(Gegenwind 160, Januar 2002)

Interview:

"Man denkt immer, es ist alles zerstört, aber die Frauen in Afghanistan kämpfen noch..."

Der Krieg der USA in Afghanistan ist nicht nur ein fernes Ereingnis aus dem Fernsehen. Der Bundestag hat die Beteiligung deutscher Soldaten beschlossen, vier oppostionelle Gruppen wurden nach Bonn eingeladen, um die neue Regierung unter sich auszuhandeln, und seit Jahren kommen afghanische Flüchtlinge nach Deutschland. Darüber sprachen wir mit Faride Assad (das Interview entstand am 6. Dezember, zum Ende der Bonner Konferenz).

Gegenwind:

Der Anschlag vom 11. September hat für Ihr Land Afghanistan viel verändert. Wie beurteilen Sie den Anschlag und das, was danach folgte?

Faride Assad

Faride Assad:

Ich verurteile den Anschlag vom 11. September aufs Schärfste und sehe diesen Anschlag als terroristischen Akt. Aber niemand auf der Welt gibt den USA das Recht, wegen eines Terroristen, den sie selbst ausgebildet, finanziert und bewaffnet haben, ein Volk wie das afghanische tage- und sogar wochenlang zu bombardieren. Der organisierte Terrorismus entsteht nicht zufällig, sondern ist das Produkt der besonderen Bedingungen und der inneren Widersprüche des gesellschaftlichen Systems. Die katastrophalen Ereignisse wuchsen auf dem Boden einer nicht durchdachten Politik und der Einmischung der USA und ihrer Verbündeten. Sie haben viele Jahre in unserem geliebten Land die Drachensaat ausgesät, die jetzt Früchte trägt. Gegen die Republik Afghanistan, die bestrebt war, den feudalen ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen den Boden zu entziehen und den Übergang zu einer zivilisierten Gesellschaft zu ebnen, haben die USA und ihre Handlanger, insbesondere die Militärregierungen Pakistans, in einem nicht erklärten Krieg die reaktionären fundamentalistischen Kräfte organisiert.

Die Afghanen sind ein Volk, das jahrelang unter der Herrschaft der Mudschaheddin und der Taliban gelitten hat. Zur Zeit fehlen notwendige Unterkünfte, ausreichende Kleidung und Essensvorräte. Ich gebe die Schuld an diesem Krieg den USA.

Gegenwind:

In der Berichterstattung beginnt dieser Krieg ja am 11. September. Können Sie ihn historisch einordnen?

Faride Assad:

Am 14. April 1988 wurde in Genf das "Genfer Abkommen" unter dem Vorsitz der Vereinten Nationen besiegelt. Dieses Abkommen wurden von den Außenministern Afghanistans und Pakistans unterschrieben, wobei die Außenminister der damaligen Sowjetunion und der USA als Garantiemächte unterschrieben. Laut diesem Vertrag sollten die sowjetischen Truppen innerhalb von zehn Monaten das Land verlassen, sie haben diese Pflicht in neun Monaten geleistet. Auf der anderen Seite haben die USA schon am 15. April 1988 angefangen, die Mudschaheddin und die sogenannte "Siebener-Allianz" mit modernen Waffen zu beliefern. Bin Laden haben die USA als Verbündeten für die Ausbildung der afghanischen Aufständischen verpflichtet und finanziert. Das afghanische Volk hat fünf Jahre lang nach dem Abzug der sowjetischen Truppen das Land verteidigt. Es wurden Versuche unternommen, die Regierungspartei DVPA zu spalten und so die Schlagkraft der DVPA zu schwächen. Dieser Versuch ist gelungen, und so hatte die Siebener-Allianz die Möglichkeit, Kabul und andere große Städte zu erobern. Nach der Eroberung, nach 1992 haben sich die Organisationen der Siebener-Allianz gegenseitig bekriegt.

Die Auseinandersetzung zwischen Rabbani und Hekmatyar hat nicht nur die Stadt Kabul zerstört, sondern viele andere Städte auch, und viele Tote sind zu beklagen. Das hat einen neuen Flüchtlingsstrom verursacht. Diese Katastrophe dauerte wieder vier Jahre. Als Alternative haben die USA durch ihren Zögling Bin Laden die Taliban erfunden und noch einmal für die Eroberung der Macht mobilisiert. So haben die Taliban durch die Unterstützung der USA, der pakistanischen Militärregierung und der reaktionären Kräfte der arabischen Welt die Macht an sich gerissen. Sie haben alle fundamentalen Rechte des afghanischen Volkes mit Füßen getreten.

