(Gegenwind 164, Mai 2002)

Interview zur Lage in Palästina

"Die Hoffnungen sind grundlegend zerstört"

Galal Qushta Galal Qushta wurde 1947 in Rafda (Gaza) geboren. Er kam 1966 nach Kiel zum Studium und blieb anschließend als Diplom-Chemiker hier. Er ist Inhaber einer Import-Export-Firma. Er hält ständig Kontakt mit Familienangehörigen (Geschwistern, Neffen, Nichten) und ebenso zu ehemaligen Mitstudenten in Palästina. Er besucht seit 1994, als er nach Rückkehr der PLO erstmals wieder die alte Heimat sehen konnte, häufig Palästina, und zwar sowohl Gaza als auch Westbank. Ebenso hat er in den letzten Jahren Israel besucht.

Gegenwind:

Wenn du Berichte über den aktuellen Konflikt in den Zeitungen liest oder im Fernsehen siehst, bist du mit der Darstellung zufrieden?

Galal Qushta:

Die Darstellung ist sehr vielfältig. Die Informationsmedien, Zeitungen und Fernsehen und Radio, sind aber mehrheitlich tendenziös. Sie tendieren dazu, Israel-freundlich zu sein, manchmal offen, manchmal versteckt. Es gibt aber auch, leider sehr selten, relativ objektive Darstellungen. Ich sage relativ, denn als Palästinenser freue ich mich schon, wenn die Darstellung nicht einseitig Israel-freundlich ist. Aber normalerweise ist die Berichterstattung von einer Objektivität weit entfernt.

Gegenwind:

Im Moment führt der israelische Ministerpräsidnet Scharon Krieg. Welchen Rückhalt hat er in der eigenen Bevölkerung?

Galal Qushta:

Das Problem liegt nicht in der Person. Das Problem liegt nicht bei Scharon, Barak, Peres, Rabin, Begin, Schamir. Das Problem liegt viel tiefer. Es liegt in der Ideologie, auf dessen Grundlage Israel überhaupt entstanden ist. Diese Ideologie leugnet die Existenz eines palästinensischen Volkes. Die zionistische Bewegung ist Ende des vorletzten Jahrhunderts entstanden unter dem Slogan "Palästina ist ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land", also für die Juden. Hier liegt der Kern des Problems, nicht in den Personen. Ohne in der Ideologie eine Korrektur vorzunehmen, kann kommen wer will, er wird keine Veränderung schaffen.

Gegenwind:

Gibt es in Israel relevante Bewegungen, die einen Staat auf weltlicher statt auf religiöser Grundlage anstreben?

Galal Qushta:

Die gibt es sicherlich. Die israelische Gesellschaft ist im Prinzip sehr heterogen. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern und haben neben der jüdischen Religion sehr unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Es ist ein Unterschied, ob ein Jude, ein israelischer Bürger jüdischen Glaubens aus der Ukraine, aus Russland kommt oder aus den USA, aus Äthiopien, aus dem Jemen oder aus Marokko. Aber quer durch alle diese unterschiedlichen Gruppen verläuft eine Linie zwischen weltlichen und religiösen Israelis. Ich kann nicht beurteilen, wie stark die weltlichen und wie stark die religiösen Israelis sind. Aber diese Linie ist unverkennbar. Die religiösen sind fanatischer als die weltlichen Israelis, und auch wenn sie zahlenmäßig nicht so stark sind, haben sie mehr Einfluss auf die Gestaltung der Politik.

Gegenwind:

Im Krieg sterben nicht nur Soldaten oder Kämpfer, es sterben auch viele Unbeteiligte, sei es durch israelischen Beschuss oder durch palästinensische Bomben. Hat es Rückhalt in beiden Bevölkerungen, dass der Krieg so geführt wird?

Galal Qushta:

Bedauerlicherweise muss ich diese Frage bejahen. Das ist darauf zurückzuführen, dass es nach dem Osloer Abkommen erhebliche Hoffnungen gab, auf beiden Seiten. Nach langem Leiden gab es eine Hoffnung auf Frieden und auf eine Zukunft ohne Angst und ohne Flucht. Diese Hoffnungen sind so grundlegend zerstört worden, dass vernünftige Stimmen, die es auf beiden Seiten gibt, kaum Gehör finden. Im Moment haben wir den traurigen Zustand, dass nackte Gewalt herrscht. Meiner Meinung nach ist dieser Zustand darauf zurückzuführen, dass die Verantwortlichen in Israel den Palästinensern nicht die Grundrechte eingeräumt haben, das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Eigenstaatlichkeit, auf völlige Unabhängigkeit von Israel, ohne Besatzung. Palästina ist eines der letzten besetzten Länder der Welt, und die Palästinenser haben gehofft, dass diese Besatzung zu Ende geht. Diese Hoffnung war trügerisch, deshalb ist die Verbitterung groß. Die Israelis hatten gehofft, nach 50 Jahren Kriegszustand gäbe es jetzt Frieden. Das hat sich auch nicht bewahrheitet, denn die Palästinenser fühlten sich um die Früchte des Osloer Abkommens betrogen und griffen wieder zur Gewalt.

