(Gegenwind 128, Mai 1999)

 

Der Judenmord im Reichskommissariat Ostland

Ein weitgehend unbekanntes Kapitel schleswig-holsteinischer Geschichte stellt die Zeit als "Kolonialmacht" dar: Von 1941 bis 1944 wurde das besetzte "Reichskommissariat Ostland" im wesentlichen von Schleswig-Holsteinern verwaltet. Diese "Verwaltung" umfasste aber weit mehr, als dieses Wort aussagt: Im Reichskommissariat Ostland fand ein unvorstellbarer Massenmord statt. Im Rahmen der Ausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht" referierte Prof. Dr. Uwe Danker am 9. Februar 1999 im Landeshaus über den Judenmord im Reichskommissariat Ostland. Wir danken für die freundliche Erlaubnis, diesen Vortrag veröffentlichen zu dürfen.

Am 24.1.1958 vernimmt ein Lübecker Staatsanwalt den Versicherungsvertreter Hans Gewecke, zu dieser Zeit wohnhaft in Oldesloe/Holstein. Es ist der ehemalige NSDAP-Kreisleiter von Lauenburg, als "Alter Kämpfer" von 1931 bis 1945 in dieser Funktion. Und er steht - mal wieder und nicht zum letzten Mal - unter Mordverdacht. Unter anderem gibt Gewecke in bemerkenswerter Wortwahl zu Protokoll: "Ich versichere hier, dass ich nicht ein einziges Mal zur Beseitigung eines Juden angestiftet oder die Beseitigung eines Juden mit vorbereitet oder an der Beseitigung eines Juden selbst teilgenommen habe." Die Vorhaltungen des Staatsanwalts beziehen sich nicht auf die schleswig-holsteinische Kreisleiterarbeit des Beschuldigten, sondern auf seine Tätigkeit als Gebietskommissar im litauischen Schaulen. Vergleichbar mit der Rolle eines Landrats hatte Gewecke in den Jahren 1941 bis 1944 hier die sogenannte Zivilverwaltung geleitet, dabei neben deutschem und litauischem Personal auch ständig ca. 10 "jüdische Staatsangehörige", wie er sich jetzt, 1958, ausdrückt "für Botengänge beschäftigt", die abends in das errichtete Getto von Schaulen zurückkehren mussten. "Der 'Oberjude', wenn ich so sagen darf, war ein gewisser Friedmann", sagt Gewecke weiter aus. Eben diesen soll er ermordet haben, wie aus einer beiläufig gefallenen Äußerung der Gattin Käthe Gewecke über die Tötung "ihres früheren Hausjuden" folgte. Friedmanns mutmaßlicher Tod und weitere einzelne Tötungsfälle bilden die Grundlage der Ermittlungen gegen Gewecke. Ehemalige Mitarbeiter aus Schaulen werden vernommen und entlasten den Beschuldigten zum Teil mit beachtlichen, keineswegs schuldbeladenen Formulierungen jetzt, 13 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft: "Ob dieses Faktotum nun Max oder Jacob mit Vornamen hieß, weiß ich nicht", führt der (aktive) Polizeiobermeister Neumann aus. Und der Zeuge Oberamtsrichter Dr. Haferkorn lässt sich ein: "Rein gefühlsmäßig möchte ich sagen, dass Gewecke kein wilder PG war und sich Übergriffe nicht erlaubt hat.... Ich habe nichts über Massenerschießungen von Juden im Raume Schaulen gehört." Regierungsrat a.D. Dr. Günther schließlich teilt mit: "Ich kann mich auch daran erinnern, dass kurz vor dem Anrücken der Russen noch Abtransporte der Juden erfolgten, denn die Juden legten keinen Wert darauf, in die Hände der Russen zu fallen." - Eine wahrlich eigenartige sprachliche Umschreibung der jüdischen Todesmärsche der letzten Kriegsmonate!

Ich wähle einen zweiten Einstieg: Im lettischen Riga fand ich vor einem Jahr unter anderem ein Dokument, einen Bericht des in das lettische Libau abgestellten Gebietskommissars und Verwaltungsjuristen Alnor, der am 11.10.1941 schrieb: "Ein Moment der Unruhe waren die erneut aufgenommenen zahlreichen Judenerschießungen in der letzten Woche. In den Landgebieten und kleinen Landtstädten sind sämtliche Juden liquidiert worden, in Libau selbst m.W. etwa 470. Es handelt sich durchweg um Frauen und Kinder. ... Gerade die Erschießung der Frauen und kleinen Kinder, die z.B. schreiend zu den Exekutionsplätzen geführt worden sind, hat das allgemeine Entsetzen erreicht.... Ich bin der Auffassung, dass sich dies eines Tages als ein schwerer Fehler erweisen wird. Es sei denn, dass man alle dabei mitwirkenden Elemente auch anschließend liquidiert. Alnor." - Dieser Gebietskommissar Alnor wird schon 1950 Landrat in Segeberg, und er ist nicht der einzige mit Ostlanderfahrung, der in unserem Land Zukunft haben würde.

Mein Thema führt Sie auf ein Feld sehr eigenartiger Verwaltungstätigkeit, in die sogenannte deutsche Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion in den Jahren 1941 bis 1944. Hierher ließen sich neben NSDAP-Größen zahlreiche normale Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes abordnen, der Karriere willen, auch um der Frontbewährung zu entgehen. Und sie würden später noch 'cooler' als Wehrmachtsangehörige mit Erfolg behaupten, dort hätten sie verwaltet, normal gearbeitet, seien sie 'sauber geblieben'. Die Legende der sauberen Zivilverwaltung im Osten bildet das Thema dieses Artikels. Und zwar auf zwei Ebenen:

Ich werde bestimmten Fragen nachgehen: Fragen nach der Beteiligung und Rolle der Zivilverwaltungen im Geschehen des Holocaust in den besetzten sowjetischen Gebieten, nach der persönlichen Machtfülle und deren individueller Wahrnehmung durch Verwaltungsangehörige, nach dem späteren staatsanwaltschaftlichen Umgang mit Verdachtsmomenten - im Beispiel Gewecke, das ich mehrfach aufrufen werde, im Jahr 1958, dem Jahr des Beschlusses zur Gründung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg" - auch Fragen nach Entlastungsstrategien Beschuldigter, nach der zeitgenössischen Diktion im Umgang mit nationalsozialistischen Gewalttaten, nach dem Wissensstand über den Judenmord, schließlich nach der öffentlichen Wahrnehmung des Holocaust in den langen sechziger Jahren.

Es geht mir auch um die Frage, ob und wann es in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte eine Chance gegeben hat, die Rolle der Zivilverwaltung öffentlichkeitswirksam zu durchleuchten. Ich konzentriere mich deshalb ausdrücklich und ohne Ausnahme auf den Erkenntnisstand der späten sechziger Jahre. Die These ist, dass 1971 ein strafrechtlicher und auch öffentlichkeitswirksamer Durchbruch möglich und wahrscheinlich gewesen wäre, wenn er nicht, ähnlich wie beim Komplex des Reichssicherheitshauptamtes, durch die Rechtsreformgesetzgebung der Großen Koalition - ohne diese Absicht - hinfällig geworden wäre.

