(Gegenwind 171, Dezember 2002)

Aktuelle Informationen unter www.kopenhagen2002.de

Auf nach Kopenhagen:

Ungehorsame Kinder

Am 13. / 14. Dezember findet in Kopenhagen der EU-Gipfel, das halbjährlich stattfindende Treffen der europäischen Staats- und Regierungsschefs, statt. Der Gipfel wurde schon im Vorfeld mit dem Etikett "historisch" ausgezeichnet, soll doch mit der Aufnahme von Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn und der Slowakei und sechs weiterer Länder der erste Abschnitt der sog. Osterweiterung abschließend behandelt werden. Als weitere Themen stehen zudem die Abstimmung der europäischen Haltung bezüglich des bevorstehenden Angriffes auf den Irak und die desolate wirtschaftliche Entwicklung einiger europäischer Mitgliedsländer, u.a. Deutschland, auf der Tagesordnung.

Nicht zuletzt hat der Vorsitzende der Versammlung, der dänische Ministerpräsident Fogh Rassmussen angekündigt, die "Harmonisierung" der europäischen Migrationspolitik voranzubringen. Grundlage hierfür sollen nach Rasmussen, der sich in der Migrationspolitik als europäischer Trendsetter begreift, die rassistischen Ausländergesetze sein, die in Dänemark am 1. Juni in Kraft getreten sind: Erschwernisse beim Familiennachzug, die Ausgrenzung von sozialen Leistungen für Nicht-EU-Bürger und die Quasi-Aufhebung des Abschiebeschutzes für MigrantInnen sollen damit für die Länder der EU verbindlich gemacht werden. Internationale Gipfeltreffen haben sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der internationalen außerparlamentarischen Protestbewegungen entwickelt. Unterschiedliche politische Strömungen - Gewerkschaften, UmweltaktivistInnen, die sog. "Anti-Globalisierungsbegung", antirassistische Initiativen, Gruppen mit einer grundsätzlichen Kritik an der kapitalistischen Weltordnung u.a. - nutzen die Gipfeltreffen nicht nur, um ihren Protest und Widerstand gegen Neoliberalismus und Sozialabbau, Rassismus und Militarisierung der Gesellschaften und die Zerstörung der Umwelt auf der Strasse sichtbaren Ausdruck zu verleihen, sondern auch um wichtige gesellschaftliche, soziale und ökologische Fragen im internationalen Kontext zu diskutieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit der Kampagne Kopenhagen2002 beteiligt sich Avanti - Projekt undogmatische Linke an diesen Diskussionen und Protesten. U.a. haben wir uns mit drei Kampagnenzeitungen zu den thematischen Schwerpunkten Arbeitsmarkt &Privatisierung, Einwanderung, Rassismus &Neofaschismus sowie Krieg, Militarismus und Innere Sicherheit an die Öffentlichkeit gewandt. In der Vorbereitung haben wir eng mit der dänischen Gruppe Globale Rødder (Globale Wurzeln) zusammengearbeitet. Es handelt sich hierbei um ein Netzwerk mit einer antikapitalistischen und internationalistischen Ausrichtung, das wiederholt mit spektakulären Aktionen des sozialen Ungehorsams von sich Reden gemacht hat. So besetzten Globale Rødder im September dieses Jahres am Vortag eines Treffens der europäischen Innen- und Justizminister das Dach des Abschiebegefängnisses Sandholmlejren bei Hillerød, um gegen die unmenschliche Unterbringung von Flüchtlingen im Konkreten, und die dänische Migrationspolitik im Allgemeinen zu protestieren. Anlässlich einer Veranstaltungsreihe in Schleswig-Holstein hat die Aktionsgruppe Kopenhagen 2002 mit Rasmus Bjerre, einem Vertreter von Globale Rødder, dieses Interview geführt. (Avanti)

Rasmus Bjerre
Kopenhagen2002:

Kannst du zuerst etwas zu Globale Rødder sagen?

