief kommt. Es war einfach zu schrecklich. Ich war neun Jahre alt, als wie aus unserem Dorf flohen. Es wurde von der Armee überfallen und niedergebrannt. Wir flohen erst nach Istanbul, dort konnten wir auch nicht bleiben, und dann nach Deutschland.

Gegenwind:

Wie groß ist eure Familie?

Merdiye:

Wir sind sieben Geschwister. Ich bin die Älteste, die Jüngste wird in ein paar Tagen vier Jahre alt.

Gegenwind:

Was hast du unternommen, als du den Brief bekommen hast?

Merdiye:

Ich habe zuerst gar nichts gemacht. Ich habe dann angefangen, meinen Freundinnen in der Schule davon zu erzählen. Die haben das auch zuerst nicht geglaubt. Sie haben das gelesen, und dann haben sie mir gesagt, dass wir was machen müssen. Sie haben dann angefangen, Unterschriften zu sammeln, und dann haben sich auch Lehrer daran beteiligt. Sie haben bei der Zeitung angerufen, beim Fernsehen. Es gab dann Artikel in den Zeitungen in Segeberg, die zu den Kieler Nachrichten gehören, und in Norderstedt, die Zeitung gehört zum Hamburger Abendblatt. Und dann kam zufällig der Innenminister in unseren Ort, aus einem ganz anderen Grund, da haben wir eine kleine Demonstration organisiert. Ich konnte ihm einen Brief mit Unterschriften persönlich übergeben. Herr Buss hat eine Viertelstunde mit mir und den anderen aus meiner Klasse gesprochen. Hinterher hat er mir noch einen Brief geschrieben, das war im September oder Oktober vom vorigen Jahr und geschrieben, dass es auch bald eine Härtefallregelung gibt.

Gegenwind:

Wie hast du von der Härtefallkommission erfahren?

Merdiye:

Die ersten Informationen und die Fragen für einen Antrag habe ich vom Gegenwind bekommen. Ich habe dann die Fragen beantwortet, seit wann ich hier bin, was ich mache, welchen Beruf ich lernen will und warum für mich ein Leben in der Türkei nicht möglich ist. Ich weiß nicht, warum die Ausländerbehörde glaubt, dass ich als Mädchen dort ohne meine Eltern, ganz alleine leben kann. Das habe ich alles meinem Rechtsanwalt geschickt.

Gegenwind:

Die Härtefallregelung galt ja im Herbst noch nicht, erst seit dem 1. Januar 2005. Wie war die Wartezeit bis dahin?

Merdiye:

Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass jemand kommt und mich mitnimmt. Ich konnte nicht einschlafen, meinen Eltern ging es genauso. Die konnten sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Tochter alleine in der Türkei ist und sie nichts tun können.

Gegenwind:

Welche Funktion hast du denn in der Familie?

Merdiye:

Ich bin die älteste Tochter. Ich muss meiner Mutter bei der Hausarbeit helfen, ich muss auf die kleineren Geschwister aufpassen, und ich muss für meine Eltern alles dolmetschen, beim Arzt, bei den Behörden. Ich muss auch für viele andere Verwandte dolmetschen, meine Tante ist sehr krank, sie hat einen Tumor. Mein Vater ist auch sehr krank, psychisch, und ohne mich würde er alles nicht schaffen. Und dieses Dolmetschen mache ich, seit ich hier in Deutschland bin, seit acht Jahren. Es gibt inzwischen auch viele Sachen, die ich nicht mehr dolmetsche, sondern ich gehe alleine zu den Behörden, wenn meine Eltern irgend was brauchen.

Gegenwind:

Hattest du in der Wartezeit Kontakt mit der Ausländerbehörde? Haben die etwas gegen dich unternommen?

Merdiye:

Ich war öfter da und wollte mit ihnen reden. Aber sie haben sich geweigert, mit mir zu sprechen. Sie haben gesagt, dass sie nur mit unserem Anwalt reden wollen.

Gegenwind:

Hast du von anderen Abschiebungen gehört? Konntest du dir vorstellen, wie das ist?

Merdiye:

Ich habe von einigen gehört, die abgeschoben wurden, als sie 18 waren. Sie wurden an dem Tag abgeschoben, als sie Geburtstag hatten. Ich kann mir das nicht richtig vorstellen, das ist bestimmt schrecklich.