Das Reichskommissariat Ostland

Das "Reichskommissariat Ostland" war 1941 im Rahmen des Krieges gegen die Sowjetunion aus den besetzten baltischen Staaten Lettland, Litauen, Estland und (bis 1943) wesentlichen Teilen Weißrusslands - von nationalsozialistischen Experten "Weißruthenien" benannt - gebildet worden. Auf Vorschlag seines Freundes, des NS-Ideologen und frisch ernannten "Ministers für die besetzten Ostgebiete" Rosenberg, war Schleswig-Holsteins NSDAP-Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse am 17. Juli 1941 von Hitler - trotz Bedenken Hitlers - zusätzlich mit dem Amt des Reichskommissars im besetzten "Ostland" betraut worden. Und mit ihrem Gauleiter waren sie in die Ferne gereist: zahlreiche Fachkräfte aus schleswig-holsteinischen Verwaltungen und "Alte Kämpfer" aus der Provinz. Denn Lohse setzte auf persönliche Kontakte und seine Gefolgschaft, insbesondere in seinem näheren Umfeld im Reichskommissariat. Allein mindestens elf der mächtigen Gebietskommissare stammten aus seinem Gau; schließlich besetzten sieben schleswig-holsteinische Landräte und zehn Kreisleiter Schlüsselpositionen in der Zentralverwaltung in Riga oder bildeten die personellen Spitzen der Kreise. Gauamtsleiter Fründt wie der ehemalige Kieler NS-Studentenführer Burmeister gingen mit in die Zentrale in Riga, Lübecks Oberbürgermeister Drechsler wurde Generalkommissar von Lettland, der Lübecker Kreisleiter Schröder dort der SS- und Polizeiführer. Flensburgs Polizeipräsident Möller avancierte zum SS- und Polizeiführer von Estland. Schließlich waren mit von der Partie die späteren bundesrepublikanischen Landräte Alnor (Segeberg), Walter Schröder (Flensburg-Land) und Hans Matthiessen (Itzehoe) sowie zahlreiche weitere Verwaltungskräfte. Denn die mittleren Chargen verhielten sich wie ihr Chef: Sie nahmen eigenes Verwaltungspersonal aus der Heimat mit, der oben vorgestellte Gewecke allein fünf Mitarbeiter aus dem heimatlichen Mölln. Bis zu seiner Flucht vor der heranrückenden Front im Frühherbst 1944 blieb Hinrich Lohse Chef der "Zivilverwaltung" einer Region mit riesiger geographischer Ausdehnung und - in Weißrussland, Litauen und Lettland - mit einem erheblichen jüdischen Bevölkerungsanteil. Die statistische Teilbilanz des Völkermordens in dieser Region: Von mindestens 500.000 - es gibt inzwischen genauere Schätzungen - im Gebiet des Reichskommissariats 1941 angetroffenen, rassisch definierten Juden lebten 1945 nach der Befreiung keine 10.000 mehr. Und viele zehntausend deutscher "Reichsjuden" - unter ihnen ausgerechnet auch die letzten schleswig-holsteinischen - wurden hierher deportiert. Sie fanden ebenfalls fast alle den gewaltsamen Tod. Sie wurden zum größten Teil systematisch erschossen oder kamen in der Zwangsarbeit um. Direkte und öffentliche, unübersehbare Gewalt, so wie von Alnor beschrieben, war das Kennzeichen des Judenmordes in dieser Region.

Die Zivilverwalter reisten im Winter 1944/45 heim ins Reich. In aller Ruhe setzen sie ihre Verwaltungs- und Justizkarrieren fort, bis in die Regierung Adenauer hinein übrigens. Ihre Legende der Unschuld und Sauberkeit lebte vom unbestreitbaren Gegenstück der Einsatzgruppen, auch von äußerst dreisten und plumpen Lügen. Und sie profitierten von der Rahmenhandlung des Kalten Krieges: Der Eiserne Vorhang und der zur Basisstruktur der Bundesrepublik gehörige Antikommunismus verhinderten für Jahrzehnte den Blick auf den 'Krieg im Osten'; der Kampf gegen den Bolschewismus schien nachträglich gerechtfertigt, das Geschehen weit entfernt. Eine auch nur im Ansatz vertrauensvolle Zusammenarbeit der Strafverfolgung über die Blockgrenzen hinweg war weder gewünscht noch möglich.

Blockgrenze als Grenze der Strafverfolgung

Diese Grenze schützte Tausende vor Strafverfolgung - und damit auch vor der innerfamiliären bzw. gesellschaftlichen Rechtfertigung einschließlich der damit naturgemäß verbundenen Erkenntnisprozesse. Mit der Etablierung der Zentralen Stelle der Landesjustizbehörden in Ludwigsburg begann erst 1959 um ein Jahrzehnt zu spät die systematische staatsanwaltliche, ex officio unternommene Vorermittlung in Sachen NS-Gewaltverbrechen. Während der Auschwitzprozess immerhin die bis dahin verdrängten Dimensionen, Mechanismen und Formen des NS-Massenmordes an den europäischen Juden mit großer öffentlicher Breitenwirkung zum Thema machte und offenlegte, blieb das massenhafte und direkte Tötungsgeschehen jenseits der Gaskammern weiterhin ziemlich außerhalb des öffentlichen Blickes. Die Breitenwirkung der Einsatzgruppenprozesse in Ulm und Koblenz war kaum geringer; aber in der öffentlichen Wahrnehmung blieben die Erschießungen die Tätigkeit ausschließlich von SS-Formationen, während schon die integrative, ebenso aktive Rolle von 'normalen' Polizisten kaum wahrgenommen wurde.

Zeitgeschichtlich Interessierten konnten in den sechziger Jahren die Dimensionen und die weit über gekennzeichneten Tätergruppen hinaus vorhandenen Verstrickungen in das Tötungsgeschehen zugänglich und teilweise bekannt sein. Wolfgang Schefflers "Judenverfolgung im Dritten Reich", 1964 in breiter Auflage vertrieben und auf die allernötigste Mitteilung von Fakten beschränkt, enthielt beispielsweise bereits alle wesentlichen bis in heutige Debatten hineintragenden Hinweise. So benannte er die aktive Rolle der 'normalen' Polizisten am Mordgeschehen, über den Einzelfall hinausgehende Tötungsaktivitäten aus der Wehrmacht heraus, auch die Mitwirkung der sogenannten Zivilverwaltungen im Osten, und selbst der Hinweis auf den hohen Bildungsgrad der promovierten Juristen im Reichssicherheitshauptamt findet sich. Dennoch blieb das unerschütterliche Bild der 'normalen Deutschen', sie hätten von all dem nichts gewusst. Im Schatten dieser generellen Legende bestand auch die Schutzlegende der Mittäter, die alles besser wussten, fort: Derjenigen, die als Angehörige der Wehrmacht, der Zivilverwaltungen und der Polizei zeitweise im Osten stationiert gewesen waren und zumindest miterlebt hatten, oft aber auch teilweise mitverantwortet hatten, was an systematischen Massenmorden jenseits der Gaskammern geschah. Die Verstrickung der Wehrmacht in den Holocaust und weitere NS-Gewaltverbrechen befindet sich jetzt dank dieser Ausstellung - und nicht dank der seit 30 Jahren bekannten Forschungsergebnisse über die Rolle der Wehrmacht - im öffentlichen Bewusstsein. Die Verstrickung der Zivilverwaltungen in Polen sowie den beiden Reichskommissariaten ist ebenso evident, jedoch bis heute kaum in die kollektive Wahrnehmung gerückt. Obwohl es mehrere hundert Ermittlungsverfahren und - bedeutend weniger Einzelprozesse gegen Angehörige der Besatzungsverwaltungen gegeben hat, und obwohl es seit den fünfziger Jahren wenigstens einige einschlägige wissenschaftliche Veröffentlichungen mit Mitteilungen zur Mitwirkung der Besatzungsverwaltung am Holocaust gibt, fehlte der zentrale öffentliche Anlass für die Debatte. Der große Gerichtsprozess gegen Spitzen der Zivilverwaltungsbehörden hat nicht stattgefunden. Er hätte in das kollektive Geschichtsbild einwirken, es verändern können.