Rasmus Bjerre:

Zuerst: Das Wort "rødder" hat im Dänischen einen doppelte Bedeutung: zum einen "Wurzel", zum anderen "ungehorsames Kind", also etwas elementar Widerständiges. Global bedeutet, dass wir über den europäischen Tellerrand hinausblicken. Wir haben Globale Rødder nach dem G8 -Gipfel in Genua (2001) als Plattform gegründet, die sich kontinuierlich mit internationalistischen Themen und einer grundlegenden Kritik an weltweiten Ausbeutungsverhältnissen auseinandersetzt. Dabei bauen wir auf drei Ansätzen auf: Erstens auf der klassischen internationalen Solidaritätsarbeit wie z.B. der Unterstützung linker Kräfte in Mexico oder Kolumbien, die wir um eine Analyse der Veränderungen auch in der privilegierten Welt ergänzen wollen. Zweitens die neue Protestbewegung, wie sie sich in Seattle und bei den folgenden Gipfeltreffen gezeigt hat. In diese Bewegung wollen mehr Kontinuität hineintragen. Drittens gibt es in Dänemark seit dreißig Jahren eine starke Anti-EU-Bewegung, die entscheidend von linken Kräften beeinflusst war und ist. Auf diese Bewegung bauen wir auf, treten aber der dort häufig verwendeten nationalistischen Argumentation entgegen. Globale Rødder versteht sich in erster Linie als Aktionsgruppe, d.h. wir legen einen großen Wert auf direkte Aktionen des sozialen Ungehorsams. (...)

Kopenhagen2002:

Es gibt es drei verschiedene Bündnisse, die die Proteste in Kopenhagen vorbereiten. Kannst du diese kurz charakterisieren?

Rasmus Bjerre:

Es gibt in der Tat drei sehr unterschiedliche Bündnisse. Das Bündnis Stop Unionen (Stoppt die Union) fordert den Austritt Dänemarks aus der Europäischen Union. Da das Bündnis auf eine breite Mobilisierung abzielt, gibt es auch keine Abgrenzung zu rechten und nationalistischen Parteien und Organisationen. Dann gibt es noch ein Bündnis Initiativet for et andet Europa, dem auch die Globale Rødder angehören. Dieses vertritt eine mehr internationalistische Ausrichtung und lehnt den romantisierenden Bezug auf den alten Nationalstaat ab. Kritisiert werden auch die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU, den Abbau demokratischer Rechte und die sog. Anti-Terrorpakete der europäischen Regierungen, Rassismus, die Festung Europa und die Militarisierung der EU. Daneben gibt es ein Bündnis, das sich Stop Volden ("Stoppt die Gewalt") nennt. Es handelt sich um kein politisches Bündnis im eigentlichen Sinn, weil es nur ein Ziel hat: keine Gewalt während des EU-Gipfels. Ihm gehören vor allem Non-Government-Organisations, die solche Gipfel traditionell dazu nutzen, um Lobbyarbeit zu betreiben.

Kopenhagen2002:

Im Vorfeld des Gipfels gab es verschiedene Gewaltverzichtserklärungen, die auch von euch unterschrieben wurden. Diese enthielten auch die Zusage, Ausschreitungen aktiv zu unterbinden, das Stellen von Demo-Ordnern sowie eine Zusammenarbeit mit Polizeikräften. Bei Protesten anlässlich eines Ministertreffens im Sonderborg im Juni war zu beobachten, dass dies auch umgesetzt wurde. Derartige Erklärungen können zu einer Politik der Entsolidarisierung und eine Unterteilung in gute und schlechte DemonstrantInnen führen. Wie ist euer augenblicklicher Diskussionsstand? Haben bei euren Überlegungen die Ereignisse in Göteborg - die Schüsse auf DemonstrantInnen und das brutale Vorgehen der Polizei auf der einen, die folgende Medienhetze und die harten Urteile von angeblichen "Rädelsführern" auf der anderen - eure Diskussionen beeinflusst?

Rasmus Bjerre:

Ja sicher, Göteborg spielt für die Debatte in Skandinavien eine entscheidende Rolle. In Schweden wurden die meisten Urteile, die wirklich hart waren und in rechtstaatlich zweifelhaften Verfahren zustande gekommen waren, in der Bevölkerung als viel zu lasch empfunden. Alle, die sich an den Protesten in Göteborg beteiligt oder irgendeine kritische Position zu der Berichterstattung eingenommen haben, wurden unter einen Generalverdacht gestellt. Allerdings haben uns die GenossInnen aus Göteborg berichtet, dass ihre Bewegung durch die Repression nicht geschwächt worden ist, sondern im Gegenteil Zulauf hat. In unserer Einschätzung haben der Göteborger Gipfel und natürlich drei Monate später die Anschläge des 11. September zu einem Strategiewandel der Regierenden geführt. Jede Art von Protest und Widerstand wird seitdem nur noch unter dem Aspekt der Sicherheit geführt - eine politische Diskussion um Inhalte, die nach Seattle zumindest ansatzweise geführt wurde, brach wieder vollkommen ein. Deswegen hat die sogenannte Gewaltfrage die Vorbereitungen der Gipfelproteste dominiert. An diesem Punkt wurde in Dänemark, auch in unserer Organisation, intensiv gearbeitet. Die "Gewaltverzichtserklärungen" entstanden in einem sehr frühen Stadium der Mobilisierung. Eine Reduzierung der Proteste auf die Frage militant/gewaltfrei sollte im Vorfeld vermieden werden. Dies ist nicht gelungen. Vor allem rechte Medien fokussieren immer wieder auf diesen Punkt und leisten damit der Kriminalisierung von Gegnern des Gipfels Vorschub. Zu Sonderburg kann ich wenig sagen, bei den angesprochenen Vorfällen handelte es sich um Personen aus dem genannten Stop Volden-Bündnis. Deren Verhalten hat zu heftigen Debatten geführt: Wir haben uns davon scharf abgegrenzt. In der Tat enthält eine erste Erklärung vom Mai politisch falsche und dumme Formulierungen, die nicht unseren augenblicklichen Diskussionen entspricht. Bei den Aktionen von Initiativet für en andet Europa und Global Rødder werden keine Ordner von Stop Volden teilnehmen. Wir werden auch keine eigenen Ordner stellen, die andere Personen an irgendwelchen Aktivitäten hindern, noch werden wir mit dem Polizeiapparat zusammenarbeiten. Allerdings sagen wir auch, dass wir uns für unsere Aktionen strikt auf das Prinzip des gewaltlosen Widerstandes festgelegt haben. Von unserer Seite werden keine militanten Aktionen ausgehen, noch werden wir uns von der Polizei provozieren lassen. D.h. auch, dass wir unseren Protest bei Übergriffen mit einem einfachen Hinsetzen beantworten. Mit diesen Vorgaben wollen wir für unsere Aktionen einen verlässlichen Raum des Vertrauens schaffen, an dem viele verschiedene Menschen teilnehmen können. (...) Aber natürlich sind wir mit anderen Gruppen, die andere Aktionsformen anwenden, solidarisch. Bei praktischen Fragen, wie z.B. der EA-Struktur oder der Unterbringung, arbeiten wir gut und konstruktiv zusammen.

Kopenhagen2002:

Welche Aktionen sind von euerer Seite aus geplant?

Rasmus Bjerre:

Wir planen am Freitag einen Aktionstag mit vielen dezentralen Aktionen wie Straßentheater, Rollenspiele (Infos zu Lord of the things: www.lott.dk.) Zusätzlich soll es eine Massenaktion in der Nähe des Konferenzzentrums geben, das ja in den Außenbezirken von Kopenhagen liegt und bereits jetzt komplett mit NATO-Stacheldraht umzäunt ist. Für die Medien soll während des Gipfels ein Sichtschutz aufgebaut werden, so dass die militärische Sicherung des Geländes nicht sichtbar ist. Wir wollen deutlich machen, dass der Gipfel nur mit Hilfe eines großen Sicherheitsapparates stattfinden kann. Für Freitagabend ist zudem ein großes Konzert geplant. Ebenfalls am Freitag findet auch zusammen mit den anderen Gruppen von Initiativet for en andet Europa ein antirassistischer Fackelmarsch statt [ein Fackelmarsch weckt in Dänemark andere Assoziationen und ist klar antirassistisch/antifaschistisch besetzt, d. Red.]. Und am Samstag natürlich die große antikapitalistische Demonstration.

Kopenhagen2002:

Mit welcher Beteiligung rechnet ihr?

Rasmus Bjerre:

Für den Aktionstag am Freitag rechnen wir mit 2000 bis 3000 AktivistInnen, für die große Demonstration mit 10.000 bis 20.000 TeilnehmerInnen. Wir erwarten auch eine rege Beteiligung von Gruppen aus anderen skandinavischen Ländern, aus Deutschland. Besondere Schwierigkeiten könnten für Anreisende aus Polen entstehen, da hier in der Vergangenheit schon Visa verlangt worden sind.

Kopenhagen2002:

In Skandinavien gibt eine starke Bewegung, die sich mit "Befreiungskampf" der Palästinenser solidarisiert. Dies drückt sich auch in einer Kampagne aus, die zum Boykott Israels aufruft. Diese Kampagne wurde von Gruppen aus Deutschland, auch von uns, deutlich kritisiert: In einer Erklärung haben wir uns klar von Antisemitismus, dem positiven Bezug auf Gruppen wie z.B. Hamas oder Hisbollah und den Anschlägen auf ZivilistInnen, aber auch der oben genannten Forderung distanziert. Nun soll am Donnerstag, dem 12.12. - also im zeitlichen Zusammenhang mit den Gipfelprotesten - in Kopenhagen unter dieser Forderung eine Demonstration stattfinden.