Gegenwind:

Hat die Härtefallkommission denn dann auf deinen Brief geantwortet?

Merdiye:

Ich habe erst die Fragen vom Gegenwind benutzt, dazu habe ich ungefähr acht Seiten handschriftlich geschrieben. Eine Freundin hat ein bisschen geguckt, damit ich keine Rechtschreibfehler mache. Der Rechtsanwalt fand das gut und hat es an das Innenministerium geschickt. Das war, glaube ich, im Dezember. Dann kam ganz schnell ein Brief vom Innenministerium. Die hatten noch mehr Fragen. Ich sollte schreiben, warum ich den Preis von unserer Schule bekommen habe. Das war, weil ich in der Schule sehr gut war. Sie wollten einen Beleg haben. Und sie wollten Kopien von meinen Zeugnissen haben. Und dann wollten sie noch wissen, was ich zur Zeit mache und was meine beruflichen Ziele sind. Ich will etwas mit Medizin machen, Krankenschwester oder Ärztin werden. Ich mache jetzt meinen Realabschluss und will dann Abitur machen. Meine Lehrerin sagt, dass ich das kann, und ich schaff das auch. Und ich habe schon ein Praktikum gemacht, vier Wochen im Krankenhaus in Borstel. Und die haben mir auch schon eine Stelle zugesagt. Ich mag gerne mit Menschen Kontakt haben, ich helfe gerne anderen. Das habe ich alles aufgeschrieben und an das Innenministerium geschickt, mit allen Kopien.

Gegenwind:

Wann kam die Antwort?

Merdiye:

Da habe ich noch mal lange gewartet. Und dann kam eine Antwort, das war am 16. Februar. Ich sah, dass der Brief von der Härtefallkommission kam, aber ich hatte Angst ihn aufzumachen. Aber dann habe ich ihn aufgemacht und erst mal den letzten Satz gelesen, weil da immer steht, warum der Brief kommt. Und da stand persönlich von Klaus Buss, mit Hand geschrieben, dass er sich noch an mich erinnern kann, und er freut sich sehr, dass er mir helfen konnte. Und dass ich hier bleiben kann. Ich habe nur geschrien vor Freude, und dann habe ich alle angerufen. Alle Freunde, meine Lehrerin, und alle haben sich gefreut. Mein Lehrer hat sogar geweint. Mein Vater hat gearbeitet, der hat es erst gar nicht geglaubt, dass der Innenminister selber schreibt. Er hat geglaubt, dass ich einen Witz machen will. Aber dann habe ich auch wieder an meine Familie gedacht. Der Brief war nur für mich, nur ich darf hier bleiben. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn meine Familie weggehen muss. Dann bin ich auch wieder alleine.

Gegenwind:

Was macht ihr denn, denn der Rest der Familie ausreisen muss? Bleibst du dann hier?

Merdiye:

Ich weiß es nicht. Ich möchte nicht alleine leben. Eigentlich ist mir egal, was mit mir passiert. Ich möchte nur mit meiner Familie zusammen bleiben.

Gegenwind:

Wie hat die Ausländerbehörde reagiert?

Merdiye:

Ich musste ja am 17. Februar meine Duldung verlängern. Ich war da, aber die sagten, sie haben die neuen Formulare für die Duldungen noch nicht da. Ich kann keine Verlängerung bekommen. Ich habe dann den Brief vom Innenminister gezeigt, und dann musste ich warten, und dann musste ich meine Größe und meine Augenfarbe sagen. Und zehn Minuten später haben sie mir meinen türkischen Pass zurück gegeben, den hatten sie mir vor ein paar Jahren weggenommen. Sie hatten solch einen Brief vom Innenminister noch nie gesehen. Und dann habe ich eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre bekommen, bis 2007. Und sie haben gesagt, man kann dann weiter verlängern. Jetzt soll ich zum Konsulat, um meinen türkischen Pass zu verlängern.

Gegenwind:

Wie geht es jetzt weiter?

Merdiye:

Ich muss mich jetzt um meine Eltern und Geschwister kümmern. Ich werde alles machen, damit sie auch hier bleiben.

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