(Gegenwind 158, November 2001)

Rendsburg:

Recherche nach ehemaligen Zwangsarbeitern

Lange Jahre war die Zwangsarbeit während des Dritten Reiches ein Tabuthema. Erst die "Wiedervereinigung" zwang das Thema auf die Tagesordnung: Nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag hatten ehemalige ZwangsarbeiterInnen in Gesamtdeutschland endlich eine klare Adresse für Schadenersatzklagen erhalten. So entstand der Entschädigungsfonds, den die Wirtschaftsbetriebe quälend langsam füllten - beim Anfordern von Zwangsarbeitern waren sie damals bedeutend schneller gewesen. Ein Problem blieb: ZwangsarbeiterInnen sollten, so die Fonds-Bestimmungen, zunächst nachweisen, dass sie überhaupt Zwangsarbeit geleistet hatten. Hier sind die Sozialversicherungsträger, die Betriebe und die Kommunen besonders gefordert.

Aufgabe für Kommunen

Eigentlich wäre die Hilfestellung für diese Nachweise eine idele Aufgabe für Kommunen. Denn der finanzielle Anteil der öffentlichen Hand am Entschädigungsfonds von 10 Milliarden war mit 5 Milliarden Mark von der Bundesregierung bereits aufgebracht worden. Die Bundesregierung übernahm damit mögliche Kosten, die auf die Kommunen, da auch sie ZwangsarbeiterInnen beschäftigt hatten, hätten zukommen können. Aus den Einwohnermeldeunterlagen und den Ermittlungsakten für die Alliierten nach 1945 müssten diese Bescheinigungen erstellt werden können.
Auch die Stadt Rendsburg hat Anfang des Jahres 2000 beschlossen, diesen Teil der Stadtgeschichte zu dokumentieren. Zwar hat sie gerade die 850-Jahr-Feier hinter sich, dazu ist auch eine umfangreiche Stadtchronik erschienen - aber Informationen über Zwangsarbeit sind nur spärlich vertreten (vgl. S. 607/608 der Chronik).
Eineinhalb Jahre sind seit dem Beschluss des Hauptausschusses nun vergangen. Deshalb lud der Bürgermeister Teucher am 4. Oktober die Presse ein, um über den Stand der Arbeiten zu berichten.

Bürgermeister Teucher zeigt Dokumente ehemaliger Zwangsarbeiter

Die Stadt hat zunächst eine Person, Rolf Schwarz, mit der Recherche beauftragt. Dabei sei festgestellt worden, dass die entsprechenden Aktenbestände der Stadt 1945 vernichtet worden seien, es habe aber Unterlagen im Landesarchiv gegeben. Die betroffenen Firmen, so der Bürgermeister auf Nachfrage, hätten sich als wenig kooperativ erwiesen. Man habe aber weitere Aktenbestände bei den Stadtwerken oder im Kirchenkreisarchiv gefunden.
Man habe Informationen über ca. 550 ZwangsarbeiterInnen aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion (Russland, Ukraine und Weißrussland) zusammengetragen, ebenfalls gab es Unterlagen über belgische Zwangsarbeiter.

