(Gegenwind 198, März 2005)

Die zweifache Flucht einer kurdischen Familie

"Ich bin heute fünf Jahre alt"

1995 floh die kurdische Familie mit sechs Kindern aus der Türkei. Der Grund war die Verfolgung und der Krieg. Aber es gab einen zweiten Krieg, einen Krieg in der Familie. Denn dort war es Tradition, Töchter bei der Geburt Verwandten zur Ehe mit deren Söhnen zu versprechen. Aysel brach mit dieser Tradition: Am 26. Mai 2000 floh sie mit ihren sechs Kindern zum zweiten Mal, diesmal aus Bad Segeberg vor ihrem Mann. Fünf Jahre später sprachen wir mit Mutter und zweien der Töchter über ihre Erfahrungen. Leyla ist die älteste Tochter, Dilek die drittälteste. Da die Familie noch immer bedroht wird, verzichten wir auf die Nennung des Nachnamens und des Wohnortes. Nur die Mutter wollte fotografiert werden.

Aysel, die Mutter der Familie

Gegenwind:

Kannst du erzählen, wie das Leben deiner Familie in Batman war?

Aysel:

Batman liegt mitten im Kriegsgebiet. Als wir in Batman wohnten, herrschte Krieg zwischen Türken und Kurden. Das war der Hauptgrund, weshalb wir 1995 geflohen sind. In Batman wohnte ich zusammen mit meinen Eltern und mit meinem Ex-Mann. Meine Eltern wohnten im Obergeschoss, wir unten im Haus. Wir hatten einen Garten und sahen und sprachen uns jeden Tag. Aber unser ganzen Leben wurde von den Problemen durch den Krieg bestimmt. Aber ich hatte noch ein großen zusätzliches Problem. Es gab nicht nur den Krieg draußen, sondern auch den zweiten Krieg zu Hause, den Krieg in der Familie. Aber in unserer Kultur kann eine Frau sich gegen ihren Mann kaum wehren, man erwartet, dass sie wartet und hört, wenn sie gerufen wird.

Gegenwind:

Konntest du selbst entscheiden, wen du heiratest?

Aysel:

Nein. Das konnte ich nicht entscheiden. Ich habe versucht, Selbstmord zu begehen, das hat nicht geklappt. Das war zwei Monate vor meiner Hochzeit. Aber die Familie hat die Hochzeit weiter vorbereitet, und zwei Monate später gab es eine große Hochzeit. Sie haben nicht einmal gefragt, warum ich als Mädchen versucht habe, Selbstmord zu begehen. Und dann habe ich bis 1995 fünf Kinder bekommen. Als wir nach Deutschland kamen und meine Eltern nicht mehr bei uns lebten, wurde mein Ex-Mann noch schlimmer. Wir durften nicht nach draußen gehen. Wenn meine Kinder zur Schule gingen, mussten sie sofort danach nach Hause kommen. Wer zehn Minuten zu spät kam, wurde geschlagen. Und immer Beschimpfungen, schlimme Worte.

Gegenwind:

Wie alt waren die Kinder, als ihr nach Deutschland kamt?

Aysel:

Meine Älteste war sechzehn, die mittlere Tochter dreizehn, die dritte neun, die drei Jungs noch kleiner. Ich habe sechs Kinder. Der Vater ist mit den drei Töchtern acht Monate früher nach Deutschland gekommen, solch eine Flucht ist ja nicht leicht zu organisieren. Ich bin mit den beiden kleinen Jungs dann acht Monate später hinterher gekommen. In der Türkei hatte ich acht Monate lang Angst. Der Vater war mit den Töchtern alleine, ich wusste nicht, ob ihnen was passiert. Das waren acht Monate in der Hölle. Als ich nach Deutschland kam, merkte ich dann, es ist schlimmer geworden. Die Kinder durften nicht mehr nach draußen, als Töchter. Sie wurden von meinem Ex-Mann beschimpft und geschlagen. Für mich war es dann auch so. Ich durfte zum Arzt und zum Einkaufen, aber ich durfte kein Deutsch lernen. Ich konnte überhaupt kein Deutsch. Ich habe immer ein Kind mitgenommen. Mein Mann hat mich auch immer beschimpft und geschlagen. "Was willst du, was machst du, was machen die Mädchen draußen...".