Gegenwind:

Können die beiden Führungen das denn noch steuern? Kann ein israelischer Minsterpräsident die Siedlungen auflösen, ohne dass es Attentate gibt wie auf Rabin? Kann ein palästinensischer Präsident die Attentate stoppen, hat er eine Kontrolle über die verschiedenen Gruppen?

Galal Qushta:

Für die israelische Seite gilt, ohne eine andere Ideologie kann kein Ministerpräsident eine grundlegend andere Politik machen. Es gibt vielleicht Korrekturen an der Oberfläche, aber ohne Aufgabe der zionistischen Ideologie gibt es keine grundlegenden Änderungen. Israel muss anerkennen, dass es ein palästinensisches Volk gibt, das gewisse Rechte hat. Die ganze israelische Gesellschaft ist auf der Basis dieser Ideologie aufgebaut. Die Siedlungen sind staatlich stark gefördert worden, aber die Ideologie, die dahinter steht, wurde auch stark gefördert. Um diesen Geist wieder in die Flasche zu sperren, braucht es eine Bekehrung. In der israelischen Führung gibt es niemanden, der zu solch einer Bekehrung aufruft. Es gibt Kräfte, die zu einer Umkehr rufen. Es gibt die Friedensbewegung, es gibt Ore everim, es gibt Sadir, es gibt auch Persönlichkeiten in der Arbeiterpartei und in anderen politischen Gruppierungen, aber die sind eindeutig in der Minderheit. Unter diesen Umständen wird kein Ministerpräsident die Siedlungen auflösen, und Scharon, der offen für die Besiedlung der palästinensischen Gebiete eintritt, der während der Verhandlungen von Barak und Arafat die israelische Jugend aufrief, die Hügel in Besitz zu nehmen und sich dort einzunisten, kann das jetzt nicht aufgeben.

Gegenwind:

Gibt es auf palästinensischer Seite eine anerkannte Führung, die die Intifada steuern kann?

Galal Qushta:

Die Intifada ist nur zu steuern, wenn man eine politische Perspektive bietet. Wenn klipp und klar dargelegt wird, dass jetzt verhandelt wird über eine politische Zukunft. Es darf aber nicht, wie in den letzten 10 Jahren, darum gehen, dass immer die Palästinenser guten Willen zeigen müssen und Israel entscheidet, ob es zufrieden ist, sonst sind die Palästinenser schuld. Es darf von Israel nicht nur leere Versprechungen geben. Die Autonomiebehörde kontrolliert quasi nur die Städte, und die israelische Politik will, dass sie die Polizeiaufgaben für die Israelis in den palästinensischen Ballungszentren übernimmt. Mit dieser Einstellung kann man die Palästinenser nicht zähmen. Arafat oder wer immer da ist, kann die palästinensischer Bevölkerung nur lenken, indem er eine politische Perspektive aufzeigt. Er muss sagen können, es wird verhandelt, und am Ende der Verhandlung steht die Räumung der 1967 besetzten Gebiete, und auf diesen Gebieten entsteht ein palästinensischer Staat mit Jerusalem als Hauptstadt, es gibt definierte Grenzen und eine von Israel und international garatierte Souveränität. Dann wird die Intifada aufhören, wenn der neue Staat aufgebaut wird und die restlichen Probleme zwischen Israel und Palästina gelöst werden. Denn mit der Gründung des Staates sind ja nicht alle Probleme gelöst. Die beiden Staaten bleiben eng miteinander verflochen, über viele Frage muss verhandelt werden.

Gegenwind:

Ist die Aufteilung in zwei Staaten die einzige Lösung? Kann man nicht auch einen Staat oder eine Konföderation zweier Staaten schaffen?

Galal Qushta:

Meiner Meinung nach ist die Zweistaatlichkeit nur eine vorübergehende Phase. Denn beide Staaten sind aufeinander stark angewiesen. Es gibt die Frage des Rückkehrrechts der vertriebenen Palästinenser. Da kann der palästinensische Staat was tun, aber auch Israel. Diese gewaltige Frage für vier Millionen Flüchtlinge können beide nur gemeinsam lösen. Dann die Frage der Entwicklung: Israel ist ein sehr moderner Staat, Produktivität und Lebensstandard ist vergleichbar mit Deutschland, während die palästinensischen Gebiete praktisch nur Arbeitskräfte zu bieten haben. Durch den Krieg ist jetzt alles zerstört. Dann leben in Israel 1,3 Millionen Palästinenser. Die Probleme dieser Minderheit können auch nur gemeinsam gelöst werden. Langfristig kann ich mir gut eine Konföderation oder einen binationalen Staat vorstellen, ein Traum von mir ist ein einheitlicher Staat auf demokratischer Basis, das heißt ein Bürger eine Stimme, unabhängig von der Religion, der Herkunft, der Hautfarbe. Das ist ein Traum, man darf auch träumen, aber zumindest ein binationaler Staat ist denkbar.

Gegenwind:

Die Palästinenser in Israel haben ja die israelische Staatsbürgerschaft. Welcher Status wäre denn für die Siedler in Gaza oder auf der Westbank denkbar, wenn ein palästinensischer Staat gegründet wird?

