(Gegenwind 199, April 2005)

Besuch ehemaliger ZwangsarbeiterInnen aus Polen in Schleswig-Holstein

"Fragt uns aus - wir sind die Letzten"

Eine Gruppe bündnisgrüner Landtagsabgeordneter aus Kiel besuchte 2004 Polen und begegnete dort ehemaligen ZwangsarbeiterInnen. Diese äußerten den Wunsch, ihre damaligen Einsatzorte in Kiel, Lübeck und im Raum Ostholstein noch einmal aufsuchen und mit deutschen ZeitzeugInnen sprechen zu können.

Mit Unterstützung der Berliner Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Versöhnung" und der Stiftung "Polnisch-Deutsche Aussöhnung" in Warschau sowie des schleswig-holsteinischen Landtagspräsidenten organisierten der Husumer Verein Jugend- und Sozialarbeit e.V. und das Bildungswerk anderes lernen e.V./Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein in Kiel ein umfangreiches Besuchsprogramm:

Acht ehemalige ZwangsarbeiterInnen und eine als Sechsjährige nach Deutschland Verschleppte konnten Ende Februar/Anfang März ihre ehemaligen Einsatzorte aufsuchen, mit deutschen ZeitzeugInnen sprechen, in der Ludwig-Erhard-Schule in Kiel und der Fachschule für Sozialpädagogik in Schleswig über ihr Schicksal berichten. Sie wurden von städtischen Repräsentantinnen ihrer früheren Einsatzorte empfangen (Kieler Stadtpräsident Arne Wulf; Lübecker Bürgermeister Bernd Saxe; Bliestorfer Bürgermeister Günter Nekel, sein Stellvertreter Heinrich Witten sowie Alt-Bürgermeister Karl-Heinz Hinz), konnten mit schleswig-holsteinischen Landtagsabgeordneten diskutieren, und wurden vom Landtagspräsidenten Heinz-Werner Arens offiziell empfangen. Sie konnten außerdem ein kulturelles Programm erleben sowie schließlich markante touristische Ziele in Schleswig-Holstein kennen lernen.

Irene Fröhlich, Ex-MdL, die den Anstoß zu dieser Besuchsreise gab und die Gäste privat in Husum empfing: "Ich fühle mich geehrt, dass die polnischen ehemaligen Zwangsarbeiter uns in Schleswig-Holstein besuchen. Sie werden hoffentlich gute Eindrücke von uns mit in ihr Heimatland zurücknehmen. Wir wollen gute und friedliche Nachbarschaft in dem einen europäischen Haus halten, daran können uns auch die neonationalistischen Töne, die im Augenblick so schrill erklingen, nicht irritieren."

Für die polnischen Gäste war die Reise nach über 60 Jahren die erste Rückkehr nach Deutschland - dem Land, das ihnen ganz oder zumindest teilweise die Kindheit und/oder Jugend genommen und ihr Leben mitgeprägt hat.

Jan Augustyniak

... musste auf dem Gut Bliestorf (Amt Berkenthin im Lauenburgischen) zwischen 1943 und 1945 schwere landwirtschaftliche Arbeiten verrichten - bei sehr schlechter Ernährung und ständigem Hunger. Auf dem Adelsgut herrschte ein Verwalter mit "harter" Hand, es gab körperliche Misshandlungen. An dem einzigen freien Tag "liehen" sich deutsche Gutsarbeiter die Zwangsverschleppten aus, um sie in ihren eigenen Hauswirtschaften auszubeuten.

Janina Miler und Jan Augustyniak in der Gemeinde BliestorfFoto: Die Gemeinde Bliestorf schenkt Janina Miler (Mitte) und Jan Augustyniak (2. von rechts) eine Luftaufnahme vom Gut Bliestorf.

Janina Miler

... kam als Zwölfjährige zusammen mit den Eltern und Geschwistern auf das Gut Bliestorf. Sie musste zwar nicht regelmäßig schuften, wurde aber durch Aufseher oder Verwalter gelegentlich zur Arbeit herangezogen (arbeitete sie nicht schnell oder gründlich genug, wurde auch sie verprügelt).