Gegenwind:

Wie habt ihr in dieser Zeit gelebt?

Aysel:

Wir waren von 1995 bis 2000 zusammen, erst im Flüchtlingsheim, dann hatten wir eine Wohnung in Bad Segeberg. Ich war die ganze Zeit krank. Meine älteste Tochter Leyla hat mir oft gesagt: "Mama, wir müssen etwas machen. Ich habe Angst vor ihm." Ich war zwischendurch fünf Monate im Krankenhaus. Es war immer meine älteste Tochter, die gesagt hat: "Mama, pass auf dich auf. Es geht nicht so weiter. Wenn du weiterleben willst, musst du selbst über dein Leben entscheiden." Sie sagte, hier in Deutschland gibt es viele Wege. Aber mein Mann war gleichzeitig mein Cousin. Hier lebte mein Bruder, meine Oma, viele... Wie kann ich meine ganze Familie verlassen? Ich hatte große Angst.

Und dann, 2000, in dieser Woche - wir haben zu Hause einen großen Streit gehabt. Das war der letzte Streit, ich habe entschieden: Ich gehe. Ob ich sterbe oder lebe, ich gehe. Mein Ex-Mann hat immer gesagt: Hau ab, geh weg - aber die Kinder bleiben hier. Kann eine Mutter ihre Kinder zurücklassen? Nein. Wir hatten großen Streit, er hat mich verprügelt, meine große Tochter auch geschlagen, alle gehauen. Egal, wer kommt, alle wurden verprügelt. Meine Nachbarin, eine Deutsche türkischer Herkunft, half mir. Ich habe ihr gesagt, ich habe Angst, ich hatte auch Angst, ihr was zu erzählen. Aber ich konnte so nicht weiter leben. Die Nachbarin sagte, ich habe das schon lange gesehen, aber du erzählst ja nicht. Es gibt in Deutschland viele Wege, Frauen zu helfen. Es gibt das Frauenhaus hier, da geht es dir besser. Sie hat auch die Polizei angerufen und rief dann in Neumünster im Frauenhaus an. Ich hatte Angst, in Bad Segeberg im Frauenhaus zu wohnen. In Neumünster sagten sie, sie haben keinen Platz. Aber sie hat dann mit einem anderen Frauenhaus gesprochen, und die sagten, wir können kommen. Die Polizei ist gekommen, und wir sind dann mit dem Zug nach Heide gefahren. Das war 2000, am 26. Mai. Und dann haben wir vier Jahre lang, bis 2004, im Frauenhaus gelebt.

Gegenwind:

Wie seid ihr im Frauenhaus aufgenommen worden?

Aysel:

Der Anfang war ganz schwer. Wir kamen an einem Freitag an. Bis Montag haben wir nicht geschlafen. Wir hatten Angst vor dem neuen Leben. Wie ein Fisch, der sich fragt, wie kann ich jetzt ohne Wasser leben. Am Montag haben die Frauen vom Frauenhaus mit uns gesprochen. Das war auch schwierig, ich konnte keine zwei Wörter Deutsch sprechen. Meine drei Töchter haben geholfen. Aber wenn du heute fragst: "Wie alt bist du, Aysel", dann sage ich: "Ich bin fünf Jahre alt." Mein zweites Leben hat im Frauenhaus angefangen. Ich bin heute fünf Jahre alt. Die Frauen dort haben uns viel geholfen. In meinem ganzen Leben werde ich das nicht mehr vergessen.

Gegenwind:

Wie viel Platz hattet ihr zum Leben?

