(Gegenwind 122, November 1998)
Der Krieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion war nicht nur ein weltanschaulich motivierter Vernichtungsfeldzug, es ging auch ganz konkret um die Gewinnung von Land. Hinter der Front sollte eine Zivilverwaltung beginnen, die Kolonisierung des eroberten Raums vorzubereiten - aus diesen Gebieten sollte die Wehrmacht versorgt werden, langfristig ging es dann um die Ansiedlung "germanischen Blutes". Von den vier geplanten Reichskommissariaten kamen, bedingt durch den Kriegsverlauf, nur zwei zustande: "Ostland" umfasste die baltischen Staaten und Weißrussland, "Ukraine" reichte bis ans Schwarze Meer. Der Raum bis zum Ural sollte in die Reichskommissariate "Moskowien" und "Kaukasien" eingeteilt werden.
Während das Reichskommissariat Ukraine von der ostpreußischen Verwaltung übernommen wurde, fiel das "Ostland" faktisch an Schleswig-Holstein. Am 17. Juli 1941 wurde der Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse zum Reichskommissar ernannt, am 25. Juli wurde ihm Litauen übergeben. Am 1. August folgte das Gebiet um Vilna, am 1. September Lettland und große Teile Weißrusslands mit Minsk. Estland kam schließlich am 5. Dezember 1991 dazu. Lohse kannte Alfred Rosenberg, den "Minister für die besetzten Ostgebiete" in Hitlers Kabinett, aus Lübeck, wo beide der Führung der "Nordischen Gesellschaft" angehörten. Lohse genoss außerdem bei Hitler hohes Ansehen, weil die NSDAP in Schleswig-Holstein, wo Lohse seit 1925 Gauleiter war, bereits in den zwanziger Jahren hohe Wahlergebnisse erzielen konnte. Seit 1933 war er Oberpräsident.
Das Reichskommissariat Ostland umfasste etwa 500.000 Quadratkilometer und hatte nach der Volkszählung von 1936 knapp über 9 Millionen EinwohnerInnen. Es war damit ungefähr fünfundzwanzig mal so groß wie Schleswig-Holstein und hatte sechsmal so viele Einwohner. Es wurde in 4 Generalkommissariate (Estland, Lettland, Litauen, Weißrussland), diese wiederum in 62 Hauptkommissariate, Stadtkommissariate und Gebietskommissariate unterteilt. Lohse umgab sich größtenteils mit schleswig-holsteinischen Verwaltungsbeamten.
Heinz Wichmann, Regierungsrat des Kieler Oberpräsidiums, wurde Lohses Referent. Der Kieler NSdAP-Kreisleiter Otto Ziegenbein wurde Abteilungsleiter im Reichskommissariat. Ein weiterer Abteilungsleiter war der ehemalige Kieler NS-Studentenführer Wilhelm Burmeister. Leiter der Hauptabteilung 11 (Politik) wurde der Ratzeburger Landrat Theodor Fründt, dessen Referent war Peter Matthiessen, Landrat von Eckernförde. Martin Matthiessen, ehemaliger Chef der schleswigholsteinischen Landwirtschaftskammer, leitete die Hauptabteilung 111 (Landwirtschaft). Aus dem Kieler Regierungsapparat kam Johann Matthias Lorenzen, Leiter der Zentralstelle Planung Westküste, der in Riga die Hauptabteilung IV übernahm.
Generalkommissar von Lettland wurde Lübecks Bürgermeister Dr. Otto Heinrich Drechsler. Der Lübecker Polizeipräsident Walter Schröder wurde SS- und Polizeiführer Lettlands, gleichzeitig wurde der Flensburger Polizeidirektor Hinrich Möller SS-und Polizeiführer Estlands. Generalkommissar von Weißrussland wurde Landrat Henning von Rumohr aus Tönning. Aber auch auf "kommunaler" Ebene regierten Schleswig-Holsteiner:
Über die Qualität der Verwaltung ist wenig erforscht und wenig bekannt. Als Dokumente liegen fast nur Aussagen der Beteiligten vor, die sich nach dem Krieg im Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg oder vor örtlichen deutschen Gerichten verantworten mussten oder vor Staatsanwaltschaften Aussagen machten. Sie bemühten sich darum, ein Bild von Chaos und Ineffizienz zu vermitteln. Teilweise ist das sicherlich richtig: Es gab sich überlagernde und miteinander konkurrierende Strukturen, so war die Zivilverwaltung dem Ostministerium unterstellt, die Wirtschaftsplanung oblag aber dem Reichsmarschall Göring als dem Vier-Jahres-Plan-Beauftragten, die Sicherheit dem SS-Führer Heinrich Himmler, der Wehrmachtsnachschub den zuständigen Wehrmachtsstellen, so dass es ständig Reibereien gab. Die wirtschaftliche Ausbeutung zur Versorgung der Wehrmacht, der Heimat und der einheimischen EinwohnerInnen (in dieser Reihenfolge!) klappte zu keiner Zeit.