Ein besonders beklagenswertes Beispiel dafür ist die Aberkennung der Rechte der Frauen, die sie zu Sklavinnen gemacht haben. Das Recht auf Bildung, auf medizinische Versorgung, auf Versammlung und so weiter wurde abgeschafft. Sie haben die Frauen durch Schulverbot aus dem sozialen Leben ausgegrenzt, sie jeglicher Rechte beraubt und aus der Öffentlichkeit verbannt. Alle modernen Errungenschaften wurden durch die Scharia ersetzt. Das hat dem Volk nur Elend und Armut gebracht.

In der Vergangenheit haben Frauen in Afghanistan eine bedeutende Rolle gespielt, bis 1978 haben sie ihre Gleichberechtigung durchgesetzt. Aber durch die Taliban- und die Mudschaheddin-Regierung haben sie alles verloren.

Gegenwind:

Was macht Ihre Organisation DFOA konkret?

Faride Assad:

Hier machen wir Versammlungen von Frauen, wir kämpfen für die Rechte der Frauen auch hier. Wir haben hier auch viele Probleme und Schwierigkeiten, nicht nur mit den Menschen oder Behörden draußen, auch zu Hause. Wir beraten die Frauen, die zu Hause Schwierigkeiten haben. Aber hauptsächlich diskutieren wir, wie können wir den Frauen in Afghanistan helfen. Vor einer Woche hat eine Frau von DFOA in Kabul im Fernsehen gesprochen: Die Organisation lebt dort noch. Man denkt immer, es ist alles zerstört, aber die Frauen in Afghanistan kämpfen noch, auch in dieser Situation. Ich bin davon überzeugt, wir schaffen die Gleichberechtigung der Frau.

Gegenwind:

Wie verläuft der Krieg aus Ihrer Sicht? Am Anfang haben die USA ja die Nordallianz mehr oder weniger ignoriert, später dann doch massiv unterstützt.

Faride Assad:

Herr Bush dachte, dass der Krieg gegen Afghanistan nur ein leichter Ausflug für die Killer der USA sei. Aber später zeigte sich beim Angriff der ersten Bodentruppen, dass es den USA Kopf und Kragen kostet. Nach der Agentur Reuters, einen Tag nach dem Einsatz der ersten Bodentruppen, wurden von 200 Soldaten 25 verletzt. So haben die USA wieder auf die Nordallianz gesetzt und hoffen damit, Afghanistan für ihre wirtschaftlichen Interessen gewonnen zu haben.

Gegenwind:

Welche Interessen sind das?

Faride Assad:

Das ist der jahrelange Versuch der USA, Afghanistan zu kontrollieren. Zum Beispiel haben wir Öl, auch viele weitere Bodenschätze. Außerdem ist Afghanistan strategisch gesehen wichtig als Transitland für Öl vom Kaspischen Meer zum Indischen Ozean. Afghanistan liegt zwischen Iran und Pakistan. An beiden Ländern haben die USA Interesse, sie wollen hier Fuß fassen.

Gegenwind:

Wie beurteilen Sie die Nordallianz?

Faride Assad:

Die Nordallianz ist in sich ein inhomogenes Gebilde. Sie akzeptieren das Recht der Paschtunen nicht, sie erklären die Taliban zu den Vertretern der Paschtunen. Das ist eine absurde Behauptung! Damit ist bereits programmiert, dass der Krieg weitergeht.

Gegenwind:

Wie beurteilen Sie Präsident Rabbani?

Faride Assad:

Er hat schon mal die Macht gehabt. Es ist jetzt das zweite Mal, dass er versucht, die Macht zu erobern. Meiner Meinung nach sollte sich die UNO einmischen, Rabbani kann die anstehenden Aufgaben nicht lösen. Er ist wirklich nicht in der Lage, solch ein Land wie Afghanistan, wo alles zerstört ist, wieder aufzubauen. Es muss eine Übergangsregierung gebildet werden, in der alle zusammenarbeiten. Rabbani alleine - das funktioniert nicht.