Aysel:

Wir hatten drei Zimmer für uns sieben Personen. Das ging, jeder hatte ein eigenes Bett. Die Küche haben wir mit anderen Leuten geteilt. Es war gut. Für die Kinder war es am Anfang schwer. Aber sie haben schnell gemerkt, es war für uns alle besser als vorher. Wir haben dann auch einen neuen Asylantrag in Lübeck gestellt. Die Betreuerinnen haben mit meiner großen Tochter gesprochen, mit Leyla, sie haben ihr gesagt, bring deine Mutter zum Deutsch-Sprachkurs. Sie muss etwas machen. Ich hatte bis dahin nicht gelebt. Und dann war ich beim Sprachkurs, und dann in Rendsburg bei "Mok wat", und jetzt gehe ich manchmal zum Frauenhaus als Dolmetscherin. Ich gehe jetzt allein zum Arzt, ich kann alleine einkaufen, ich kann auch in eine andere Stadt fahren. Jetzt reichen meine Kenntnisse, aber ich versuche, besser zu werden.

Gegenwind:

Wie haben die Behörden darauf reagiert, dass du von Bad Segeberg ohne Erlaubnis nach Heide umgezogen bist?

Aysel:

Das war für uns schwer. Es gab Behörden in Bad Segeberg, in Heide, in Kiel und in Lübeck, alle hatten Kontakt wegen unserer Papiere. Es dauerte lange, bis unsere Papiere von Bad Segeberg nach Heide kamen. Und es dauerte vier Jahre, bis wir die Erlaubnis bekamen, hier zu wohnen.

Gegenwind:

Weißt du, warum es so lange gedauert hat?

Aysel:

Ich habe keine Ahnung. Deutsche und Papiere - das dauert immer lange. Vier Jahre lang. Ich wollte gerne arbeiten, das ging nicht wegen der Papiere. Aber ich habe jetzt Altenpflegerin gelernt, ich warte auf einen Platz, um in einem Altersheim zu arbeiten. Jetzt haben wir gerade unsere Pässe bekommen.

Gegenwind:

Wie hast du den Platz für die Ausbildung bekommen?

Aysel:

Das hat mein Anwalt organisiert. Der hat mir gesagt, es gibt eine Chance für dich. Ich konnte die Ausbildung machen und die Sprache verbessern. Ich bin dann fünf Monate lang jeden Tag nach Rendsburg gefahren. In der Türkei war ich Schneiderin, und in Rendsburg habe ich dann drei Monate Praktikum als Schneiderin gemacht, um die Verhältnisse in Deutschland kennen zu lernen. Mein Lehrer in Rendsburg hat mir dann den Kurs als Pflegerin angeboten. Und ich konnte wegen der Papiere nicht arbeiten, deshalb habe ich dann den Kurs gemacht. Und gleichzeitig bin ich abends zum Sprachkurs gegangen. Und jetzt bin ich Altenpflegerin. Ich habe auch einen Monat im Altersheim gearbeitet, die Leute wollten mich gerne haben, aber ich hatte noch Probleme mit meinen Papieren. Mit einer Duldung kann man nicht arbeiten. Aber jetzt habe ich den Pass, jetzt kann ich weiter machen.

Gegenwind:

Wie hast du es geschafft, von der Duldung zu einem Aufenthaltstitel zu kommen?

Aysel:

Sie haben unsere Gründe anerkannt, dass wir wegen der Familie nicht zurück können.

Gegenwind:

Wie hast du den Anwalt kennen gelernt?

Aysel:

Das Frauenhaus hatte den Kontakt, die haben mir einen Anwalt für die Scheidung vermittelt und diesen Anwalt für das Asylverfahren. Ich habe zwei Anwälte. Die Scheidung hat drei Jahre gedauert. Mein Mann musste 2002 in die Türkei zurück, weil sein Asylantrag abgelehnt worden war. Er wollte die Scheidung nicht, aber in Deutschland gibt es ein Gesetz, wenn man ein Jahr getrennt lebt, kann man sich scheiden lassen. Aber mein Mann hat nicht geantwortet, er hat sich auch ein Jahr lang in Deutschland versteckt, weil er nicht abgeschoben werden wollte, dann hatten wir seine Adresse in der Türkei nicht - deshalb hat es drei Jahre gedauert. Seit einem Jahr bin ich geschieden, seit einem Jahr bin ich frei.

Gegenwind:

Gab es im Frauenhaus noch andere ausländische Frauen und Kinder?

Aysel:

Ja, viele. Viele verschiedene Länder.

Dilek:

Das hat immer gewechselt. Es waren auch Deutsche da. Wir waren die älteste Familie da, die anderen haben immer gewechselt, nur wir waren immer da.