Der Versuch der Strafverfolgung

1968 schloss die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg eine Dokumentation über "Die deutsche Zivilverwaltung in den ehemaligen besetzten Ostgebieten (UdSSR)" ab. Mehrere Referate hatten jahrelang an dem Themenkomplex deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion gearbeitet. Gegliedert in einen Text- und Urkundenband wurde im März 1968 eine - betont vorläufige - Zusammenfassung aller bisher erlangten Kenntnisse über Strukturen und ggf. noch verfolgbare NS-Verbrechen der beiden Reichskommissariate Ostland und Ukraine vorgelegt. Der Urkundenband umfasst 639 Blätter, der Darstellungsteil ca. 150. Die Dokumentation sollte justizintern Staatsanwaltschaften und Gerichte möglichst umfassend alle unter dem Strafverfolgungsaspekt relevanten Hintergrundinformationen und Dokumente gegen ehemalige Angehörige der Zivilverwaltungen bieten.

Wenige Monate später, im Juni 1968 übermittelte die Zentrale Stelle dem schleswig-holsteinischen Generalstaatsanwalt das Vorermittlungsverfahren gegen noch lebende Spitzen des Reichskommissariats Ostland mit der Bitte "um Übernahme des Verfahrens", da der Hauptbeschuldigte, Rechtsanwalt Theodor Fründt, zeitweise Lohses Stellvertreter im Reichskommissariat, seinen Wohnsitz in Kiel hatte. Lohse selbst war bereits 1964 verstorben, aber drei der vier ehemaligen Hauptabteilungsleiter des Reichskommissariats lebten zu dieser Zeit wieder in Schleswig-Holstein, neben Theodor Fründt der Bauer Martin Matthiessen in Meldorf, der Präsident der Wasser- und Schiffahrtsdirektion in Kiel a.D. Johann Lorenzen in Kiel; lediglich Ministerialrat a.D. Wilhelm Burmeister, nach Fründt der Vertreter des Reichskommissars, residierte jetzt, 1968, in Westberlin. Außerdem als potentiell Beschuldigte in Schleswig-Holstein greifbar: der aktive Ministerialdirektor Heinz Wichmann, ehemals persönlicher Referent Lohses in Riga, und der ehemalige Leiter der Chefabteilung im Reichskommissariat, jetzt Regierungsdirektor Karl Eger in Kiel.

Wie man es auch zeitlich einordnet oder dreht und wendet: das Reichskommissariat Ostland ist auch als Teil der Geschichte Schleswig-Holsteins zu interpretieren.

10 Aktenbände gingen an die Kieler Staatsanwaltschaft. NSG-Staatsanwalt Lorenzen in Kiel setzte die Ermittlungen drei Jahre akribisch wie aufwendig fort - bis das Verfahren 1971 schließlich eingestellt werden musste. Die zielgerichtete Fragestellung der bearbeitenden Staatsanwälte, Hinweise auf mutmaßlich strafrechtlich relevante Handlungen der Behörden des Reichskommissariats an sich, die Frage "nach den abstrakten Möglichkeiten einer Beteiligung dieser Behörde an den Judenvernichtungen", deckt sich mit der fachwissenschaftlichen Frage nach der Rolle der Zivilbesatzungsbehörden im Geschehen des Holocaust.

Die Staatsanwälte dokumentierten zunächst Art und Ablauf der militärischen Besetzung sowjetischer Gebiete im Anschluss an den deutschen Angriff vom 22. Juni 1941 und den Aufbau der am Beginn errichteten und den frontnahen Gebieten erhaltenen Militärverwaltungen der besetzten Gebiete. In diesem Teil der Darstellung finden sich übrigens auch Hinweise auf eine aktive Beteiligung von Wehrmachtseinheiten am Judenmord: "Urkunden zeigen, dass sich einzelne Wehrmachtseinheiten auch tatsächlich in erheblichem Umfang an der Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung beteiligten." Es handele sich um beiläufig gefundene Dokumente, auf die man zumindest hinweisen wolle. Nach der Analyse der Zentralen Stelle war die eigentliche Sicherheitspolizei vor Ort "in erster Linie verantwortlich" für den systematisch vollendeten Judenmord ab Ende 1941 in der Sowjetunion. Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei-Ostland in Riga sowie die Behörden der Kommandeure der Sicherheitspolizei in den Generalbezirken des Reichskommissariats waren aus der stationär gewordenen Einsatzgruppe A hervorgegangen und gliederten sich in die politische Polizei (Gestapo) und die Kriminalpolizei sowie eine kleine Nachrichten- und Abwehrorganisation.

Der Behördenaufbau in der Zivilverwaltung, der bezogen auf Abteilungsebenen und Zuständigkeiten indes mehreren Wandlungen unterworfen war, gab sich als schlichte und hierarchische Aufsichtsverwaltung: Unter dem "Reichsminister für die besetzten Ostgebiete" Rosenberg in Berlin - einer im Kompetenzwirrwarr des NS-Herrschaftsapparates als schwach geltende und ständig um Kompetenzerlangung bemühte Behörde - amtierte als Reichskommissar Hinrich Lohse, der von Mitte August 1941 bis zu seiner Flucht im August 1944 in Riga residierte. Für die baltischen Staaten sowie Weißruthenien wurden Generalkommissare ernannt: Im litauischen Kowno saß ab August 1941 Generalkommissar Dr. von Renteln, im weißrussischen Minsk von September1941 bis zu seiner Tötung durch eine Partisanin im September 1943 Generalkommissar Kube, im estnischen Reval ab Dezember 1941 Generalkommissar Litzmann und in Riga als Generalkommissar von Lettland Dr. Dressler. Unterhalb dieser mittleren lnstanz der Generalkommissare agierten die Gebietskommissare mit Stäben von jeweils maximal 10 deutschen Beamten und Angestellten und ebenfalls ca. 10 landwirtschaftlichen Fachleuten. lnsgesamt bestand die Zivilverwaltung im Reichskommissariat Ostland offenbar aus knapp 1000 deutschen Bediensteten, nämlich aus dem Reich abgeordneten Angehörigen des öffentlichen Dienstes von der Stenotypistin bis zum Spitzenbeamten wie den Landräten gleichzusetzende Gebietskommissaren bzw. Hauptabteilungsleitern in der Zentrale in Riga. Die Zivilverwalter trugen eine eigens für sie geschaffene gelb-braune Uniform, die oft zur Verwechslung mit SA-Angehörigen führte und ihnen den Spitznamen "Goldfasane" einbrachte.

Kompetenzen bewusst unklar

Der Aufgabenkanon der Zivilverwaltung erstreckte sich auf die Ausrichtung von Wirtschaft und Landwirtschaft auf Wehrmacht und deutsche Kriegswirtschaft, auf die Auflösung der einheimischen politischen Organisationen, die Überwachung der Zivilbevölkerung, die Heranziehung von Bevölkerungsgruppen zur Zwangsarbeit, später auch die Rekrutierung zum Kriegseinsatz, schließlich (eingeschränkt) polizeiliche Maßnahmen und - immer wieder diskutierte und modifizierte - Planungen für eine unterschiedlich angelegte Zukunft der Vasallenvölker unter germanischer Herrschaft. Dazu gehörte auch die von Generalkommissariat zu Generalkommissariat sehr verschieden angelegte Kooperation mit zugelassenen landeseigenen Verwaltungsbehörden in den baltischen Staaten.

Wie so oft im NS-Staat blieben Kompetenzen in den besetzten Gebieten bewusst unklar, widersprüchlich geregelt und umstritten, ein Aspekt, der für die Ermittlung strafrechtlicher Verantwortung und daher für die Staatsanwaltschaften ein besonderes Gewicht besaß. Zum einen gab es das militärische Hoheitsrecht der Wehrmachtsbefehlshaber, die über die unter Militärverwaltung stehenden Gebiete hinaus für die Sicherung des Nachschubs und die sogenannte Partisanenbekämpfung entlang der wesentlichen Verkehrswege ihre Kompetenzen auch im Reichskommissariat Ostland behielten. Die eigentliche Wirtschaftsverwaltung im Reichskommissariat oblag den Beauftragten für den Vierjahresplan, der Sonderbehörde Görings. Bezogen auf den Judenmord besaß besondere Relevanz die widersprüchlich geklärte Konkurrenz zwischen der Zivilverwaltung und dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler. Laut Führererlass vom 17.7.1941 war dem Reichskommissar der Höhere SS- und Polizeiführer für die polizeiliche Sicherung der neubesetzten Gebiete beigeordnet.