Für Herrn Augustyniak und Frau Miler waren es bewegende Momente, als der Bliestorfer Bürgermeister Günter Nekel im Beisein seines Stellvertreters Heinrich Witten sowie des Alt-Bürgermeisters Karl-Heinz Hinz nach einem gemeinsam Rundgang auf dem Gutshof und einem rasch improvisierten Essen ohne Wenn und Aber aussprach, was Offiziellen selten unverschnörkelt über die Lippen kommt: "Wir schämen uns für das, was Ihnen angetan wurde und möchten uns dafür entschuldigen."

Stanislaw Szmit

... hatte es dagegen vergleichsweise "gut": als 17-jähriger kam er bis zum Mai 1945 ins Hotel Hoyer mit kleiner Landwirtschaft in Schönberger Strand, wo er zunächst praktisch als Knecht arbeitete und nach Einberufung des "Arbeitgebers" zusätzlich im Hotel alle praktischen Arbeiten verrichtete. Das Verhältnis zwischen Herrn Szmit und der Hoteliersfamilie war offenbar so gut, dass ihm nach der Befreiung ein ordentliches, reguläres Arbeitsverhältnis angeboten wurde. Herr Szmit bekam ausreichend Verpflegung, war akzeptabel untergebracht und bekam ein regelmäßiges Entgelt von 40 Reichsmark/Monat. Stanislaw Szmit hatte 1943 versucht, sich der Verschleppung nach Deutschland durch Flucht zu entziehen. Wegen der Drohung, er oder seine Familie müsse mit Repressalien rechnen, stellte er sich dann doch den Deutschen. Hierbei wurde er so sehr (u.a.) auf den Kopf geschlagen, dass er seitdem auf einem Ohr kaum noch hören kann.

Stanislaw Szmit in Schönberger StrandFoto: Stanislaw Szmit war als Zwangsarbeiter in einem Hotel in Schönberger Strand beschäftigt.

Tochter, Enkelin und Schwiegersohn des (an den Kriegsfolgen verstorbenen) Hoteliers konnten ausfindig gemacht werden und empfingen in großer Herzlichkeit den um Fassung bemühten Stanislaw Szmit in ihren Privaträumen.

Barbara Dlugolecka

... wurde als Sechsjährige von ihrer Mutter an eine deutsche Familie abgegeben, wo sie zur Hausarbeit herangezogen wurde. Nachdem die Deutschen wegzogen, war sie vollkommen auf sich allein gestellt - die eigene Mutter wollte sie nicht zurückhaben oder konnte sie nicht zurücknehmen (dies erinnert Frau Dlugolecka nicht mehr). Kurz darauf wurde sie bei einer Razzia durch Deutsche aufgegriffen, die sie dann zu einer Odyssee durch verschiedene norddeutsche Kinderheime schickten (u.a. Hamburg und Flensburg). Als 12-jährige kam sie zurück in ihr Heimatland, ohne jemals wieder etwas von der Mutter oder ihren Geschwistern gehört zu haben, geschweige denn, mit ihnen in persönlichen Kontakt gekommen zu sein. Die deutsche Sprache hat Frau Dlugolecka gründlich verdrängt, ist aber sofort wieder präsent, wenn ein Liedanfang vorgegeben oder (z.B.) eine Redewendung angefangen wird - beinahe akzentfrei vorgetragen wird dann, was vor über 60 Jahren gelernt wurde (werden musste).

Stanislaw Duszka

... kam als 14-jähriger mit Eltern und Bruder, die bei der Lübecker Maschinenbau-Gesellschaft arbeiten mussten, zur Bäckerei Hans Willendorf (Schwartauer Allee; heute befindet sich dort ein Pizza-Lokal). Nachdem das Gelände des Gemeinschaftslagers in der Einsiedelstraße im Stadtteil St.-Lorenz-Nord zusammen mit Herrn Duszka aufgesucht wurde, hatte er den großen Wunsch, die ehemalige Bäckerei wiederzusehen. Recherchen hatten nichts ergeben, so dass von einer mühseligen Suche ausgegangen werden musste. Lübecks Bürgermeister Saxe konnte auf dem Empfang im Audienzsaal des Rathauses aber konkret weiterhelfen: "Bis vor fünf Jahren habe ich da jeden Morgen meine Brötchen geholt."