Aysel:

Es waren viele Menschen, es waren viele Sprachen, aber wir haben uns immer vertragen. Es war schön. Ich habe ein paar Worte Arabisch gelernt, ein paar Worte Russisch, ein paar Worte Polnisch. Jede Sprache ist schön.

Gegenwind:

Haben die anderen auch Kurdisch gelernt?

Aysel:

Ja, natürlich. Und eine Mitarbeiterin hat Türkisch gelernt, jetzt kann sie etwas. Sie hat sich immer mit meinen Kindern beschäftigt, hat ihnen viel von Deutschland erklärt. Ich bin ihr sehr dankbar.

Gegenwind:

Dilek, kannt du erzählen, wie es für dich war?

Dilek:

Das war ganz schwer, wegen meiner Freunde. Ich musste die ja verlassen.

Gegenwind:

Wie war es in Segeberg?

Dilek:

Ich bin zur Schule gegangen, die Wohnung war auch groß. Und die Umgebung war schön, die Freunde, die ich hatte. Aber mit meinem Vater war es schlimm. Der hat mich und uns oft geschlagen. Er hat nie zugehört. Er hat nie mit uns geredet, nur mit den Fäusten. Ich bin glücklich, dass wir weg von ihm sind.

Gegenwind:

Wie war denn der Tag für dich, als Ihr weggefahren seid?

Dilek:

Meine Mutter hat uns nichts erzählt. Wir sind weggefahren, und ich dachte, wir machen Urlaub oder besuchen jemanden. Ich habe geglaubt, das ist eine Jugendherberge, die Etagenbetten und die große Küche. Ich habe erst nach einer Woche erfahren, dass wir umgezogen sind. Und als meine Mutter sagte, dass wir vor unserem Vater geflüchtet sind, da wollte ich auch nicht zurück.

Gegenwind:

Hast du Freunde aus Bad Segeberg wieder getroffen?

Dilek:

Ja. Die haben immer gefragt, was los ist. Aber die wissen ja alles, die kennen ja meinen Vater auch. Sie waren auch bei mir zu Hause und haben das miterlebt. Die sind auch froh, jetzt können sie mich besuchen, ganz in Ruhe. Das ist schöner.

Gegenwind:

Und wie war es mit der neuen Schule und neuen Bekannten?

Dilek:

Das war zuerst schlimm, weil ich ja niemanden kannte. Aber mit der Zeit ging das eigentlich. Nach einiger Zeit ging es. Es ging eigentlich schnell.

Gegenwind:

Was waren deine Aufgaben in der Familie, als deine Mutter noch kein Deutsch konnte?

Dilek:

Ich musste natürlich immer dolmetschen. Sie konnte ja überhaupt kein Deutsch. In Bad Segeberg hat mein Bruder ihr ein bisschen Deutsch beigebracht.

Gegenwind:

War es dir peinlich, dass deine Mutter kein Deutsch konnte? Oder haben andere es ihr vorgeworfen?

Dilek:

Mir war das nie peinlich. Es gab immer welche, die redeten, auch manche Deutsche im Frauenhaus. Das hat mich nie interessiert, das war mir persönlich sehr egal. Aber meiner Mutter nicht. Sie wollte Deutsch lernen, und sie hat auch viel gemacht. Und jetzt kann sie Deutsch.

Gegenwind:

War das Dolmetschen anstrengend oder hat es sich auf drei Schwestern verteilt?

Dilek:

Das meiste hat Leyla gemacht, alles mit den Ämtern, und Einkaufen und zum Arzt haben wir uns geteilt.

Gegenwind:

Und jetzt ist es besser, weil deine Mutter Deutsch kann.

Dilek:

Ja, nur in einigen Sachen. Wenn wir etwas geheim halten wollen, geht es nicht mehr. Dann müssen wir Englisch sprechen. Aber sonst schon. Jetzt kann sie alleine zum Elternabend, jetzt kann sie sich selbst äußern. Früher mussten wir mit zu Elternabend, obwohl der nicht für Kinder gedacht war. Die Lehrer konnten nicht so gut über uns reden, wir mussten das ja selbst übersetzen.