Während Lohse und seine Generalkommissare bis 1944 diese Beiordnung als Unterordnung interpretierten und immer wieder Vorstöße unternahmen, sie auch zu realisieren, verstand und definierte Himmler die SS- und Polizeiführer und deren Behörden als "persönliche Vertreter" seiner selbst und bezog sich auf seine alleinige Kompetenz im Bereich aller Fragen der "polizeilichen Sicherung". Hitler, mehrfach persönlich mit dieser Frage befasst, traf zwischen 1941 und 1944 keine eindeutige Entscheidung. De facto, und das wurde Lohse auch bedeutet, setzte sich Himmlers Apparat durch, wurde die Zivilverwaltung überspielt, ohne aber dass das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die Zivilverwaltung des Reichskommissariat ihre Rechtspositionen tatsächlich aufgaben. Das tatsächliche "polizeiliche Geschehen", das in einem, zumal im Osten besetzten Gebiet bedeutend weiter zu fassen war als im Reich - und den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung, den "Zigeunern" sowie der aus dem Reich hierher deportierten Juden einschloss -, spielte sich denn auch in der Grauzone zwischen den Verantwortlichkeiten ab: Man kooperierte und konkurrierte in den Besatzungsjahren im Reichskommissariat regional und individuell sehr verschieden.

Konkrete Verantwortung

Es gelang den Ermittlern sehr deutlich, die Verantwortung und Mitwirkung der Zivilverwaltungen am Holocaust aufzuzeigen und zu konkretisieren. Den Völkermord der direkt mordenden 'Sicherheitskräfte', der SS-, SD- und Polizeiangehörigen will ich nicht im einzelnen nachzeichnen. Sie kennen die Bilder der Massenerschießungen vor von den Opfern selbst ausgehobenen Massengräbern. Die Vernichtungsaktionen sind nicht abzählbar, sie wurden fortgesetzt - in Weißrussland ohnehin, in den baltischen Staaten durch den jeweils aktuellen Bedarf an Zwangsarbeitskräften und durch Deportationszugänge bis 1943 beeinflusst - bis in den Herbst 1944 und mit den Todesmärschen gen Westen vollendet. Der Prozess verlief uniform und 'geordnet': Erfassung, Entrechtung, Stigmatisierung durch Judensterne auf Brust und Rücken, Enteignung, Aussonderung zur vorläufigen Zwangsarbeit oder Tötung, Einweisung in geschaffene Gettos der großen Städte und schließlich immer wieder Massenerschießungen, in Weißrussland teilweise auch sogenannte Vergasungen in 'Möbelwagen'.

Der Zivilverwaltung kam dabei immer eine zentrale koordinierende Rolle zu: Sie definierte und erfasste Juden, sie errichtete üblicherweise die Gettos, sie regelte deren Versorgung und Infrastruktur, sie wies Gettoinsassen der Zwangsarbeit für die deutsche Wehrmacht, Wirtschaft und Verwaltung zu, sie konfiszierte, ordnete, erfasste und versandte die geraubten Vermögenswerte der jüdischen Bevölkerung, sie stellte Fuhrparks für Mordaktionen und bereitete Gettoräumungen vor. Ex-Gebietskommissar Gewecke erklärte 1958 vor dem Lübecker Staatsanwalt: "Meine Dienststelle hatte selbstverständlich mit der ordnungsgemäßen (!) Beschlagnahme und Erfassung jüdischen Vermögens zu tun. Dafür bestanden ganz bestimmte Anordnungen der obersten Führung.... Diese Gegenstände ... mussten danach ordnungsgemäß erfasst, genau listenmäßig aufgeführt und über die zuständigen Stellen in Richtung Reich - so möchte ich sagen abgeliefert werden." In derselben Vernehmung gestand er ein, dass im Rahmen der Gettoisierung der Juden "Angehörige des Gebietskommisariats ... bei dieser Aktion mitgeholfen haben, die Juden aus ihren Wohnungen in die Gettos zu überführen".

Insbesondere die in fast allen Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen auftauchende Schutzbehauptung, eine dienstliche Kenntnis der Judenvernichtung im Ostland habe man nicht erlangt, wird von den Staatsanwälten als erwiesenermaßen falsch entlarvt. Zahlreiche Dokumente widerlegten diese Schutzbehauptung in der Tat. Im Gegensatz zum Reich, wo Landräte als Chefs der Kreisordnungsbehörden und Kreispolizeien sich damit herausreden konnten, dass ihnen das finale Ziel der Judendiskriminierungen und der schließlichen Deportationen unbekannt geblieben sei, handelte es sich im Reichskommissariat Ostland um ein Tötungsgeschehen in aller Öffentlichkeit und "gleichsam vor den Augen der Zivilverwaltung", so dass aufgrund der Tatnähe jedes Bestreiten des Schicksals der Juden in der Sowjetunion aus dem Mund ehemaliger Angehöriger der Zivilverwaltung als dreiste Lüge angesehen werden muss.

Zunächst gehörte zum Kanon der Verstrickung der Verwaltungstätigkeit der deutschen Beamten die Umsetzung der vom Reichskommissar im August 1941 erlassenen "Vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Gebiet des Reichskommissariats Ostland". Das beinhaltete für die Gebietskommissare ganz konkret neben der Definition der Randgruppe Juden im Ostland deren Erfassung und Kennzeichnung durch gelbe Judensterne, Aufhebung ihrer Freizügigkeit, Einrichtung und Verwaltung der Gettos, Überführung der Verfolgten in die Gettos, Aufbau und Nutzung der sogenannten jüdischen Ältestenräte sowie die Beschlagnahme jüdischer Vermögen. Mit der Verwirklichung der Zwangsarbeitspflicht für Juden waren die Beamten der Zivilverwaltung zu direkten Herren über Leben und Tod der jüdischen Randgruppe gewachsen: Indem sie "bei der Absonderung und Auswahl der 'nützlichen' von den zur Arbeit nicht mehr benötigten Juden" tödliche Selektionen vornahmen - die durchweg von Beschuldigten später als Rettungs- ja sogar Widerstandsaktionen umgedeutet wurden -, machten sie sich zu unmittelbar Beteiligten am Holocaust. So berichtete der Gebietskommissar von Slonim, Erren, dem später in Hamburg tatsächlich der Prozess gemacht werden würde, am 25.1.1942: "... die jetzt vorhandenen ca. 7000 Juden in der Stadt Slonim sind sämtlich in den Arbeitsprozess eingespannt, arbeiten willig auf Grund ständiger Todesangst und werden im Frühjahr genauestens für eine weitere Verminderung überprüft werden...". Bekannt sind Schreiben des weißruthenischen Generalkommissars Kube, der beispielsweise am 10.7.1942 in einem Brief an Lohse in Rekurs auf einen Verwaltungserlass vom 15.Juni formulierte: "Ich trete der Auffassung bei, dass die Beibehaltung der jüdischen Facharbeiter bei ihrer Zahl in keinem Verhältnis zu den Nachteilen steht, die die jüdische Partisanenunterstützung mit sich bringt.... ich beabsichtige in Weißruthenien daher eine erneute nach strengsten Maßstäben durchgeführte Überprüfung der noch benötigten Bestände (!) an jüdischen Facharbeitern durchzuführen." Tatsächlich ordnete er in einem Geheimerlass am 10.7.1942 an seine Gebietskommissare an: "Ich bitte Sie im Einvernehmen mit dem Sicherheitsdienst daher ... alle volkswirtschaftlich nicht unbedingt nötigen jüdischen Facharbeiter auszusondern." Schon am 3. Dezember 1941 hatte Lohse in einem Erlass an die Generalkommissare dekretiert: "Für Schulung geeigneten (nichtjüdischen, U.D.) Nachwuchses ist beschleunigt Sorge zu tragen." - Derartiges Verhalten dokumentiert also eifrige Konsequenz in der zweiten, geordneten Phase des Judenmordes in dieser Region.

