(Gegenwind 189, Juni 2004)

Zwangsarbeit

Ehemalige ZwangsarbeiterInnen aus der Ukraine in Schleswig-Holstein

Auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung waren im April/Mai 2004 sechs ehemalige ZwangsarbeiterInnen aus der Ukraine in Schleswig-Holstein. Dort besuchten die Gäste ihre früheren Einsatzorte und -stellen in Rendsburg, Büdelsdorf und Umgebung. Die Berliner Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" förderte das Projekt.

Anton Semchuk trägt sich in das Goldene Buch der Stadt Rendsburg ein.
Anton Semchuk trägt sich in das Goldene Buch der Stadt Rendsburg ein.

Petro Hetmann, Jahrgang 1926, arbeitete bei "Gottlieb Tesch" in Kiel beim Schiffbauwerk; Volodymyr Samussev (1925) in der Zahnprothesenwerkstatt Kraft in Rendsburg; Anton Semchuk (1925) zunächst 6 Monate bei einem Bauern in Fockbek, danach bei der Bahnmeisterei in Rendsburg; Tamara Perkova (1927) in der Flugzeugproduktion bei Ahlmann in Rendsburg; Oleksandra Baranez (1923) in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Friedrichsholm bei Rendsburg; Nadezhda Djatschenko (1927) bei Bauer Tiedemann in Alt Duvenstedt.

Offizielle Termine gab es beim Rendsburger Bürgermeister Andreas Breitner, dem Büdelsdorfer Amtskollegen Jürgen Hein und dem Bürgervorsteher Rolf-Rüdiger Roeske. Die bündnisgrünen Landtagsabgeordneten Angelika Birk und Irene Fröhlich luden die BesucherInnen zu einem ausführlichen Gespräch ein. Danach wurden sie auf der Landtagstribüne von den schleswig-holsteinischen Abgeordneten begrüßt und waren anschließend Gäste von Landtagspräsident Arens sowie seiner Stellvertreterin Dr. Kötschau.

Der 78-jährige Volodymyr Samussev äußert zur Symbolik solcher Empfänge: "1942 wurden wir nach Deutschland verschleppt und jetzt nach über 40 Jahren ist es ein gutes Gefühl, als werte Gäste willkommen geheißen zu werden."

Neben den offiziellen Terminen standen Veranstaltungen mit SchülerInnen der Europaschule Christian-Timm-Realschule (CTR), der Büdelsdorfer Bertolt-Brecht-Realschule sowie mit GymnasiastInnen der Herder- und Kronwerkschule im Mittelpunkt; die zahlreichen Fragen der SchülerInnen reichten von der Art und Weise ihrer Zwangsverschleppung nach Deutschland über solche nach der konkreten Arbeitssituation in ihren Einsatzstellen und ihrem "Freizeit"verhalten bis zu Nachfragen über ihre heutige Befindlichkeit (z.B. angesichts von neofaschistischen Jugendlichen).

Rolf Schwarz, CTR-Lehrer und Historiker sowie Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Zwangsarbeit in Rendsburg: "Die Schüler erlebten, dass Geschichte immer auch den einzelnen Menschen mit seinen Hoffnungen und Befürchtungen betrifft. Texte und Zahlen erhielten Gesichter, Stimmen und Emotionen. Das Verweigern von Menschenrechten und die Folgen wurden erfragt und in den einzelnen Schicksalen nachvollziehbar. Beeindruckt waren die SchülerInnen von der Fähigkeit der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, trotz ihrer negativen Erlebnisse ohne Vorurteile mit ihnen zu sprechen."

Besonders bewegend waren die Begegnungen mit ZeitzeugInnen an den ehemaligen Arbeitsstellen (überwiegend Landwirtschaft, daneben Ahlmann, Tesch, Eisenbahn und Zahnlabor). Ob in Rendsburg, Alt-Duvenstedt oder Friedrichsholm - die Gäste wurden von den Angehörigen der ehemaligen "ArbeitgeberInnen" herzlich empfangen. Anhand alter Bilder und Erinnerungen wurde die Vergangenheit auf beiden Seiten wieder wach - gemeinsames Tränenvergießen oft eingeschlossen.

"Ich habe Erde aus der Heimat mitgebracht, um diese auf das Grab meiner Freundin zu legen", sagte die ehemalige Lackiererin von Geschosshülsen bei der Rendsburger Carlshütte, die heute 83-jährige Tamara Perkova unter stillem Weinen, bevor sie die Erde am Grabstein verstreute. Ihre Landsfrau Anna Salata war 1945 an Tuberkulose in Osterrönfeld gestorben, und Rolf Schwarz hatte nach Recherchen im Landesarchiv Schleswig und nach örtlichen Friedhofsbegehungen sowohl alte Fotos von Tamara Perkova und Anna Salata als auch die Grabstelle selbst gefunden.

Nicht nur hierbei wurde deutlich, dass die Debatte über die Würdigung der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen nicht mit den Zahlungen von Entschädigungen beendet werden darf, meint Petro Skidanyuk von der Ukrainischen Nationalstiftung "Aussöhnung und Verständigung" am Ende des Besuches: "Es war sehr wichtig für die Betroffenen, die Orte ihrer Zwangsarbeit wieder zu sehen. Dass weder sie noch das Thema Zwangsarbeit in Deutschland vergessen wurde und es heute junge Menschen gibt, die mehr darüber erfahren wollen, damit sich solche wie auch jegliche Verletzungen von Menschenrechten nicht mehr wiederholen."

Martin Kastranek. Vorstand der Böll-Stiftung in Kiel: "Für die Heinrich-Böll-Stiftung waren und sind solche Begegnungsprojekte ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit. Wir werden diese fortsetzen, so lange die Betroffenen noch leben und reisefähig sind."

Dieter Boßmann

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