Fragebögen

Im Sommer 2000 seien dann Fragebögen nach Lübecker Muster (vgl. Gegenwind 122, November 1998: "Ich erinnere mich nur an Tränen und Trauer...") auf russisch und polnisch verschickt. Ungefähr 200 Antworten trafen inzwischen ein. Sie wurden übersetzt, diese Antworten führten auch dazu, dass die Stadt Rendsburg den inzwischen bekannten ZwangsarbeiterInnen die geforderten Bescheinigungen für den Entschädigungsfonds ausstellen konnte. Allerdings waren längst nicht alle ZwangsarbeiterInnen, die antworteten, wirklich in Rendsburg beschäftigt - viele waren über das Arbeitsamt Rendsburg vermittelt, leisteten die Zwangsarbeit aber im Umland, dem Kreis Rendsburg (heute Teil des Kreises Rendsburg-Eckernförde). Hier wurden die Informationen entsprechend weitergeleitet, so dass die Umlandgemeinden die entsprechenden Bescheinigungen ausstellen konnten.
Mit den Fragebögen wurden zum Teil auch Originaldokumente eingeschickt, also Lagerausweise, Arbeitskarten, Fotos, die inzwischen alle digital erfasst sind und zurückgegeben wurden. Besonders berührt war und ist der Bürgermeister über eine tagebuchähnliche Broschüre einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die diese der Stadt Rendsburg vermachte - immerhin, wie aus einem Begleitbrief der Enkelin hervorgeht, die einzige Erinnerung dieser alten und kranken Frau an ihre Sklaverei in Deutschland. Dieses Heft enthält offensichtlich keine typischen Tagebucheinträge, sondern Lyrik - deshalb konnte die Stadt es auch noch nicht übersetzen lassen, weil das speziellere Kenntnisse beider Sprachen erfordert.
Die Antworten auf die Fragebogenaktion ließen sich systematisieren, es geht um vier Beschäftigungsfelder: Landwirtschaft, Industrie, Öffentlicher Dienst und Haushalt bzw. Kleinbetrieb. Nicht alle Antworten ließen sich eindeutig zuordnen, da Ortsnamen aus der in fünfzig Jahren verblassten Erinnerung wiedergegeben wurden, teilweise wurden Namen der Bauern genannt oder Höfe beschrieben. Fast alle landwirtschaftlichen Betriebe beschäftigten Zwangsarbeiter, der Bürgermeister meinte aber, dort hätten die Zwangsarbeiter häufig noch einigermaßen erträgliche Verhältnisse vorgefunden.
Die Industriearbeiter waren im wesentlichen in der Carlshütte beschäftigt, die zwar in den Fragebögen zu Rendsburg gezählt wird, in Wirklichkeit aber zu Büdelsdorf und damit dem Kreisgebiet gehört. Die nächstgrößere Gruppe war auf den Werften beschäftigt. Zwangsarbeiter aus dem öffentlichen Sektor nennen die Stadtwerke, die Müllabfuhr, oder aber auch die Eisenbahn als Arbeitgeber. Wenn Zwangsarbeiter beim Reparieren von Gleisen eingesetzt wurden, sind die örtlich nicht eindeutig zuzuordnen, weil der Einsatzort häufig wechselte. Soweit Zwangsarbeiter in Haushalten und Kleinbetrieben beschäftigt waren, handelt es sich meistens um Einzelpersonen.
Insgesamt zeigt sich Bürgermeister Teucher sehr bewegt von den übersetzten Antworten. Ihm war aufgefallen, dass die Betroffenen selbst oft von "Sklaverei" sprachen, aber auch, dass viele sich für das Interesse bedankten und betonten, sie wollten mit ihren Informationen dazu beitragen, dass so etwas nie wieder geschähe. Er zeigte sich auch erstaunt, dass nur aus einer Antwort Verbitterung und Hass deutlich wurde, vermutlich hatte er doch erheblich mehr Vorwürfe befürchtet.

Weitere Planung

Jetzt plant die Stadt, die alle Antworten im Stadtarchiv verwahrt, die Einrichtung einer ABM-Stelle. Damit sollen alle zugeschickten Antworten ausgewertet werden, innerhalb eines Jahres soll eine Broschüre erscheinen und eine Ausstellung hergestellt werden.
Es scheint, so wurde beim Pressegespräch deutlich, keine echte Zusammenarbeit mit dem Kreis oder einzelnen Kommunen der Umgebung zu geben - der Bürgermeister betonte nur, Informationen zur Ausstellung von Bescheinigungen seien an Nachbargemeinden selbstverständlich sofort weitergegeben worden. Allerdings würde das gesammelte Material nicht herausgegeben, da die Stadt Rendsburg alle Kosten getragen habe, um es zu sammeln, und insofern auch das Recht der Erstveröffentlichung in Form von Broschüre und Ausstellung habe.

Reinhard Pohl

"Deutschland hat mein Leben kaputt gemacht"

Eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus Shitomir/Ukraine schickte folgende Antworten auf den Fragebogen der Stadt Rendsburg:

Wann und von wem wurden Sie aufgegriffen?

Am 7. August 1943 wurde ich nachts von zwei deutschen Soldaten und einem Polizisten geweckt. Meiner Mutter und drei kleinen Schwestern wurde befohlen, zu Hause zu bleiben; ich sollte ins Auto steigen. Man gab mir keine Möglichkeit, irgendwelche Sachen zu packen. Im Auto saßen schon andere Menschen, wir wurden zur Schule am Bahnhof der Stadt Shitomir gebracht. Drei Tage einschließlich 10. August verbrachten wir dort ohne Essen, bewacht im Raum von der Polizei, von draußen von deutschen Soldaten. Nach drei Tagen brachte man uns nach Shitomir, wo wir in den Güterzug einsteigen mussten.

Wie sind Sie nach Rendsburg gekommen?