Verwaltungsidyll?

Mit ihrer Verstrickung konfrontiert, gelang es beschuldigten Gebietskommissaren später aber immer wieder, das Geschehen des Holocaust als vermeintliches Verwaltungsidyll darzustellen. Es sei beispielhaft für die eigenartige Diktion noch einmal aus den Vernehmungen Geweckes im Jahr 1958 zitiert: "Ich weiß, dass die Anweisungen zur Einrichtung dieser Gettos von höchster Stelle gekommen sind, und dass mit der Ausführung dieser Anordnungen der Sicherheitsdienst beauftragt worden war. Es war allein die Aufgabe des SD, die Gettos einzurichten, die Juden von ihren Wohnungen in das Getto zu überführen, die Aufsicht über die Gettos zu führen und die Juden politisch zu überwachen. Dagegen trifft es sicher zu, dass Angehörige des Gebietskommissariats, die ja, wie ich bereits angegeben habe, an der Erfassung des jüdischen Vermögens beteiligt gewesen waren, bei dieser Aktion auch geholfen haben, die Juden aus ihren Wohnungen in die Gettos zu überführen, denn sie hatten ja auf höhere Anordnung hin die Aufgabe, die Wertsachen der Juden zu erfassen und in ihren Besitz zu nehmen.... An der Versorgung der Juden im Getto war meine Dienststelle beteiligt. Die Versorgung geschah in der Weise - soweit ich mich erinnere -, dass von dem Ernährungsamt der Stadt Schaulen (litauische Verwaltung) Großbezugscheine zum Einkauf für die Bedarfsdeckung der jüdischen Bevölkerung im Getto gegeben wurden. In welcher Weise die Verwertung der Bezugscheine geschehen ist, darüber kann vermutlich der bereits genannte Zeuge Voß genaue Angaben machen. Meine Dienststelle hatte dann weiter die Aufgabe, den Arbeitseinsatz der jüdischen Arbeitskräfte zu regeln. Diese Regelung erfolgte durch den Leiter des Arbeitsamtes, den bereits von mir genannten Dr. Günther, bzw. dessen Mitarbeitern, die ja dem Gebietskommissariat unterstellt waren. Jüdische Arbeitskräfte wurden benötigt von der Flugplatzleitung in Schaulen, sonstigen Wehrmachtsbetrieben und Zivildienststellen, besonders für die Lederfabriken von Schaulen, die sich unmittelbar beim Ghetto befanden.... Das Arbeitsamt forderte dann meines Wissens den Judenrat des Gettos auf, für bestimmte Zwecke so und soviel Arbeitskräfte abzustellen. Diese wurden dann in Kolonnen zusammengestellt und marschierten gemeinsam an den jeweiligen Arbeitsplatz. Wie das im einzelnen gehandhabt wurde, weiß ich heute nicht mehr, weil der Arbeitseinsatz dieser Kolonnen in den Zuständigkeitsbereich des Arbeitsamtes, also Dr. Günther, fiel.... Es gibt natürlich keinen Zweifel darüber, dass die Juden hart behandelt worden sind. Ich bin auch der Meinung, dass eine Anweisung bestand, die den Juden verbot, Lebensmittel mit zurück ins Getto zu nehmen. Ich kann heute nicht mehr sagen, wer diese Anweisung erlassen hat. Es ist möglich, dass sie vom Gebietskommissariat ausgegangen ist, da wir auf höhere Anweisung hin ja dafür verantwortlich waren, dass die Rationen, die den Juden zugeteilt werden sollten, auch eingehalten wurden.... Ich verhehle nicht, dass ich meiner Erinnerung nach, zweimal, möglicherweise auch öfter, mich an Kontrollen dieser Arbeitskolonnen beteiligt habe. Es kam mir darauf an, nicht die Juden zu schikanieren, sondern festzustellen, ob die Behauptung, die Juden würden zusätzlich Lebensmittel mit sich führen, zutraf. Möglicherweise sind diese Kontrollen von den Juden als Schikane aufgefasst worden."

"Widerstand" gegen den Holocaust

In den Kontext derart schönfärberischer Selbstdarstellungen dieser Tätigkeit gehört das, was man die "Lohse-Legende" nennen muss: Die in allen Ermittlungsverfahren seit dem Nürnberger Prozess immer wieder vorgebrachte Behauptung, Reichskommissar Lohse und seine Mannen hätten gar "Widerstand" gegen den Holocaust ausgeübt. Es lässt sich tatsächlich belegen, dass Lohse per Erlass "die aktive Teilnahme von Amtsträgern der Ostverwaltung bei Exekutionen jeder Art" verboten hat. Darin heißt es allerdings offen und direkt: "Die Durchführung von Exekutionen, insbesondere bei der Liquidierung von Juden, ist Aufgabe der Sicherheitspolizei." Nicht Unterbinden, sondern Raushalten ist hier die Botschaft.

Zeugenaussagen und andere Dokumente sprechen jedoch in der Tat dafür, dass die Mordaktionen Lohse abstießen, beschäftigten, auch belasteten. Im November 1941 musste er sich seinem Minister gegenüber dafür rechtfertigen, eine Massenerschießung bei Libau, wo zu diesem Zeitpunkt der eingangs zitierte, spätere christdemokratische Landrat Dr. Alnor Gebietskommissar war, unterbunden zu haben: "Von Seiten des Reichssicherheitshauptamtes wird Beschwerde darüber geführt, dass der Reichskommissar Ostland Judenexekutionen in Libau untersagt habe. Ich ersuche in der betreffenden Angelegenheit um umgehenden Bericht." Lohse schrieb darauf: "Ich habe die wilden Judenexekutionen in Libau untersagt, weil sie in der Art ihrer Durchführung nicht zu verantworten waren. Ich bitte mich zu unterrichten, ob ihre Anfrage vom 31.10. als dahingehende Weisung aufzufassen ist, dass alle Juden im Ostland liquidiert werden sollen. Soll dies ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und wirtschaftliche Interessen (z.B. der der Wehrmacht an Facharbeitern in Rüstungsbetrieben) geschehen? Selbstverständlich ist die Reinigung des Ostlandes von Juden eine vordringliche Aufgabe; ihre Lösung muss aber mit den Notwendigkeiten der Kriegswirtschaft in Einklang gebracht werden." - Die Botschaft lautete also: jüdische Arbeitskräfte nutzen und keine wilden, unordentlichen Erschießungen. In der eigentlichen Vernichtungsabsicht demonstrierte Lohse keinen Dissens. Und obgleich er wohl tatsächlich, wie er immer wieder vorbrachte, in Berlin vorstellig wurde, um Einschränkungen der Mordaktionen zu erreichen, bleibt es bemerkenswert, dass ausgerechnet dieses Schreiben Lohse im westlichen Nachkriegsdeutschland so nachhaltig entlastete, dass niemals Anklage wegen seiner Rolle im Ostland erhoben wurde. Die lapidare Antwort auf dieses Papier erging am 18.12.1941: "In der Judenfrage dürfte inzwischen durch mündliche Besprechungen Klarheit geschaffen sein. Wirtschaftliche Belange sollen bei der Regelung des Problems grundsätzlich unberücksichtigt bleiben. Im übrigen wird gebeten, auftauchende Fragen unmittelbar mit dem höheren SS- und Polizeiführer zu regeln."