Die anschließende Suche nach dem Gebäude der Bäckerei (Schwartauer Allee 73) war dann auch geradezu ein "Kinderspiel": Noch aus dem Fahrzeug heraus erkannte Herr Duszka nach über 60 Jahren sofort das Gebäude und der zufällig dazugekommene jetzige Inhaber der ehemaligen Bäckereiräumlichkeiten (Star Pizza) öffnete bereitwillig den früheren Back- und Verkaufsraum, in dem sich auch noch eine alte Brotmischmaschine befand. Der pakistanische Besitzer/Pächter war trotz eigener Zeitknappheit bemüht, allen Wünschen des Herrn Duszka gerecht zu werden - und hörte bei dieser Gelegenheit vermutlich zum ersten Mal etwas über Zwangsarbeit/er.

Stanislaw Pusz

... 1924 geboren, kam im April 1942 im Viehwaggon in Kiel an und wurde beim Bau des Kilian-Bunkers eingesetzt. Schwere Betonarbeiten mussten er und andere Zwangsverschleppte leisten. Untergebracht war Herr Pusz zunächst in einem Wellingdorfer Lager (Wehdenweg), das aus 35 Baracken für ca. 900 bis 1400 Zwangsarbeiter unterschiedlicher Nationen bestand. Später wurde er in das Lager Hassee verlegt und zu Aufräumarbeiten herangezogen. Ende 1944 wurde Herr Pusz nach einem unerlaubten "Ausflug" zu einem Bauern von der Gestapo aufgegriffen und schwer misshandelt. Bis April 1945 befand er sich unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne ärztliche Betreuung in einem Krankenhaus. Danach gelang es ihm, "auf eigene Faust" in sein Heimatland zurückzukehren.

Anna Duda

... kam mit knapp 11 Jahren zusammen mit ihren Eltern nach Lübeck. Ihr zwölfjähriger Bruder musste zusammen mit den Eltern in einer Munitionsfabrik in Lübeck-Schlutup arbeiten. Frau Duda blieb währenddessen im Eichholzlager, um sich dort um den Haushalt, vor allem aber um den drei Jahre alten Bruder zu kümmern.

Aleksandra Piotrowska

... kam als 14-jährige im November 1941 ohne Eltern und Geschwister zu einer Lübecker Munitionsfabrik (wahrscheinlich DWM). Nach sechs Monaten gelang ihr zusammen mit einer Freundin die Flucht per Bahn von Lübeck über Berlin nach Polen. Während Frau Piotrowska gerade die Toilette benutzte, führte die Gestapo (?) im Zug eine Routinekontrolle durch, bei der die Freundin sofort verhaftet wurde. Frau Piotrowska wurde in Polen bis zum Kriegsende bei einer Tante versteckt.

Krystyna Stefanska

... wurde mit 14 Jahren 1941 bei einer Razzia in Warschau festgenommen und nach Lübeck verschleppt, wo sie in einer Munitionsfabrik (FMF/DWM) in Schlutup insbesondere mit Granaten zu tun hatte. Nach einem Arbeitsunfall musste sie in der Kantine der Munitionsfabrik arbeiten. Ein Fluchtversuch scheiterte, weil sie denunziert wurde. Nach der Befreiung im Mai 1945 arbeitete sie noch mehrere Wochen als Tänzerin in Preetz (in einem englischen Casino?). Frau Stefanska kam jetzt in Begleitung ihres Enkelsohnes nach Lübeck, "damit er mit eigenen Augen sieht, dass alles, was ich erzähle, nicht Geschichten sind, sondern meine Geschichte ist".

Dieter Boßmann
Timo Hinterobermaier
Martin Kastranek

"Fragt uns aus - wir sind die Letzten" eine Aufforderung des polnischen Widerständlers und ehemaligem Zwangsarbeiters Arno Lustiger.


Im Gegenwind 199, April 2005 finden sich zwei weitere Beiträge zum Thema:

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