Galal Qushta:

Die Palästinenser, die seit 1948 in Israel leben, haben zwar die israelische Staatsangehörigkeit, allerdings sind sie Bürger zweiter Klasse. In viele Ämter und Funktionen dürfen sie nicht, sie stellen die unteren Arbeitskräfte und leben im Verhältnis zu jüdischen Israelis in einfachsten Verhältnissen. Man staunt in einem Land wie Israel, entwickelt wie Deutschland oder Schweden, kann man in palästinensische Kleinstädte kommen, wo es noch nicht einmal Kanalisation gibt. Was die Siedler angeht, wenn sie unter palästinensischer Souveränität bleiben möchten, muss nur die Frage des Landes gelöst werden. Die Siedlungen sind ja auf palästinensischem Boden entstanden, der vorher anderen Leuten gehört hat. Die Siedler müssen sich mit den Eigentümern zivilrechtlich einigen, sie müssen das Land, wenn sie bleiben wollen, kaufen oder pachten. Aber die palästinensischen Behörden haben immer gesagt, wenn die Siedler unter palästinensischer Souveränität bleinben wollen, haben wir keine Probleme, wir müssen klären, ob sie als israelische Bürger in Palästina leben oder die Staatsangehörigkeit aufgeben und palästinensische Pässe beantragen.

Gegenwind:

Viele Palästinenser leben hier in Deutschland als Flüchtlinge, als Studenten, als Gastarbeiter. Warum sieht und hört man so wenig Aktivitäten, bei der täglichen Berichterstattung über den Krieg? Warum gibt es keine Veranstaltungen oder Demonstrationen? Sind sie politisch zu zerstritten?

Galal Qushta:

Sicherlich gibt es Meinungsverschiedenheiten, aber unter den Palästinensern herrscht die Meinung vor, dass die Solidarität mit Palästina im Ausland Sache des jeweiligen Landes ist. Wenn Deutsche der Meinung sind, dass in Palästina Unrecht geschieht, müssen sie sich engagieren. Die Palästinenser üben in ihrem Rahmen Solidarität. Aber es gab hier auch Solidarität mit dem vietnamesischen Volk während des Vietnamkrieges, da lebte hier kaum ein Vietnamese. Als Palästinenser denke ich, und das ist bei uns allgemein so, das die Solidarität in Deutschland von Deutschen ausgehen muss.

Gegenwind:

Ist es nach deiner Beobuachtung für Deutsche besonders schwierig, Israel zu kritisieren?

Galal Qushta:

Es gibt einen großen Einfluss von Israel, aber auch von den jüdischen Gemeinden in der ganzen Welt auf die Medien, das beeinträchtigt die faire Informationsmöglichkeit. Das ist von Land zu Land verschieden, am extremsten in den USA, aber in Westeuropa gibt es diesen Einfluss auch. Die Menschen werden hier zu wenig oder falsch informiert. Das erschwert das Entstehen einer breiten Solidarität. In Deutschland kommt dazu, dass durch den Faschismus, durch das Dritte Reich den Juden ungeheures Unrecht angetan wurde. Daher tun sich die Deutschen sehr schwer, im Blick auf Israel irgendwas zu kritisieren. Und wenn sie das tun, haben sie furchtbare Angst, als Nazi abgestempelt zu werden. Die Angst ist auch berechtigt, wer Israel kritisiert, hat hier nichts zu lachen. Nimm das Beispiel Helmut Schmidt, der als Kanzler einen Staatsbesuch in Saudi-Arabien machte. Zum Abschluss erklärte er, Israel müsste in sicheren Grenzen existieren, aber das palästinensische Volk hätte auch ein Selbstbestimmungsrecht. Kaum war er zu Hause, wurde er mit Kritik bombardiert, und sofort wurde in Archiven gegraben und publiziert, dass er als junger Soldat unter Hitler in einem Prozess als Zuschauer in Zivil teilgenommen hatte, in dem ein Jude zu Unrecht verurteilt wurde. Nicht berichtet wurde, dass er auf Befehl seines Vorgesetzten handelte und sich danach weigerte, nochmal solch einen Auftrag zu übernehmen. Aber Politiker hierzulande tun sich sehr schwer, den Mund aufzumachen, schwerer als zum Beispiel in Frankreich, Italien oder Schweden. Und bei diesen Ängsten kann keine breite Solidaritätsbewegung entstehen. Aber ein schlechtes Gewissen gegenüber Juden gibt es nicht nur in Deutschland. Denn Juden wurden zwar in diesem Jahrhundert von Deutschland verfolgt, aber in den Jahrhunderten zuvor gab es Verfolgungen in ganz Europa, in Russland, Italien, Frankreich, Spanien. Ich habe den Verdacht, dass viele froh sind, dass sie das "Problem" der Juden nach Palästina losgeworden sind. Sie haben jetzt dieses Problem nicht mehr, die Palästinenser haben das Problem. Aber das kann ich nicht fundiert begründen, das ist nur eine Idee, ein Eindruck.

Interview: Reinhard Pohl

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