Im Wagen waren bis 50 Menschen in verschiedenem Alter, da waren junge Leute, Mütter mit Kinder, alte Männer. Man konnte sich weder hinlegen noch setzen. Ein Ritz im Wagenboden war unsere Toilette, manchmal musste man sehr lange warten, denn viele hatten Durchfall. Ich hatte meine Tage, furchtbare Bauchschmerzen. Meine Beine waren blutig, von hygienischen Mitteln konnte man nicht mal träumen. Ein alter Mann riss aus Mitleid einen Ärmel von seinem Hemd ab und gab ihn mir. Die Kinder schrien, Mütter weinten, die Greise stöhnten - das war die Hölle, ein schrecklicher Alptraum. Der Zug brachte uns aber immer weiter weg von der Heimat. Im Wald bei Schepetowka hielt er an, und wir durften raus. Da pflückte ich Gras, um mich zu reinigen. Als der Zug den Ort Peremischel erreichte, bekamen wir die Möglichkeit, uns zu waschen, man hat unsere lange Zöpfe abgeschnitten, es wurde eine Desinfektion gegen Läuse durchgeführt. Danach wurden wir mit dem Zug nach Rendsburg transportiert.

In welcher Zeit haben Sie Zwangsarbeiten verrichtet?

Im Lager fotographierte man uns, jeder bekam ein Brustabzeichen mit dem Wort "OST", das man niemals abnehmen durfte. Wir waren keine Menschen mehr, nur noch ein Abzeichen mit diesem Wort "OST". Die Zwangsarbeiten habe ich ab Juli 1943 bis Mai I945 verrichtet.

Welche Arbeit haben Sie verrichtet? Bei wem?

Am Anfang arbeitete ich im Tiefbau, mit Steinen und Sand. Später als Dienerin beim (***). Meine Aufgaben waren: bügeln, waschen, stopfen, heizen, putzen, die Hühner und Ziegen versorgen, die Gäste empfangen (es gab immer sehr viele Gäste).

Wo waren Sie untergebracht und wie waren Ihre Lebensverhältnisse?

Im Lager schliefen wir in harten Betten, als Bettwäsche hatte jeder nur eine alte Decke. Die Beziehungen unter den Gefangenen, die aus verschiedenen Ländern kamen, waren sehr herzlich, freundlich, alle waren sehr hilfsbereit. Die Nationalität und die Herkunft waren nicht wichtig in unseren Beziehungen. Die Angestellten behandelten uns wie Vieh. Ich erinnere mich aber mein ganzes Leben lang an einen alten Aufseher, der mit mir einmal sein Mittagessen teilte. Er gab mir ein Stück Brot und Fleisch aus der Dose, wer weiß, vielleicht hat er mich an diesem Tag vom Sterben gerettet. An diesen Menschen denke ich immer mit Dankbarkeit und vergesse ihn nie.
Beim (***) wurde ich gut behandelt, der Chauffeur und der Gärtner sahen in mir einen Menschen, und das war sehr wichtig für mich.

Wie wurden Sie ernährt und gekleidet, wie waren die hygienischen Verhältnisse bzw. die medizinische Versorgung?

Im Lager haben wir zum Frühstück Suppe bekommen, das Mittagessen bestand aus 300 Gramm aufgeweichtem Brot, das ganz nass war, zum Abendbrot gab es zwei angefaulte Kartoffeln oder Kraut. Es gab keine medizinische Versorgung, morgens wurden die Toten in ihren Bettdecken weggebracht. Ich hatte eine Darm- und Magenentzündung, musste sehr leiden und dachte oft an den Tod.
Beim (***) hatte ich ein eigenes Zimmer, brauchte nicht zu hungern, hatte ein schwarzes Kleid mit einem weißen Kragen für den Gästeempfang, sonst trug ich die Lagerkleidung.

Wie lang war Ihr Arbeitstag? Hatten Sie eine regelmäßige Arbeitszeit oder haben Sie Schichtarbeit geleistet? Hatten Sie Urlaub? Wie haben Sie Ihre Freizeit verbracht? Hatten Sie die Möglichkeit, Briefe nach Hause zu schreiben?

Mein Arbeitstag im Lager dauerte von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr mit einer Mittagspause. Es gab keine andere Schichten. In unserer Freizeit abends durften wir uns draußen mit Freunden treffen. Ich war mit vielen Leuten aus Polen, Frankreich, Spanien befreundet.
Beim (***) arbeitete ich von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr ohne Pausen, freien Wochenenden oder Urlaub. Wenn ich krank war, habe ich es mir nicht ansehen lassen, weil man mir drohte, mich ins Lager zurückzuschicken. Das Lager war für mich ein Alptraum.