Gegenwind:

Habt ihr alles übersetzt, oder auch was ausgelassen?

Dilek:

(lacht) Es ging. Manchmal mussten wir was auslassen, aber jetzt macht sie ja alles selbst.

Gegenwind:

Und Kinder denken dann immer, die Mutter kriegt das nicht mit.

Aysel:

Ich kriege alles mit. Sie hat auch heimlich geraucht und dachte, ich merke das nicht.

Dilek:

Und ich dachte, sie bringt mich um, wenn sie das weiß. Aber sie hat nur gesagt, dass das für meine Gesundheit schlecht ist.

Gegenwind:

Was bringt die Trennung von deinem Vater jetzt für dich?

Dilek:

Erst mal ist es traurig zu merken, wie viel die kleinen Geschwister mitgekriegt und gespeichert haben. Aber für mich bedeutet das jetzt Ruhe und Freiheit. Wir können machen, was wir wollen, oder fast. Meine Mutter ist ja auch noch da. Aber sie sagt uns, welche Wege es gibt und was richtig und falsch ist, er hat uns nur das Falsche gezeigt. Im Endeffekt ist das jetzt die Freiheit.

Gegenwind:

Hat dein Vater den drei Töchtern gesagt, dass sie später einen Verwandten heiraten sollen?

Dilek:

Ja. Es gibt in der Familie viele Cousins, ganz viele Jungs. Und wir sind drei Schwestern. Und die fragen uns ja nicht, was wir wollen. Und das ist schon abgemacht worden, als wir klein waren. Ich glaube, ich war seit meiner Geburt verplant.

Aysel:

Ja, seit der Geburt.

Dilek:

Aber ich würde das niemals machen. Wenn mein Vater noch hier wäre, wäre ich bestimmt schon lange verheiratet.

Gegenwind:

Wärst du auch alleine abgehauen?

Dilek:

Ja, ich wäre abgehauen.

Aysel:

Aber so ist es besser. Jetzt sind wir alle zusammen, das ist besser als alleine.

Dilek:

Ja, das ist besser. Wir können hier zur Schule gehen und selber entscheiden, was wir später werden wollen. Er hat uns immer gesagt, Ihr müsst das machen und Ihr müsst das werden. Jetzt können wir selber entscheiden. Wenn ich etwas studieren will, meine Mutter lässt mich.

Aysel:

Ich will, dass sie zur Schule geht, einen guten Beruf lernt, aber jede soll ihr Leben leben.

Dilek:

Wir sind auch in der Schule besser. In Bad Segeberg konnten wir uns oft nicht konzentrieren. Immer wenn er meine Mutter geschlagen hat, nachts, konnten wir nicht schlafen.

Aysel:

Er ist nicht zur Schule gegangen. Er kennt es nicht anders, er weiß nichts. Er ist so aufgewachsen und hat so gelebt.

Gegenwind:

Gibt es Familienmitglieder, die die Trennung gerne rückgängig machen wollen?

Dilek:

Ja, alle. Oder viele. Die wollen, die planen die ganze Zeit, aber sie haben auch Angst. Ich glaube, hier in Deutschland können sie nichts machen. Sie wissen, dass wir im Frauenhaus waren und dass wir hier Schutz haben. Aber sie haben uns oft terrorisiert, übers Telefon. Aber wir haben sie auch oft angezeigt.

Gegenwind:

Ist denn schon was passiert?

Aysel:

Nein, aber sie haben es versucht. Mein Ex war mit seinem Bruder hier in Heide, er hat uns gesucht. Er wollte die Jüngsten mitnehmen in die Türkei. Deswegen habe ich ihn angezeigt.

Dilek:

Nicht die Mädchen, nur die Jungs. Weil wir schon dreckig sind, das ist ja eine Schande, wenn die Frauen flüchten. Er wollte nur die Jungs entführen und uns Mädchen hier lassen. Oder uns umbringen, hat er gesagt. Aber im Endeffekt haben wir das gut überstanden. Seine Brüder sind aber noch hier. Es ist eine große Familie.