Rasmus Bjerre:

Mir ist von dieser Demonstration am Donnerstag nichts bekannt, erst in Deutschland wurde ich darauf aufmerksam gemacht. Es gibt auch bislang keine Ankündigungen der AktivistInnen von Boykottiert Israel an der großen Demonstration am Samstag in einem eigenen Block teilnehmen zu wollen, wenn sie teilnehmen wollen, wird dies in Dänemark aber sicherlich breit akzeptiert. Mit der Absage an jegliche Form von Antisemitismus und den Selbstmordattentaten stimme ich natürlich überein. Die Debatte in Dänemark und Skandinavien wird allerdings vor einem anderen historischen und kulturellen Hintergrund geführt. Die Kampagne Boykottiert Israel weckt nicht die Assoziationen, die diese Parole automatisch in Deutschland hat. Und eine Kritik an der Politik der israelischen Regierung oder der politischen Ausrichtung des Zionismus muss nicht gleich antisemitisch sein. Antisemitische Äußerungen auf Demonstrationen lehnen wir ausdrücklich ab, ebenso die Gleichsetzung von Israelis und Nazis, symbolisch ausgedrückt in der Gleichsetzung von Davidsstern und Hakenkreuz. Diese Parolen haben wir bei Aktionen mehrfach entfernt.

Kopenhagen2002:

Wie wirkt sich die neue dänische Rechtsregierung für die Proteste gegen den EU-Gipfel aus?

Rasmus Bjerre:

Zunächst: in Dänemark regiert seit einem Jahr eine rechte, konservative Minderheitenregierung, die in den meisten Fällen von der rechten, sehr rassistischen Dänischen Volkspartei unterstützt wird. Diese Regierung steht einen Kurs der Ausgrenzung, der sozialen Einschnitte, der Aufrüstung nach Innen und Außen. Sie steht aber auch für einen anderen Wechsel. Das hört sich für fortschrittliche Menschen in Deutschland wohl fremd an: aber bei aller berechtigter Kritik an der skandinavischen Sozialdemokratie hatte diese das Image, für eine positiv gestaltete Utopie zu stehen, für den Versuch eine gerechte Gesellschaft zu verwirklichen, der Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Die jetzige Regierung beruht auf der Abwehr von allem Fremden, auf Angst. Dies Politik hat sich natürlich mit den Anschlägen des 11. September nochmals gesteigert. Und er trifft auf die Zustimmung eines großen Teiles der Bevölkerung. Das bleibt festzuhalten. Neben dem Verhalten von Regierung und Polizei, den Massenmedien auf der einen Seite, ist also auch entscheidend, ob sich die Veränderung dieser Grundeinstellung bei den Gipfelprotesten wiederspiegelt: ob es eine tendenziell reaktionäre und xenophobe Kritik an der EU ist, oder ab sich emanzipatorische, utopisch gewendete Ansätze durchsetzen.

Kopenhagen2002:

Vielerorts gibt es eine berechtigte Kritik an einem reinen "Gipfel-hopping". Was erhofft ihr perspektivisch von den Protesten während des Gipfels?

Rasmus Bjerre:

Natürlich erhoffen wir uns eine Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit. Wir hoffen, die bereits bestehende internationale Zusammenarbeit in eine Art Netzwerk weiterentwickeln zu können, orientiert an der Idee von Peoples Global Action. So arbeiten wir z.B. im Rahmen des Gipfelwiderstandes eng mit Gruppen aus Skandinavien, aber auch in Deutschland (lacht) zusammen. (...)

Das Interview für Kopenhagen2002 führte Peter Schneider (gekürzt, Red.).

Aktuelle Informationen unter www.kopenhagen2002.de.
Kontakt: info@kopenhagen2002.de
Spendenkonto: C. Kleine, 101 186 336, Sparkasse zu Lübeck (BLZ: 230 501 01)

Anreise: Am Donnerstag (12. Dezember) und Freitag (13. Dezember) fahren jeweils mittags (genaue Uhrzeit wird noch bekannt gegeben) Busse nach Kopenhagen. Stationen sind Hamburg, Norderstedt, Bad Oldesloe, Lübeck, Neumünster, Kiel, Flensburg und Rendsburg geplant.
Fahrkarten sind für 60 Euro/ ermässigt 40 (Donnerstag) oder 50 Euro / ermässigt 30 (Freitag) an folgenden Vorverkaufsstellen zu erhalten. Die ermässigten Karten sind begrenzt:

Termine Kopenhagen:
Freitag, 13. Dezember 2002

Samstag, den 14. Dezember 2002

Sonntag, 15. Dezember 2002

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