Gegenwind:

Und wie beurteilen Sie Hekmatyar? Er ist ja noch im Exil in Teheran, welche Rolle wird er spielen?

Faride Assad:

Für ihn gilt im Prinzip das Gleiche. Die Schiiten werden vom Iran unterstützt, Hekmatyar kann gut mit Rabbani, weil beide keine Paschtunen sind. Sie können zusammenarbeiten. Aber, wie gesagt, sie gehören zur Siebener-Allianz, die es schon mal versucht hat, unser Land zu regieren, sie haben das nicht geschafft. Sie können es nicht schaffen, sie sind sehr egoistisch, sie wollen alle die Macht alleine haben. Es kümmert sie nicht, wie die Lage ist, was die Leute brauchen.

Gegenwind:

Soll die Siebener-Allianz oder die Nordallianz überhaupt eine Rolle in der künftigen Regierung spielen?

Faride Assad:

Ja. Anders geht es nicht. Sie müssen zueinander finden, und es muss gesichert sein, dass sie nicht an sich denken, sondern an die Bevölkerung. Was passiert denn in unserem Land? Tag und Nacht gibt es Tote, Kinder sterben, es gibt keine Nahrungsmittel. Deshalb müssen alle zusammen finden, eine Lösung erarbeiten, zusammenarbeiten.

Gegenwind:

Über die Zukunft Afghanistans wird jetzt in Bonn verhandelt. Wie sehen Sie die Bonner Konferenz?

Faride Assad:

Die Bonner Konferenz findet auf Einladung der Vereinten Nationen statt. Es gibt vier afghanische Delegationen mit zusammen 28 Mitgliedern. Das Ziel der Konferenz ist, unter UNO-Schirmherrschaft eine Verständigung über den Übergangsprozess in Afghanistan. Die vier Delegationen sind die Nordallianz, die Rom-Gruppe des ehemaligen Königs, die Peshawar-Gruppe und die Zypern-Gruppe.

Gegenwind:

Können Sie die Zypern-Gruppe beschreiben?

Faride Assad:

Die Zypern-Gruppe besteht aus Anhängern der islamischen Partei von Gulbuddin Hekmatyar. Sie haben im Jahre 1992 gegen die damalige Nordallianz für die Zerstörung der Städte, besonders der Stadt Kabul, gekämpft. Jetzt leben sie im Exil.

Gegenwind:

Kann die Konferenz eine Lösung für Afghanistan bringen?

Faride Assad:

Solange Rabbani Staatschef bleibt, hat diese Konferenz in meinen Augen keine Bedeutung. Rabbani spielt mit dem Westen Katz und Maus. Erst sagt er, die Konferenz in Bonn ist unbedeutend. Dann sagt er, er würde zurücktreten, wenn eine Übergangsregierung von der UNO eingesetzt wird. Und so weiter! Diese Widersprüche belegen, dass er kein Vertrauen verdient, er hält an der Macht fest. Mit großer Wahrscheinlichkeit stimmt er den Vorschlägen aus Bonn zu, aber nach der Rückkehr der Delegationen wird er das Gegenteil praktizieren. Man weiß nicht, wer Herr der Lage wird, die UNO oder die Nordallianz.

Für mich ist die Zugehörigkeit zu einer Gruppierung, Partei oder Organisation nicht maßgebend, sondern das Bekenntnis zu den Rechten des afghanischen Volkes, die Beendigung des Krieges und die endgültige Lösung der Probleme der afghanischen Flüchtlinge. Das Elend der Flüchtlinge in den Lagern in Pakistan und vielen anderen Ländern ist katastrophal. Die Flüchtlinge haben keine ausreichenden Nahrungsmittel, keine ausreichende Behausung, kein Trinkwasser und keinen Schutz gegen die Kälte und Hitze. Abgesehen davon kommt es zum Ausbruch von Epidemien, es gibt keine Bildungsmöglichkeiten, zahlreiche weitere Grundrechte fehlen. Hilfe, die diese Länder erreicht, verschwindet zu einem großen Teil in den Taschen der Gruppen, die die Regierungen dieser Länder stellen, nur ein Bruchteil erreicht die Flüchtlinge. Daher befinden sich diese in einer ausweglosen Lage.