Wurden Sie für Ihre Arbeit entlohnt?

Ich wurde für meine Arbeit nicht entlohnt.

Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Arbeitern und zur deutschen Bevölkerung?

Das Verhältnis zu den anderen Arbeitern und zur deutschen Bevölkerung war freundschaftlich, ich hatte sogar eine Möglichkeit, mit Hilfe der anderen Arbeiter etwas Essen für die Hungrigen im Lager zu sammeln. Die Arbeiter, besonders der Chauffeur und der Gärtner, waren sehr nett zu mir, die Tochter des Hauses war freundlich.
Die Deutschen sind ein ehrliches, ordnungsliebendes Volk, dessen Soldaten aber für Gemeinheit, Brutalität und unmenschliches Verhältnis zu den slawischen Völkern ausgebildet waren.

Gab es irgendeine Form von Widerstand?

[Keine Antwort.]

Wie verlief die Befreiung und Ihre Rückkehr in die Heimat? Welche Folgen hatten die Jahre der Zwangsarbeit für Ihr weiteres Leben? Was bedeutet heute diese Zeit für Sie?

Wir wurden von den Engländern befreit. Sie schlugen uns vor, nach England zu gehen und beim Aufbau des vom Krieg zerstörten Landes zu helfen. Man sagte uns, dass wir in Russland wegen Verrats nach Sibirien verschleppt würden. Als die Russen kamen, forderten sie auf, ins Lager zurückzukehren. Viele sind nach Frankreich oder Holland geflohen. Ich wünschte mir nur noch, in meine Heimat, wo ich meinen Geliebten hinterlassen habe, zurückzukehren. Ich glaubte an ein Wiedersehen, er war aber im Krieg gefallen. Zwei Monate lebten wir im Lager, aßen Borschtsch und Brei. Die jungen Männer wurden in die Armee einberufen, alte Leute durften nach Hause, wir mussten die Getreide- und Kartoffelernte einbringen. Ich arbeitete in Rostock und Stettin, wir lebten in Ställen, arbeiteten von früh bis spät in die Nacht. Die Deutschen verachteten uns und behandelten uns sehr schlecht, für die Russen waren wir Verräter.
Wenn es den Krieg mit Deutschland nicht geben würde, hätte ich die Möglichkeit zum Lernen gehabt, niemand hätte mich "deutsche Hure" genannt. Deutschland hat mein Leben kaputt gemacht. Ich habe seit meiner Jugend Hypertonie und viele andere Krankheiten, hatte sogar schon einen Herzinfakt. Deutschland raubte mir meine Jugend, meine Liebe, meine Gesundheit: Ich denke auch heute noch mit Hass an diese Zeiten, der Anblick der deutschen Uniform in Filmen macht mich krank, früher wurde ich sogar bewusstlos. Ich hasse die deutsche Sprache, obwohl ich das deutsche Volk für ehrlich und ordentlich halte. Man hat ihnen Hass und Gemeinheit im Verhalten zu uns beigebracht, die Sünde liegt auf den Deutschen und ihren Kindern. Leider!

Besitzen Sie Unterlagen (Dokumente, Arbeitspapiere, Fotos, Zeichnungen), die Sie uns zur Verfügung stellen könnten? Vervielfältigungskosten erstatten wir Ihnen oder senden die Originale zurück.

Alles was mich an den Krieg erinnerte, habe ich verbrannt.
29.06.2000 (Unterschrift)



Der Brief wurde von der Tochter zugeschickt: "Mein Name ist (...), ich bin Ärztin, arbeite im kardiologischen Zentrum in Kiew. Meine Mutter erzählte viel von diesen schweren Zeiten. Meine Tochter besucht eine Schule, die auf die deutsche Sprache spezialisiert ist, und einen deutschen Sprachkursus. Sie träumt vom Studium in der Uni, interessiert sich für Romano-Germanistik. Das, was damals geschehen ist, sehen wir schon anders. Ich und meine Tochter möchten sehr gern Rendsburg besuchen, wo unsere Oma und Mutter gearbeitet hat. Es freut uns, dass Sie an unsere Eltern gedacht haben. Besuchen Sie uns in Kiew, es ist eine sehr schöne Stadt mit vielen historischen Sehenswürdigkeiten, uns wird die Freundschaft mit Ihnen sehr freuen. Unsere Adresse: (...)."

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