Effektiv war die Verwaltung allerdings hinsichtlich der Verschleppung von Zehntausenden von Menschen zur Zwangsarbeit ins "Reich" sowie bei der Erfassung und Vernichtung von "Kommunisten", "Partisanen", "Geisteskranken", Juden, Sinti und Roma - wobei unter Begriffe wie "Kommunisten" etc. auch wahllos ermordete Zivilisten gefasst wurden. Den Vollzug des Massenmordes übernahm verantwortlich die Einsatzgruppe A, ungefähr 990 Leute stark. Trotz hunderttausendfachen Mordes bestanden diese Einsatzgruppen nicht aus primitiven Mördern, von 17 Führern der Einsatzgruppe A waren 11 Juristen. Die Zivilverwaltung zwang z.B. Juden aus den Dörfern in die Ghettos der Städte, sorgte für die Registrierung und Kennzeichnung. Dabei konnte sie auf Einheiten der Wehrmacht zurückgreifen, die meist für Absperrungen und Transporte sorgten. Die Morde selbst wurden von Mitgliedern der Einsatzkommandos und ihren einheimischen Hilfsmannschaften vollzogen, auch hier häufig unterstützt von Einheiten der Wehrmacht. Die Ermordung der von der Zivilverwaltung "erfassten" Menschen geschah meist in Form von Massenerschießungen, wobei einheimische Hilfsmannschaften oder die Opfer selbst die Massengräber aushoben. Zu diesen Erschießungen meldeten sich, als Wehrmachtseinheiten die direkte Beteiligung verboten wurde, häufig auch einzelne Wehrmachtssoldaten in ihrer Freizeit, bis auch das verboten wurde. Die Massenerschießungen waren häufig von Demütigungen (Abschneiden der Bärte orthodoxer Juden, Strafexerzieren mit Besenstielen, Putzen der Straße mit Zahnbürsten) sowie Alkoholexzessen der Täter und Massenvergewaltigungen verbunden. Vom Einmarsch im Juni 1941 bis Ende Januar 1942, der Niederlage vor Moskau, töteten die deutschen Truppen im "Ostland" etwa 330.000 Juden, 8359 "Kommunisten", 1044 "Partisanen" und 1644 "Geisteskranke". Bis zum Sommer 1942 trugen alle überlebenden Juden den gelben Stern, es bestand Berufsverbot für Ärzte, Rechtsanwälte und Kaufleute, Juden war es verboten, Gehsteige zu benutzen, öffentliche Anlagen zu betreten, ebenso Kurorte, Theater, Kinos oder Schulen zu besuchen. Das Vermögen musste bei den Behörden bis auf einen Freibetrag in Höhe des ortsüblichen Unterstützungssatzes für einen Monat abgeliefert werden. Das Wohnen war nur noch in den Ghettos der Städte erlaubt.
Die erste Tötungswelle hatten ungefähr 670.000 Juden überlebt, dazu kamen im Winter 1941/42 noch 50.000 deportierte Juden aus dem Reichsgebiet, die in die Ghettos von Minsk und Riga kamen. Zuvor war das Rigaer Ghetto geräumt, die 27.800 EinwohnerInnen ermordet worden,diesem Massenmord im Wald von Bikernki wohnte Lohse persönlich bei. Die schleswig-holsteinischen Juden fanden im Rigaer Ghetto "zertrümmerte Wohnungen und Einrichtungsgegenstände voller Blutspuren vor. Während des Winters brannten leerstehende Gebäude nieder, froren Leitungen ein und wüteten unbehindert Seuchen. In den folgenden Monaten und Jahren wurden die deutschen Juden im Rigaer Getto und in den umliegenden Arbeitslagern auf eine Handvoll Überlebender dezimiert." (Raul Hilberg). Einer der wenigen Überlebenden war der Lübecker Jude Josef Katz, der seine Erinnerungen kurz nach dem Krieg weltweit veröffentlichte - nur auf Deutsch, der Sprache, in der er sie ursprünglich aufgezeichnet hatte, wurden sie erst 1988 verlegt.
Seit Dezember 1941 wurden alle Sinti und Roma im Ostland erfasst, ihre Erschießung begann allerdings erst im März 1942, weil während des strengen Frostes keine Gruben ausgehoben werden konnten.
Anfang 1943 begann die zweite große Tötungswelle, der mindestens 570.000 Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen. Gleichzeitig starben mehrere hunderttausend Menschen an Hunger und Seuchen, hierzu gehörten auch täglich ungefähr2000 Kriegsgefangene. Die letzten 100.000 Juden kamen in Konzentrationslager in Kauen, Riga-Kaiserwald, Klooga und Vaivara, sie wurden 1944 beim Heranrücken der Roten Armee liquidiert. Ab Januar 1944 war schließlich ein neues Sonderkommando unter SS-Standartenführer Paul Blobel im Reichskommissariat Ostland damit beschäftigt, die Massengräber aus den Jahren 1941 und 1942 zu öffnen, die Toten zu bergen und zu verbrennen, um Beweise zu vernichten.
Die CDU-geführte schleswig-holsteinische Landesregierung fühlte sich auch nach 1949 für das "Ostland" verantwortlich. Hinrich Lohse bekam am 27.7.1951 eine großzügige Pension zugesprochen. Die meisten seiner Mitstreiter in der Ostland-Verwaltung bekamen wieder Posten in Schleswig-Holstein. Niemand wurde von einem Gericht zur Verantwortung gezogen.
Reinhard Pohl
Quellen:
Wulf Pingel: Von Kiel nach Riga. Schleswig-Holsteiner in der Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ostland. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Band 122, Neumünster 1997.
Klaus Bästlein: Das "Reichskommissariat Ostland" unter schleswig-holsteinischer Verwaltung und die Vernichtung der europäischen Juden. In: 50 Jahre nach den Judenpogromen. Reden zum 9./10. November 1983 in Schleswig-Holstein, Pressestelle des Landtags, Kiel 1989.
Literaturhinweis:
Josef Katz: Erinnerungen eines Überlebenden. Kiel 1988.
Zusammenstellung von Gegenwind-Artikeln (1998/99) zur Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" im Kieler Landeshaus als PDF-Datei (ca. 730 KB).