Aysel:

Es gibt noch Angst. Aber es gibt in Deutschland auch Gesetze. Und wir sind gesund und leben weiter. Ich freue mich, dass ich ins Frauenhaus gegangen bin. Früher hatte ich keine Ahnung, dass es so was gibt. Bei uns gibt es so etwas nicht.

Gegenwind:

Dilek, wusstest du Bescheid? Hast du in Bad Segeberg mal Hilfe gesucht?

Dilek:

Nein. Wir waren ja auch oft im Krankenhaus, wenn er uns geschlagen hat. Aber wir durften ja nichts erzählen. Wir haben gesagt, dass wir vom Baum gefallen sind oder gegen einen Schrank gelaufen.

Gegenwind:

Haben die im Krankenhaus was gemerkt?

Dilek:

Ja, natürlich, die wussten das. Aber wir haben immer gesagt, nein, das stimmt nicht. Die haben uns immer gezeigt, dass das nicht sein kann. Wenn ich eine Platzwunde am Kopf hatte, oder ein blaues Auge, haben die gesagt, es kann nicht sein, dass ich gegen einen Schrank gelaufen bin. Aber wir durften ja nichts sagen.

Gegenwind:

Was willst du mal werden?

Dilek:

Polizistin.

Gegenwind:

Und wenn du als Polizistin mit einem Mädchen zu tun hast, das gegen einen Schrank gelaufen ist? Lässt du das durchgehen?

Dilek:

Nein, ganz bestimmt nicht.

Gegenwind:

Wie lange dauert es, Polizistin zu werden?

Dilek:

Ich mache jetzt den Realschulabschluss, und dann will ich Abitur machen. Und dann brauche ich ja auch einen deutschen Pass. Ich habe jetzt gerade den türkischen Pass und den Aufenthalt bekommen.

Gegenwind:

Leyla, was machst du gerade?

Leyla:

Ich arbeite bei unserem Rechtsanwalt, Arno Köppen. Ich werde Rechtsanwalts- und Notars-Fachangestellte.

Gegenwind:

Woran erinnerst du dich aus Batman?

Leyla:

Ich habe dort die Grundschule und Realschule gemacht. Ich erinnere mich an die Schule und an das strenge Familienleben. Das war sehr streng bei uns. Nach der Schule musste ich immer sofort nach Hause. Einmal habe ich mich zehn Minuten verspätet. Die ganze Familie war schon auf der Straße. Ich habe Ärger bekommen, aber heftig. Ich war zwölf oder dreizehn. Es war ein strenges Leben, ich hatte keine Freiheit. Mich mit Freunden zu treffen, kannte ich nicht, das war tabu für mich. Mein Vater hat mich immer bedroht. Wenn ich sitzenbleibe, sollte ich nie mehr zur Schule gehen. Ich hatte immer gute Zeugnisse, aber er hat mich nie gelobt. Er hat mich nur angespuckt. Ich bin jetzt 24 Jahre alt, aber mein Vater hat mir noch nie gesagt, dass er stolz auf mich ist oder ich etwas gut gemacht habe. Nie! Ich bin jetzt seit zehn Jahren in Deutschland, und seit neun Jahren habe ich mit meinem Vater nicht gesprochen. Und seit fünf Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen, und das ist auch gut so. Wir haben unsere Ruhe.

Gegenwind:

Wie war das Zusammenleben in Bad Segeberg?

Leyla:

Mit ihm? Das war sehr streng. Sehr streng. Ich durfte keine Freundin haben, ich durfte nicht zu unserer Nachbarin. Am Anfang durfte ich auch nicht zur Schule. Mein Onkel kam zu Besuch, der sagte mir: "Du darfst hier nicht zur Schule." Ich war sehr traurig, aber ich bin mit meinen paar deutschen Wörtern zum Bürgermeister gegangen und habe ihm gesagt, mein Vater lässt mich nicht zur Schule, aber ich möchte zur Schule. Ich war vierzehn. Er hat mich nicht verstanden. Er hat Schule verstanden und dass ich möchte. Er hat dann einen Dolmetscher geholt, und ich habe das dann erklärt, dass ich als Hausmädchen zu Hause bleiben und putzen und kochen soll. Der Bürgermeister hat dann meinen Vater gerufen, und er hat gesagt, wenn Sie Ihre Tochter nicht zur Schule schicken, bekommen Sie kein Geld. Und dann durfte ich zur Schule.

