(Gegenwind 161, Februar 2002)

Europäische Abschottungspolitik in der Praxis

"Zwei Minuten später wäre ich gestorben..."

Eigentlich hatten Gülsen und Hasan Paker als politisch aktive alevitische Kurden genug Gewalt und Misshandlung in der Türkei erlebt. Am 20. September 2001 flohen sie mit Hilfe einer Fluchthilfeorganisation nach Europa, kamen am 10. Oktober in London an. Doch auch dort waren sie nicht in Sicherheit. Sie machten vielmehr schlechte und sehr schmerzhafte Erfahrungen mit der europäischen Abschottungspolitik.

Gülsan und Hasan Paker

Wir treffen uns am 20. Dezember in Lübeck. Gülsen und Hasan Paker sind ein junges Ehepaar, seit etwas mehr als zwei Wochen in Deutschland. Sie haben schwere Verfolgung in der Türkei überstanden, deuten sie an. Erzählen wollen sie aber von dem, was sie in Großbritannien erlebten, als sie dort in die Hände der Polizei fielen.

Eigentlich kann man nicht sagen, dass sie in Großbritannien oder in England waren. Sie waren nämlich nur in Tinsley House, in Gatwick, einem Internierungslager oder Abschiebegefängnis. Dort sitzen Flüchtlinge ein, für die sich Großbritannien nicht "zuständig" fühlt, deren Fingerabdrücke bereits in einem anderen Land des "Dubliner Übereinkommens" registriert sind, oder die aus anderen Gründen ihren Asylantrag woanders stellen sollen. Das Dubliner Übereinkommen regelt, welches europäische Land für ein Asylverfahren zuständig ist und welches nicht - und das Ehepaar Paker hatte ein Visum für Deutschland, als es floh. In diesem Fall ist Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Das erklärte ihnen natürlich niemand, sie wurden für zwei Monate ins Gefängnis gesperrt.

Normalerweise werden Ehepaare gemeinsam untergebracht. Warum Gülsen und Hasan getrennt wurden, wissen sie nicht - wenn sie fragten, wurden sie vertröstet, dass sicherlich bald ein größeres Zimmer frei würde und sie dann zusammen kämen. Alle zwei bis drei Tage wurden die Zimmer komplett durchsucht. Schon eine Nagelfeile galt als verbotene Waffe.

Erst am Abend des 2. Dezember wurden sie zusammengebracht, in seiner Zelle, die ganze Nacht bewacht und ohne Schlaf - denn es sollte die Nacht vor ihrer Abschiebung sein. Abschiebung wohin? Das sagte man ihnen nicht, sie wussten nur, dass das Flugzeug nach Deutschland ging. Sie vermuteten, dass es nach kurzer Zwischenlandung in die Türkei und dort wieder ins Gefängnis gehen sollte. Sie diskutierten kurz mit den Polizisten, beschlossen aber, sich erstmal zu fügen. Sie hatten gehört, dass andere Flüchtlinge erst unmittelbar vor dem Start Widerstand geleistet hatten und dadurch ihre Abschiebung verhindern konnten. So verbrachten sie eine schlaflose Nacht, auch, weil speziell für sie ein Polizist abgestellt wurde. Der stand nicht nur vor der Tür, sondern kam in kurzen Abständen rein, auch deshalb bekamen sie kein Auge zu.

Am nächsten Morgen sollten sie sich um vier Uhr fertig machen. Sie blieben zunächst einfach auf den Betten sitzen, weigerten sich mitzukommen. Die Polizisten, die kamen, sagten ihnen, sie hätten die Entscheidung nicht in der Hand und würden sie auch mit Gewalt zum Flughafen bringen. So kamen sie zunächst mit, wurden auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens zum Flughafen gebracht.

"Wie ein Müllsack"

Dort angekommen, mussten die Polizisten noch Papierkram erledigen, sechs Beamte, vier Männer und zwei Frauen, blieben bei ihnen. Beide appellierten an die Polizisten, sie nicht abzuschieben, insbesondere nicht in die Türkei. Sie machten klar, dass sie das Flugzeug nicht besteigen wollten. Doch die Polizisten diskutierten nicht: Die vier Beamten warfen sich auf Hasan Paker, packten ihn von hinten am Kinn, schlugen ihn in den Rücken und auf den Kopf, warfen ihn schließlich zu Boden. Der Versuch, ihm Handschellen anzulegen, gelang nur an einer Hand, doch als er wieder aufstand, wurde ihm der Kopf gegen das Auto geschlagen. Mit diesem Schlag wurde sein Widerstand gebrochen, die Handschellen dann sehr eng geschlossen, dass die Handgelenke anschwollen. Doch seine Bitte, die Handschellen zu lockern, wurde nur mit einem Grinsen quittiert.