Leider gibt es auch viele Unzulänglichkeit/en in den westlichen Ländern. Wenn man die Bundesrepublik Deutschland sieht, kann man davon ausgehen, dass viele in den oberen Etagen eine Denkweise haben, dass die Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf brauchen, sich sattessen und die Grundschulbildung erreichen müssen. Aber das ist nicht genug. Es gibt viele afghanische Jungen und Mädchen, die sehr begabt sind, sie wollen weiter ausgebildet werden. Aufgrund ihres Aufenthaltstatus ist ihnen der Weg versperrt, sie sind frustriert und landen irgendwo als Aushilfskräfte.

Wenn man an den Wiederaufbau Afghanistans denkt, müsste man schon längst über die Ausbildung der Kader nachdenken. In Schleswig-Holstein gibt es viele Afghanen, die in einer Warteschleife gesteckt werden. Sie sind hier, aber sie wissen nicht, was mit ihnen passiert. Es könnte sein, dass demnächst der Kabuler Flughafen für Starts und Landungen freigegeben wird und die Flüchtlinge in eine ungewisse Zukunft abgeschoben werden. Man sollte versuchen durchzusetzen, dass die Frage der Flüchtlinge genauso wie die Zukunft Afghanistans durch die UNO gelöst wird.

Gegenwind:

Erzählen Sie doch auch von sich selbst...

Faride Assad:

Ich bin jetzt seit fast neun Jahren hier in Deutschland, aber ich war schon vorher hier. Ich habe hier Abitur gemacht und studiert, danach bin ich wieder nach Afghanistan zurück, dort habe ich drei Jahre lang als Dozentin gearbeitet. Als die Lage dort zu ernst wurde, ich dort alleine mit meinen zwei Töchtern nicht mehr leben konnte, mein Mann war schon weg, hatte ich eine Wohnung, die ich verkaufen konnte. Mit diesem Geld konnte ich nach Pakistan fahren und mit Hilfe von Schleppern nach Frankfurt kommen. Das hat mich sehr viel Geld gekostet. Dort habe ich meinen Mann wieder getroffen, ich bin dann nach Kiel gekommen. Seit fast neun Jahren bin ich jetzt hier, aber ich habe noch keine endgültige Antwort für mein Asylverfahren. Am 6. November hatte ich einen Termin beim Verwaltungsgericht in Schleswig, das Urteil habe ich aber noch nicht. Ich lebe mit meinen inzwischen drei Töchtern hier.

Gegenwind:

Warum hat das Asylverfahren so lange gedauert?

Faride Assad:

Das weiß ich nicht. Ich habe hier studiert, meine älteste und meine jüngste Tochter sind hier geboren, das hat keinen gekümmert. Wir leben seit langem in einer unsicheren Situation, wir wissen nicht, was morgen kommt. Ob die uns nach Hause schicken, wissen wir nicht. Dadurch kann ich auch nicht arbeiten, ich habe keine Papiere, keine Anerkennung. Meine älteste Tocher macht eine Ausbildung, aber sie hatte auch Schwierigkeiten mit einer Aufenthaltsbefugnis. Mit einem deutschen Pass könnte sie studieren, jetzt lernt sie sozialpädagogische Assistentin. Die anderen Töchter sind neun und sieben Jahre alt, die gehen beide zur Schule.

Gegenwind:

Welche Zukunft sehen Sie denn für Afghanistan?

Faride Assad:

Die Schwierigkeiten und Gefahren der gegenwärtigen Situation und das Schicksal der Völker Afghanistans verlangt, dass sich alle Intellektuellen und nationalen und gesellschaftlichen Persönlichkeiten, Organisationen und Kreise unter Hinanstellung persönlicher und politischer Meinungsverschiedenheiten und religiösen, regionalen und sprachlichen Differenzen ohne Arroganz und Egoismus für die Rettung des Landes und des Volkes gemeinsam engagieren. In der derzeitigen Lage ist eine solche Übereinkunft dringend! Und sie ist notwendig, damit die unendlichen Leiden unseres Volkes zu Ende gehen. Damit Frieden, Stabilität, Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in unserem geliebten Land Afghanistan erreicht werden.

Gegenwind:

Vielen Dank!

Interview: Reinhard Pohl

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