Aber es war extrem, fünf Jahre lang. Ich sollte meinen Cousin heiraten, der wohnt in Kiel. Drei Jahre lang hat der Vater mir Stress gemacht. Er hat immer versucht, mich zu schlagen. Meine Mutter ist immer dazwischen gegangen, dann hat sie die Schläge bekommen. Dann war sie krank, im Krankenhaus, und das Problem ist größer geworden. Ich habe meiner Mutter gesagt, ich will weg, ich will abhauen. Aber ich kann das nicht, weil meine Mutter dann noch zu Hause ist. Ich wollte sie nicht im Stich lassen. Meine anderen Geschwister waren zu jung. Sie hatte ihre Kraft, weil sie mich und meine Schwester schützen wollte, ich hatte Angst, dass sie sich umbringt, wenn wir weg sind. Ich habe immer gesagt, Mama, ich möchte nicht heiraten, ich werde dann auch krank wie du. Sie hat dann einen Monat überlegt, und durch eine Nachbarin sind wir dann hier nach Heide gekommen. Aber hier hatten wir auch noch ein Jahr lang Stress, durch die Familie, durch meinen Vater. Er ist illegal hier geblieben, hat uns am Telefon bedroht, er war hier in Heide.

Gegenwind:

Wusstest du auf dem Weg nach Heide, dass das die Trennung ist?

Leyla:

Ja, ich wusste das. Ich wusste, dass meine Mutter das für unsere Freiheit macht. Aber ich durfte es den anderen nicht sagen, ich bin still geblieben und habe zwei Stunden im Zug nur geheult. Die anderen haben gefragt, warum ich heule. Ich habe gewusst, dass das die Trennung ist - von der ganzen Familie, von allen Freunden, von allem was wir hatten. Alles wieder von vorne, das ist sehr schwer. Ich muss jetzt schon wieder heulen. Ich bin aber stolz auf meine Mutter, dass sie das für uns geschafft hat. Wir sind vielleicht nicht glücklich, aber wir haben unsere Freiheit.

Gegenwind:

Deine Mutter sagte, sie konnte damals keine zwei Wörter Deutsch.

Leyla:

Das stimmt. Sie konnte überhaupt kein Deutsch. Ich musste immer zum Arzt, zu den Behörden. Das habe ich auch immer gerne gemacht, das hat mich nie gestört. Hier im Frauenhaus habe ich dann gesagt: "Mama, das geht nicht." Und durch die Mitarbeiterinnen vom Frauenhaus ist sie zu einem Deutschkurs gekommen, zwei Jahre lang. Und heute bin ich stolz, dass meine Mutter als Dolmetscherin zum Frauenhaus geht. Sie übersetzt jetzt, und sie macht das sehr gut.

Gegenwind:

Du hast also die Familie vertreten?

Leyla:

Ich habe mich vier Jahre lang um unsere Papiere gekümmert. Ich bekomme aber immer noch SMS mit Drohungen. Letztes Wochenende habe ich wieder eine SMS bekommen, dass sie mich umbringen wollen. Ich kann das nicht beschreiben. Ich bin frei, aber ich bin nicht glücklich.

Gegenwind:

Wie war es denn am Anfang? Ihr hattet ja keine Erlaubnis, von Bad Segeberg nach Heide umzuziehen.

Leyla:

Ich habe mit Mitarbeiterinnen vom Frauenhaus gesprochen, die kannten die Probleme nicht. Aber ich habe mich mit der Ausländerbehörde in Bad Segeberg immer gut verstanden. Ich habe mich mit einem Mitarbeiter außerhalb der Behörde getroffen, weil ich Angst hatte, er hat mich unterstützt. Ich habe dann hier unseren Anwalt kennen gelernt, Arno Köppen, und die Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Aber es war viel Stress, die Unterlagen wurden hin- und hergeschickt. Es waren harte Zeiten, aber ich habe es geschafft.