Lohse selbst brachte in den Vernehmungen immer wieder vor, dass er mit seinen Interventionen den Judenmord an sich hätte verhindern wollen, dieses aber unter den damaligen Verhältnissen nicht direkt hätte ausdrücken können. Daher hätte er wirtschaftliche Argumente vorgebracht. Der Einstellungsbeschluss der Kieler Staatsanwaltschaft neigte 1971 dieser entlastenden Selbsteinschätzung zu, weil der "provozierende Ton" in Lohses Schreiben vom November 1941 nahelege, dass er sein vorgesetztes Ministerium zu einer eindeutigen, den Judenmord ablehnenden Aussage bringen wollte. Aber: Lohses Interventionen waren derart halbherziger Natur, dass der Reichskommissar bereits wenige Tage später nichts gegen den buchstäblich vor seinen Augen stattfindenen Massenmord bei Riga unternahm: SS-Obergruppenführer Jeckeln hatte unmittelbar nach seiner Ankunft in Riga die weitgehende Räumung des Rigaer Gettos und die Ermordung von ca. 27.000 Juden angeordnet, die wenige Kilometer südöstlich Rigas in einem Waldgebiet am 30. November und am 7./9. Dezember 1941 ausgeführt wurde. Jeckeln sagte in seinem Prozess in Riga 1945/46 aus, dass Lohse ausdrücklich dem Massenmord zugestimmt habe, und ein Angehöriger seines Stabes wies darauf hin, dass Lohse selbst eine Exekution angesehen habe. Der Reichskommissar hatte am 7. Dezember 1941 tatsächlich der Massenerschießung bei Riga beigewohnt, wie er später ausfuhrte, um sich ein "eigenes Bild" zu machen. Sein persönlicher Referent wollte "aus seinem Verhalten" eine "Ablehnung dieser Maßnahmen" abgelesen haben. Angeblich, so Lohse und vereinzelte Zeugen, habe er daraufhin mit Jeckeln das Ende der "Judenaktionen" vereinbart, was angeblich auch tatsächlich geschehen sei. Eine Schutzbehauptung, die mit der anschließenden Wirklichkeit im Reichskommissariat nichts gemein hatte. Die freundliche Annahme der Kieler Staatsanwaltschaft lautete 1971, dass Lohse "resigniert hat und nur noch darauf bedacht gewesen ist, die Zivilverwaltung aus diesem Bereich herauszuhalten".

Resignative Stimmung, Hemmungen und Bedenken hielten aber den Reichskommissar keineswegs davon ab, in einem anderen Fall gnadenlos und machtvollkommen den Massenmord anzuordnen: Zeitlich genau zwischen den beiden Teilräumungen des Rigaer Gettos, also mitten im Mordgeschehen vor seinen Augen, erließ Lohse am 4. Dezember 1941 eine Anordnung, dass "die im Lande umherirrenden Zigeuner, da sie als Überträger ansteckender Krankheiten, insbesondere des Fleckfiebers, und als unzuverlässige Elemente, die weder die Anordnungen der deutschen Behörden befolgen, noch gewillt sind, nutzbringende Arbeit zu verrichten, in der Behandlung den Juden gleichzustellen sind." Auch Interventionen Lohses gegen im Oktober und November 1941 angekündigte und durchgeführte Transporte von mehr als 50.000 Juden aus dem Reichsgebiet nach Minsk und Riga, die ganz offensichtlich der finalen Massentötung dienten, wurden von ihm noch im November 194l und dann mehrfach 1942 ausdrücklich zurückgenommen: "Gegen Transporte aus dem Reich sind in Zukunft keine Einwände mehr zu erheben."

Zum Beispiel Gebietskommissar Carl

Betrachten wir ein zweites Beispiel: Der Gebietskommissar von Sluzk, Carl, NSDAP-Kreisleiter aus dem schleswig-holsteinischen Rendsburg, beschwerte sich Ende Oktober 1941 über eine Mordaktion des Polizeibataillons Nr. 11 aus Kauen. Der Generalkommissar von Weißruthenien, Kube, stellte daraufhin sogar Strafantrag gegen die beteiligten Polizeioffiziere und verlangte in einem Schreiben an Lohse, dass alles vermieden werden müsse, "um das Ansehen des Deutschen Reiches und seiner Organe vor der weißruthenischen Bevölkerung herabzusetzen." Carl und Kube störte ausdrücklich dreierlei: dass die Aktion gegen ihren Willen durchgeführt wurde, dass sie sich auch auf jüdische Zwangarbeitende erstreckte und dass es sich um ein "grausames Gemetzel" gehandelt habe.

Da sind sie wieder, die (einzigen) Kritikpunkte der Zivilverwalter am Massenmord, die jemals vorgebracht wurden. Gerade am Beispiel Kubes verdichtet sich die ganze Ambivalenz, Verzagtheit und Konsequenzferne, aber auch die Bandbreite der Gewissensbisse und Verhaltensformen der verstrickten Akteure: Der Generalkommissar von Weißruthenien beschrieb Lohse im Dezember noch einmal seine Nöte bezogen auf die nach Minsk deportierten "Reichsjuden": "Ich bin gewiss hart und bereit, die Judenfrage mit lösen zu helfen, aber Menschen, die aus unserem Kulturkreis kommen, sind doch etwas anderes als die bodenständigen vertierten Horden. Soll man die Litauer und Letten, die hier auch von der Bevölkerung abgelehnt werden, mit der Abschlachtung beauftragen? ... Ich bitte Dich, mit Rücksicht auf das Ansehen unseres Reiches und unserer Partei hier eindeutige Anweisungen zu geben, die in der menschlichsten Form das Nötige veranlassen."

War das ein vorsichtiger Hinweis auf Bedarf an »humanen« Gastötungswagen? Kube zumindest formulierte später eine »Lösung« für sein Problem: "Ich bin mit dem Kommandeur des SD in Weißruthenien darin völlig einig, dass wir jeden Judentransport, der nicht von unseren vorgesetzten Dienststellen befohlen oder angekündigt ist, liquidieren, um weitere Beunruhigungen in Weißruthenien zu verhindern." Im selben Schreiben heißt es: "In eingehenden Besprechungen mit dem SS-Brigadeführer Zenner und dem hervorragend tüchtigen Leiter des SD, SS-Obersturmbannführer Dr. Strauch, haben wir in Weißruthenien in den letzten 10 Wochen rund 55.000 Juden liquidiert."

Eifrige Vollstrecker des Völkermordes

Die Rolle des später von einer Partisanin getöteten Generalkommissars bleibt also unklar. Zahlreiche Zeugen der Zivilverwaltung, jedoch auch beschwerende Berichte der Sicherheitspolizei in Minsk aus den Jahren 1942 und 1943 besagten, dass Kube "als krasser Gegner der Judenliquidierungen" anzusehen war. Unterstellt, diese Interpretation der Staatsanwälte sei richtig, kulminiert in der Person Kubes die mörderische Zwiespältigkeit der Zivilverwalter: Vom Mordgeschehen abgestoßen, unternahmen sie halbherzige Abwehrversuche, wurden in der Funktion jedoch zu eifrigen Vollstreckern des Völkermordes. Nach dem Scheitern ihrer zaghaften Versuche, ihre "Arbeitsjuden" vorerst ausnehmen zu lassen, demonstrierten diese Leute bürokratische Funktion und nationalsozialistischen Übereifer. Eben dieser Kube setzte einen Erlass seines ebenfalls vom Morden belasteten Reichskommissars um, "die Notwendigkeit der Beibehaltung der bisherigen jüdischen Facharbeiterzahlen unter Anlegung strengster Maßstäbe erneut zu überprüfen und alle volkswirtschaftlich nicht unbedingt nötigen jüdischen Facharbeiter auszusondern", was nur heißen konnte, sofort zu ermorden.