Die beiden Polizistinnen hatten sich gleichzeitig auf Gülsen geworfen und sie zu Boden gebracht. Eine Polizistin legte sich gleich auf sie drauf. Sie hat sowieso schon gelegentlich Schwierigkeiten beim Atmen, ist dazu noch Raucherin: "Ich war fast bewusstlos. Ich glaube, zwei Minuten später wäre ich gestorben", erzählt sie. Jedenfalls konnte auch sie sich nicht wehren, die Arme wurden ihr auf den Rücken gedreht und die Hände mit Handschellen gefesselt. Auch bei ihr drückten die Polizistinnen die Handschellen so eng zu, dass sie laut schrie, daraufhin wurden sie ein wenig gelockert. Dann wurde sie mit gefesselten Händen ins Auto geworfen, "wie ein Müllsack".

Im Flugzeug wurden ihnen die Handschellen nur geöffnet, um ihre Hände vorne, vor dem Körper, zu fesseln. Sie wurden ganz nach hinten gesetzt, die kleinen Tischchen runtergeklappt, damit die übrigen Fluggäste nicht bemerken, dass sie zwei unfreiwillige Mitreisende haben. Zwei Männer und zwei Frauen bewachten sie, offenbar von einem privaten Wachdienst. Gülsen will zur Toilette: Eine Bewacherin bringt sie hin, schließt die Handschellen auf einer Seite auf, die Tür muss allerdings offen bleiben. Anschließend wird sie wieder gefesselt. Erst zehn Minuten nach dem Start werden ihnen die Handschellen abgenommen, ein Bewacher bringt sogar Eiswürfel, damit werden die geschwollenen Handgelenke gekühlt.

Sofort ins Krankenhaus

An die vier Bewacher haben beide eher positive Erinnerung, besonders eine Wachfrau, vermutlich Spanierin, kümmerte sich um sie. Sie veranlasste, dass bei der Landung in Hamburg bekannt war, dass ein Arzt gebraucht wurde. So wurden sie von der Polizei in Hamburg bereits erwartet - mit einem Rollstuhl und einem Krankenwagen für Hasan. Sowohl ihre Bewacher als auch Grenzschutz und Polizei auf dem Hamburger Flughafen waren der Meinung, die Verletzungen von Hasan seien so schwer, dass er sofort ins Krankenhaus müsste - noch auf dem Flughafen wurde von den Rettungssanitätern der Blutdruck gemessen. Dann kam er ins Krankenhaus, wo Rücken und Kopf sowie die Arme geröntgt wurden. Anschließend wurden Arme, insbesondere die Handgelenke verbunden, der Arzt bescheinigte ihm eine Reihe von Prellungen und Quetschungen an Kopf, Rücken und Händen. Eine Verständigung war schwierig: Das bisschen Englisch aus dem Gefängnis reichte kaum aus.

Gülsen übernahm in der Zeit am Flughafen und bei der Polizei die Formalitäten. Fast vier Stunden dauerte es, die Fingerabdrücke abzugeben, den Reiseweg zu schildern und die Fragen zum Asylantrag zu beantworten. Sprachlich hatte sie es besser, denn die Polizei bestellte einen Türkisch-Dolmetscher. An die Polizisten selbst hat sie auch positive Erinnerungen, der Beamte, der ihr die Fingerabdrücke abnahm, bemühte sich darum, sie durch kleine Scherze ein wenig aufzumuntern. Anschließend bekam sie die Adresse des Wohnschiffes für Asylbewerber, die Polizisten riefen ein Taxi und gaben dem Fahrer die Adresse des Krankenhauses.

Auf dem Schiff blieben sie nur eine Nacht, dann bekamen sie die Adresse der Erstaufnahmeeinrichtung Schleswig-Holsteins in Lübeck. Und während sie in England keinerlei Bewegungsfreiheit hatten, gefesselt und bewacht transportiert wurden, erlebten sie in Deutschland das Gegenteil: Mit einem Zettel mit einer Adresse in der Hand, dazu einer Fahrkarte, aber keinerlei Erklärungen wurden sie allein gelassen. Sie wandten sich in Hamburg an den Inhaber eines türkischen Imbisses, ein Freund des Inhabers bot sich an, sie mit seinem Wagen zum Bahnhof zu bringen. Auch in Lübeck mussten sie sich ohne jede Sprachkenntnis orientieren. Am 4. Dezember abends erreichten sie die Kaserne in Lübeck-Vorwerk.

Reinhard Pohl



Spendenaufruf: "Kein Flüchtling soll so behandelt werden"

Gegen die schweren Misshandlungen durch die Heathrow Police will das Ehepaar Paker publizistisch und juristisch vorgehen - schon im Interesse der Flüchtlinge, die nach ihnen abgeschoben werden. "Wir möchten, dass kein Flüchtling so behandelt wird - nicht in England, nirgends auf der Welt", sagt Gülsen Paker. Sie wollen zunächst eine Rechtsanwältin beauftragen, notwendige Fragen zu klären. Dazu brauchen sie Geld. Wer ihnen helfen will, spende an:

Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Postbank Hamburg
(BLZ 200 100 20),
Konto 1300 19 - 207,
Stichwort "Paker"
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