Gegenwind:

Warum hat es denn vier Jahre gedauert, bis ihr die Erlaubnis bekamt, hier zu wohnen?

Leyla:

Das Sozialamt hier in Dithmarschen wollte uns nicht haben, die Ausländerbehörde in Bad Segeberg wollte, dass wir zurückkommen. Das liegt an der Quote für Flüchtlinge, in Dithmarschen waren genug Ausländer, und wir waren sieben Personen zu viel. Wir haben gesagt, wir gehen nicht zurück, dann wäre unser Leben zu Ende. Wir haben gekämpft. Wir haben viele Briefe geschrieben, immer wieder, zusammen mit unserem Rechtsanwalt. Aber erst im April 2004 haben sie hier in Heide zugestimmt. Und da durften wir erst eine Wohnung suchen. An dem Tag haben wir gefeiert, wir waren so glücklich.

Gegenwind:

Wie war denn euer Aufenthaltsstatus bis dahin?

Leyla:

Wir haben die Duldung monatlich bekommen. Und meine Schwester und ich haben sie wöchentlich bekommen, weil wir schon über 18 waren. Sie wollten mich alleine in die Türkei schicken, ich war psychisch so fertig, dass ich ein Jahr lang nicht zur Schule gegangen bin. Aber dann habe ich mit der Schule hier angefangen, dann wurden sie ruhig, und ich habe auch die Duldung monatlich bekommen. Das war drei Jahre lang, drei Jahre lang haben wir die Duldung nur monatlich bekommen. Erst 2003 haben wir den Aufenthalt für drei Monate bekommen. Wir sind alle zur Schule gegangen, ich glaube, die haben uns drei Jahre lang beobachtet, ob wir kriminell sind oder nicht. Sie haben geguckt, ob wir zur Schule gehen und ob wir gute Ausländer sind. Und alle sieben gingen zur Schule, meine Mutter hat auch Kurse besucht. Wir haben uns gut benommen, aber wir haben auch immer gekämpft. Wir wollten unsere Rechte haben. Ich habe weiter gekämpft, ich habe dann eine Ausbildung angefangen und eine Befugnis bekommen. Ich habe gekämpft, bis die ganze Familie eine Befugnis hatte. Und jetzt kämpfe ich, dass wir alle eine Erlaubnis bekommen, und dann habe ich meine Ruhe. Das ist ein großes Problem mit den Papieren und dem Aufenthalt, das wünsche ich keiner Familie. Ich bin innerlich viel älter geworden, das merke ich.

Gegenwind:

Es ist ja nicht normal, dass eine junge Frau mit einer Duldung für einen Monat Abitur macht und eine Ausbildung bei einem Rechtsanwalt anfängt. Wie geht das denn?

Leyla:

Das war sehr schwer. Wir haben sehr gekämpft, Arno Köppen und ich. Wir waren oft beim Arbeitsamt. Ich kann drei Sprachen, und der Rechtsanwalt hat gesagt, dass er mich deshalb braucht, weil er viele ausländische Klienten hat. Wir haben aber zwei Jahre lang gekämpft.

Gegenwind:

Es reicht ja nicht, wenn du kämpfst, du brauchst auch einen Arbeitgeber, der zwei Jahre lang kämpft.

Leyla:

Auf jeden Fall. Alleine kann man das nicht. Man braucht einen Arbeitgeber, der das mitmacht. Ich habe es auch alleine versucht, bei einer Parfümerie. Die wollten mich auch haben, aber die Chefin wollte keine Probleme mit dem Arbeitsamt haben. Als die erste Absage kam, hat sie mir gesagt, ich kann nichts für dich machen. Und als ich angefangen habe, musste ich immer noch alle drei Monate die Duldung und die Arbeitserlaubnis neu beantragen, alle drei Monate fragen. Erst als ich die Befugnis bekommen habe, hatte ich meine Ruhe. Die gilt jetzt bis zum Ende der Ausbildung.

Gegenwind:

Musstest du schneller erwachsen werden als andere?

Leyla:

Ja, musste ich, ich bin auch schneller erwachsen geworden. Das ist schade, aber ich musste es. Das ist mein Schicksal.

Interview: Reinhard Pohl

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