Das Schreiben eines Gebietskommissars an Lohse rügte Anfang 1942, dass die Wehrmacht in der Region Baranowitsche Juden für Tätigkeiten heranzog, die auch andere Einheimische verrichten könnten, als "völlig instinktlose Einstellung zur Judenfrage". Mit anderen Worten: Auch diese Zwangsarbeiter seien sofort zu töten.

Lohse schließlich klagte im Januar 1943 laut Protokoll einer Arbeitstagung der Gebietskommissare: "Er erinnert an die Hunderttausende von liquidierten Juden, die bis zum Kriegsende noch wertvolle Arbeit hätten leisten können." Ihre sinnfällige Ausbeutung und, bezogen auf die finale (in dieser Argumentation erst nach Kriegsende angemessene) Tötung, die "Art ihrer Durchführung" war für ihn das bestimmende Kriterium zur Bewertung der Mordaktionen des Holocaust. - Sollten Carl, Kube, Lohse, Alnor und die anderen, die später für sich die Gegnerschaft zum Judenmord reklamierten, auch anderes, den Kern, nämlich den Mord, gemeint haben: Aufraffen zu irgendeiner wirksamen Verhinderung konnten sie sich nicht; nicht einmal zum Verzicht auf ihre Rolle und die Heimreise ins Reich. Eine ungefährliche Option, über die sie durchaus verfügten! Nein, sie rafften sich nach einem Anflug von Erschütterung nur zur eifrigen und willfährigen Vollstreckung auf.

Dabei war der von den Staatsanwälten herausgearbeitete individuelle Handlungsspielraum der Gebietskommissare breit. Er reichte vom demonstrativen Heraushalten aus dem Mordgeschehen vor ihren Augen bis zum aktiven, persönlichen Teilnehmen am Töten. Als übliche Formen der unmittelbaren Beteiligung bei Gettoliquidierungen notierten die Ermittler 1968 unter anderem: "Zurverfügungstellung von meist jüdischen Arbeitskommandos zum Ausgraben von Massengräbern, Bereitstellung von Kraftfahrzeugen und Benzin zum Transport der Erschießungskommandos, Einsatz von Angehörigen der Zivilverwaltung und der örtlichen Gendarmerie zur Abriegelung der Gettos, Erfassung der zu tötenden Juden sowie zum Transport der Opfer zur Exekutionsstätte". Dieser Katalog von sogenannten Verwaltungstätigkeiten stellte das Minimum der zu erbringenden Dienstleistungen für den Völkermord dar.

Gebietskommissariate waren aber eifriger und noch direkter am Tötungsgeschehen beteiligt: Verwaltungsleute erschienen vor Massenexekutionen zur Planungsrunde bei den Spitzen der Polizei. Und vielfach wird ihre persönliche Anwesenheit bei Vernichtungsaktionen bezeugt: Geschützt und mächtig in ihrer Uniform, blickten sie keineswegs nur verstört dem Morden zu, sondern gaben ihm einen offiziellen, verwaltungsmäßigen Anstrich. In einem Urteil des Schwurgerichts Oldenburg aus dem Jahr 1968 heißt es: "Der Angeklagte Kassner hielt sich an allen Tagen der Massentötung zumindest zeitweise an der Erschießungsstätte auf. Auch hier wollte er durch sein Erscheinen als Hoheitsträger an der Aktion mitwirken und zu ihrem planmäßigen Ablauf beitragen." Die strukturell angelegte Konkurrenz zwischen Polizeidienststellen und Zivilverwaltung konnte sich also auch als "vertrauensvolle Zusammenarbeit" äußern. Und manch ein Gebietskommissar berichtete schriftlich von der perfekten Tötungskooperation zwischen Verwaltung und Polizei. So heißt es am 25.1.1942 in einem Verwaltungsbericht: "Bei meiner Ankunft zählte das Gebiet Slonim ca. 25.000 Juden. Ein Getto einzurichten war unmöglich, da weder Stacheldraht noch Bewachungsmöglichkeiten vorhanden waren. Daher traf ich von vornherein Vorbereitungen für eine künftige großere Aktion ... Die vom SD am 13.11. durchgeführte Aktion befreite mich von unnötigen Fressern."

Individuelle Gewalthandlungen

In Einzelfällen ergänzten Gebietskommissare die einschlägige Verwaltungstätigkeit und Kooperation mit Polizeibehörden durch individuelle Gewalthandlungen aus eigener Machtvollkommenheit. Ablauf und Stilformen mancher Aktivitäten widerspiegeln die Rolle einzelner der deutschen Herrenmenschen sehr deutlich: Im Sommer 1942 durchsuchte der mehrfach zitierte Gewecke oder ein Mitarbeiter seiner Verwaltung - Gewecke bestritt die Teilnahme trotz gegenteiliger Zeugenaussagen - eine jüdische Arbeitskolonne und fand beim ehemaligen jüdischen Bäckermeister Mazawetzki Wurst und Zigaretten. Daraufhin zerrte man diesen in den Kofferraum eines zivilen PKW, eines Opel Admiral übrigens, was auf einen hochrangigen Eigentümer schließen lässt - ein Zeuge wollte darin das Auto als Dienstwagen Geweckes erkannt haben - und beförderte den überführten Gettoinsassen zunächst zur litauischen Ordnungspolizei, die ihn dem Sicherheitsdienst übergab. Dieser beschloss eine polizeiliche Hinrichtung als Abschreckung. Der Judenrat des Gettos bat bei Gebietskommissar Gewecke um Gnade, laut Zeugenaussagen soll dieser geantwortet haben: "Es muss ein Exempel stattfinden." Gewecke bestritt 1958 diesen Satz, führte aber mit antisemitischer Konnotation aus: "Es ist durchaus möglich, dass die Juden, denn das war bei ihnen üblich (!), mir einen größeren Geldbetrag dafür anboten." Er hätte die Hinrichtung jedoch nicht verhindern können und daher auch gar nicht erst den Versuch unternommen. Handwerker aus dem Getto mussten den Galgen erbauen, die Tötung selbst musste ebenfalls ein Jude vornehmen. Alle Insassen beider Gettos von Schaulen mussten den Mord mit ansehen. Der Leichnam blieb hängen.- Eine Gewaltmaßnahme also, die perfider und perfekter nicht hätte inszeniert werden können.

Ein weiteres Beispiel: Während der 1960 von der Hamburger Staatsanwaltschaft begonnenen Ermittlungen im sogenannten "Riga-Verfahren" gegen Angehörige der Polizei im Ostland sagte der Beschuldigte Rehberg über einen Mord im Getto, begangen durch Angehörige der Zivilverwaltung, aus: "(Da)... sahen wir einige Parteiangehörige ... heftig gestikulieren. Dann kam ein weiterer Parteiangehöriger mit einem ... Zivilisten ... Dann zog er seine Pistole ... (es) fiel ein Schuss, der dem Juden in den Kopf traf ... mein Fahrer Draeger gab ... Fangschuss." - In den Aktionsfolgen Kontrolle, Kofferraum, Hinrichtungsentscheidung, Durchführung und abschreckende Verwesung oder auch im direkten Mord mit - der Jagd entlehntem - "Fangschuss", demonstrierten deutsche Herrenmenschen, was sie unter Zivilverwaltung verstanden. Hier waren sie die Herren und besaßen ein Maß kaum noch begrenzter Macht und Gewalt, das selbst im nationalsozialistischen Reich so nicht existierte. Verwaltungskräfte und Parteifunktionäre der NSDAP fanden sich in Schlüsselpositionen, die sie in der Regel in ihrer - zumeist schleswig-holsteinischen - Heimat noch nicht erreicht hatten oder deren Wahrnehmung als Bewährung innerhalb des NS-Staates bewertet wurde. Sie waren totale Herren. Und sie fühlten sich dabei keineswegs nur unwohl. Sie gerierten sich entsprechend. Ohne eine einzige überlieferte Ausnahme beteiligten sie sich eifrig und offenbar mit zu bewältigender innerer Belastung zumindest an den 'ordnungsgemäßen' Anteilen des Holocaust, an der Entrechtung, Beraubung, Separierung, Versklavung, Selektion und totalen Entwürdigung der jüdischen Bevölkerung. Selbst jene unter ihnen, die den Völkermord in voller Konsequenz und Härte eher ablehnten, die eigentlichen Gewaltexzesse selbst schwer ertrugen, machten keine Ausnahme.

Ostlandritter

Diese Ostlandritter, die wie die Schleswig-Holsteiner aus Regionen fast ohne Juden stammten, sahen sich im Reichskommissariat zwar mit realen (und in zahlreichen Berufsfeldern tätigen, also ganz anderen als vorgestellten) Juden konfrontiert und erlebten die Probleme der radikalen Konsequenzen ihres Antisemitismus, die ihnen schließlich jedoch als soweit lösbar erschienen, dass kein einziger von ihnen demissionierte. Abgesehen von halbherzigen, wirkungslosen und sehr doppeldeutigen Versuchen der Einhegung des Massenmordes ist nichts überliefert. In konkreten anderen Fällen kulminierten die Machtfülle und Gewalt in ganz individueller Herrschaft über vollständig entrechtete Menschen einschließlich der Tötungsgewalt. Von 'Hausjuden' sprach man da, auch vom Austausch und der Tötung dieser persönlichen Sklaven. Hinrichtungen ohnehin Todgeweihter inszenierte man, freute sich ausdrücklich über den Arbeitseifer der Todesangst. Das ist der Prozess einer Radikalisierung der exzessiven Gewalt bis hin zur totalen Macht des einzelnen. Und das alles im Gewand unschuldiger, sauberer Zivilverwaltung. Ich kann es hier nicht im einzelnen ausführen: Aber dass normale Juristen und Verwaltungsbeamte diese Wege der Verstrickung beliebig weit mitgingen, ist eines der Kennzeichen und die wesentliche Lehre des Nationalsozialismus.

Markant und bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine späte, glaub- hafte Aussage des Hauptabteilungsleiters und Lohse-Stellvertreters Burmeister. Er habe, so führte er aus, "die Judenvorgänge zunächst rein justizmäßig aufgefasst und sie häufig zum Gegenstand von Besprechungen mit dem Leiter der Abteilung Justiz, Oberstaatsanwalt Richter, gemacht." Sie hätten analysiert, und das auch Lohse vorgetragen, dass man sich später wohl kaum "auf die formelle Nichtzuständigkeit in der Judenfrage" berufen könne, dass es vielmehr "eine allgemeine Verantwortung gäbe, die man wahrzunehmen habe". Burmeister sei deshalb ausgerechnet auf Anordnung des Gauleiters, Oberpräsidenten und Reichskommissars 1942 sogar zweimal im Reichsjustizministerium dienstlich vorstellig geworden. "Man habe ihm dort jedoch gesagt, dass diese Vorgänge nicht justitiabel seien und metajuristischen Charakter hätten." - Das heißt, diese Spitzenfunktionäre waren sich ihrer Schuld und strafrechtlichen Verantwortung im Völkermord voll bewusst. Und, besonders auffallend, mitten im Aufbau des 1000-jährigen Reiches, bereits 1942, vor Stalingrad, versuchten sie sich ausgerechnet im NS-Justizministerium rückzuversichern, dass ihnen später kein strafrechtlicher Vorwurf aufgrund ihrer aktiven Koordination des Holocaust zu machen wäre.

Sie waren nach Kriegsende indes kreativ genug, um aus den vereinzelt dokumentierten halbherzigen Interventionsversuchen im Nachhinein eine Art Widerstand oder zumindest erfolgreiche Rettungsmaßnahmen zu konstruieren, ihre Legende von der sauberen Zivilverwaltung zu formulieren. Selbst Gewecke nahm absurderweise für sich in Anspruch, Juden gerettet zu haben: "Ich darf, ohne überheblich zu sein, auch erklären, dass ich für mich in Anspruch nehme, die Juden, die vor der Räumung Schaulens in das Reich transportiert worden sind - etwa 5000 - vor der Vernichtung durch den SD bewahrt zu haben. Ich bitte, mir zu glauben, dass ich um die Erhaltung des Lebens dieser Juden sowohl mit dem Reichskommissar (!) wie auch mit anderen Leuten viele Kämpfe ausgefochten habe, und dass es mir mehrfach gelungen ist, den SD zu überlisten."

Legendenbildung erfolgreich

Die Legendenbildung war weitgehend erfolgreich. Gewecke, gegen den mehrfach ermittelt und dem schließlich 1969 in Lübeck auch der Prozess gemacht wurde, wurde immerhin 1971 mit einem BGH-Spruch zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil blieb eine seltene Ausnahme. Fast alle weiteren Gebietskommissare und erst recht ihre Untergebenen wurden nie angeklagt. Man behandelte sie strafrechtlich wie gesellschaftlich, als wären sie in der NS-Zeit Landräte im Reich gewesen. Manche machten, ich wies einleitend darauf hin, bei uns im Land weiterhin, jetzt demokratische Karriere. Reichskommissar Lohse, mehrfach Ziel staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren, ging, abgesehen von einem - in britischer Verantwortung gefälltem - Spruchgerichtsurteil, das ausschließlich seine Zugehörigkeit zum Korps der NSDAP und sein Wissen um den Holocaust, nicht jedoch eine eigene Beteiligung zum Gegenstand hatte, für seine Tätigkeit im Ostland straflos aus; er starb allerdings bereits 1964.

So erfolglos wie in den meisten individuellen Fällen verlief auch die Arbeit der Kieler Staatsanwaltschaft im Komplex gegen die ehemalige Verwaltungsspitze des Reichskommissariats. Das Ermittlungsverfahren der Kieler Staatsanwaltschaft gegen Fründt u. a. endete im Sommer 1971. Die Anklageerhebung scheiterte an der Strafrechtsreform der Großen Koalition, die 1968 im - unbeabsichtigten - Nebeneffekt für alle im NSG-Verfahren Beschuldigten für den Nachweis der Beihilfe zum Mord - der Verurteilungsbasis in NSG-Verfahren nicht mehr nur die qualifizierend zugrunde liegenden niederen Motive, sondern ausdrücklich auch die nachweisliche individuelle Übernahme der niederen Motive verlangte. Alle anderen Tötungshandlungen sind seit 1968 nicht mehr als Mord, sondern als Totschlag anzuklagen; dieser wiederum war für NSG-Vorwürfe bereits seit 1960 verjährt. Lapidar heißt das bezogen auf Lohses Stellvertreter Fründt im Einstellungsbeschluss 1971: "Deshalb lässt sich dem Beschuldigten Fründt selbst für den Fall, dass er an der Herausgabe der 'Vorläufigen Richtlinien' beteiligt war, obgleich er gewusst hat, dass sie der endgültigen Vernichtung der Juden im Ostland dienten, nicht nachweisen, dass er die niedrigen Beweggründe (§ 211 StGB) der Urheber der Massentötungen gebilligt und sich zu eigen gemacht hat."

Die jahrelange und mühselige Arbeit der Staatsanwälte in Ludwigsburg und anschließend Kiel war gescheitert. Damit blieb das erarbeitete Wissen im Geschäftsbereich der Justiz. In der allgemeinen Öffentlichkeit konnte sich die Legende der zivilen Sauberkeit behaupten. Ihre publikumsträchtige Entzauberung steht weiter aus.

Prof. Dr. Uwe Danker
Institut für Zeit- und Regionalgeschichte



Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).

Zur Startseite Hinweise zu Haftung, Urheberrecht und Datenschutz Kontakt/Impressum